Aineias Taktikos

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Aineias Taktikos (latinisiert Aeneas Tacticus, deutsch auch Aineas der Taktiker) war ein antiker griechischer Stratege und Militärschriftsteller der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr.[1] Möglicherweise ist er identisch mit dem arkadischen Feldherrn Aineias von Stymphalos, der 367 v. Chr. für kurze Zeit die griechische Polis Sikyon von der Herrschaft des Tyrannen Euphron befreite.[2] Er gilt als der früheste europäische kriegswissenschaftliche Schriftsteller.

Aus seinen Schriften ist zu erkennen, dass Aeneas über eine umfassende Allgemeinbildung verfügte und offensichtlich auch rhetorisch geschult war. In seinem Werk finden sich viele rhetorische Figuren, deren Verwendung jedoch zeigt, dass er die Rhetorik nicht beherrschte. Die Schriften deuten auch darauf, dass er über umfassende persönliche Erfahrungen als Kommandeur verfügte und kein reiner Theoretiker war. Daher wird angenommen, dass er sowohl als Feldherr als auch als Staatsmann tätig war.

Das weitgehend verschollene Werk des Aineias Taktikos umfasste Aelianus Tacticus und Polybios zufolge eine Reihe von militärtheoretischen Schriften, die zusammen ein umfassendes Lehrbuch der Strategie als Lehrschrift für Feldherren ergaben. Die einzelnen Schriften wurden als strategika biblia bezeichnet und handelten von

  • Παρασκευαστικὴ βίβλος = Buch über die militärischen Vorbereitungen (Waffenlehre, Verproviantierung, Mittel, dem Feind Annäherungshindernisse zu bereiten),
  • Ποριστικὴ βίβλος = Geldbeschaffung,
  • ἐπιβουλῶν βίβλος = Vorsichtsmaßregeln gegen verräterische Anschläge,
  • Ἀκούσματα = militärische Beredsamkeit (Regeln zur Ermahnung, Ermutigung und Motivation der Mannschaft),
  • Belagerungstechnik (Poliorketik) und
  • möglicherweise auch allgemeiner Taktik.

Hierzu ist zu beachten, dass Aeneas selbst keine Schrift erwähnt, welche die Taktik beinhaltet. Die Existenz einer solchen Schrift wird aber immer wieder in der Forschung diskutiert. Hintergrund ist eine Äußerung Aelianus Tacticus, dass ein Aeneas – wahrscheinlich Aeneas Tatcicus – die Taktik als Lehre der militärischen Bewegung definiert habe.[3]

Erhalten ist von ihnen lediglich ein Traktat über Belagerungstechnik (Τακτικὸν ὑπόμνημα περὶ τοῦ πῶς χρῆ πολιορκουμένους ἀντέχειν Taktikón hypomnema perí tu pos chre poliorkuménus antéchein „Über die Verteidigung belagerter Stellungen“). Dieses außerhalb der attischen Literaturtradition des 4. Jahrhunderts stehende Werk erlaubt einige Rückschlüsse auf die soziale und politische Lage im Griechenland jener Zeit. Das Werk gibt eine Vielzahl praktischer Hinweise und Beispiele für Kriegslisten, die sich bei der Verteidigung einer belagerten Stadt anwenden lassen. Dazu gehören neben Geheimcodes und Übermittlungstechniken für geheime Botschaften auch Fragen der Menschenführung und der richtigen Auswahl der Wachen auf den Mauern und an den Toren und vieles mehr.

Auf das Werk des Aeneas kann nur auf dem Umweg über andere Schriftsteller der Antike und des Mittelalters zurückgegriffen werden. Kineas, der Vertraute des Pyrrhos, fasste die Schriften – vermutlich für seinen König – zusammen.[4] Philon von Byzanz stützt sich in Buch 7 und 8[5] seiner Mechanik, das vom Kampf um befestigte Plätze handelt, auf Aeneas. Bei Polybios finden sich Teile seines Abschnitts über militärische Vorbereitungen, bei Onasander, Aelianus Tacticus und Polyainos weitere Stellen. Sextus Iulius Africanus übernimmt große Teile im Wortlaut. Bis ins sechste nachchristliche Jahrhundert wird Aeneas in beinahe allen maßgeblichen militärischen Schriften zitiert oder verwendet. Trotzdem wurde nur sein Werk über die Verteidigung belagerter Städte im Codex Laurentianus 55,4 aus dem 10. Jahrhundert direkt überliefert. Auf diesen basieren alle weiteren erhaltenen Handschriften.

  • Codex Laurentianus 55,4
  • Codex Parisinus Graecus 2435 (= A)
  • Codex Parisinus Graecus 2522 (= B)
  • Codex Parisinus Graecus 2443 (= C)
  • Scorialensis’ Φ-III-2 (= S)
  • Aineias: Von der Vertheidigung der Städte. In: Hermann Köchly, Wilhelm Rüstow (Hrsg.): Griechische Kriegsschriftsteller. Teil 1. Biblio Verlag, Osnabrück 1969 (griechisch, deutsch, books.google.de – Neudruck der Ausgabe von 1853).
  • Richard Schoene: Aeneas Tactici de obsidione toleranda commentariu. Leipzig 1911 (griechisch, Maßgebliche Textausgabe, auf der alle anderen modernen Ausgaben basieren).
  • Marco Bettalli: Enea Tattico. La difesa di una cità assediata (Poliorketika). Edizioni ETS, Pisa 1990, ISBN 88-7741-534-7 (griechisch, italienisch, Einführung und Kommentar).
  • David Whitehead: Aineias the Tactician. How to Survive under Siege. Clarendon Press, Oxford/London 2002, ISBN 0-19-814744-9 (englische Übersetzung mit Kommentar).
  • Kai Brodersen: Aineias/Aeneas Tacticus. Stadtverteidigung/Poliorketika. De Gruyter, Berlin/Boston 2017, ISBN 978-3-11-054423-7 (griechisch und deutsch mit Einführung).
  • Hermann Bengtson: Die griechische Polis bei Aeneas Tacticus. In: Historia. Band 11, 1962, S. 458–468.
  • Truesdell S. Brown: Aeneas Tacticus, Herodotus and the Ionian Revolt. In: Historia. Band 30, 1981, S. 385–393.
  • Sergio Celato: Enea Tattico. Il problema dell’autore e il valore dell’opera dal punto di vista militare. In: Atti e Memorie dell’Accademia Patavina. Band 80, 1968, S. 53–67.
  • Sergio Celato: La Grecia del IV secolo a. C. nell’opera di Enea Tattico. In: Atti e Memorie dell’Accademia Patavina. Band 80, 1968, S. 215–244.
  • Francesco Fiorucci: Aineas der Taktiker. In: Bernhard Zimmermann, Antonios Rengakos (Hrsg.): Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Band 2: Die Literatur der klassischen und hellenistischen Zeit. C. H. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-61818-5, S. 597–602.
  • Werner Hahlweg (Hrsg.): Klassiker der Kriegskunst. Darmstadt 1960.
  • Maria Pretzler, Nick Barley (Hrsg.): Brill's Companion to Aineias Tacticus. Brill, Leiden/Boston 2018, ISBN 978-90-04-22351-6
  • Eduard Schwartz: Aineias 3. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band I,1, Stuttgart 1893, Sp. 1019–1021 (wichtiger Beitrag zur Erforschung des Werkes und des Autors, teilweise überholt).
  • Albert A. Stahel: Klassiker der Strategie. Eine Bewertung. 4. Auflage. Zürich 2004, ISBN 3-7281-2920-8, S. 37–38.
  • Aloys Winterling: Polisbegriff und Stasistheorie des Aeneas Tacticus. Zur Frage der Grenzen der griechischen Polisgesellschaften im 4. Jahrhundert v. Chr. In: Historia. Band 40, 1991, S. 193–229.
  1. Die zeitliche Bestimmung ergibt sich aus der Datierung seiner Schrift über die Verteidigung belagerter Städte. Das jüngste sicher zu datierende berichtete Ereignis stammt aus dem Jahr 357 v. Chr. Es handelt sich um die in Aeneas Tacticus 31,31 erwähnte Nachricht, dass Dionysios II. von Syrakus gestürzt sei.
  2. Vgl. Xenophon: Hellenika. 7,3,1. Siehe zu Euphron auch Hellenika. 7,1,44–46; vgl. Diodor 15,70,3.
  3. Aelian Tact. I 2 liefert den Hinweis auf das Werk. In Aelian Tact III 4 wird auf die Taktik als Kenntnis (ἐπιστήμην) der militärischen Bewegungen (πολεμικῶν κινήσεων) hingewiesen. Siehe auch für eine taktische Schrift W. A. Oldfather (Hrsg.): Aeneas Tacticus, Asclepiodotus, Onasander. Cambridge und London 1923/2001, S. 8f. u. L.W. Hunter, S.A. Handford (Hrsg.): Αἰνείου Πολιορκητικά. Aeneas on Siegecraft. Oxford 1927, S. XIV. Dagegen siehe D. Whitehead: Aineias the Tactician. How to Survive under Siege. Oxford/London 2002, S. 15.
  4. Vgl. hierzu Aelianus Tacticus 1,2.
  5. Früher als Buch 5 bezeichnet.