3-D-Test für Antisemitismus

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Der 3-D-Test für Antisemitismus ist eine Methode, um legitime Kritik an der Politik Israels bzw. an dessen Regierung von Antisemitismus zu unterscheiden, der sich nur als „Kritik“ ausgibt. Dazu stellt der Test drei Kriterien bereit: Wenn Aussagen Israel dämonisieren, delegitimieren oder doppelte Standards anlegen, dann sind diese antisemitisch.

Natan Scharanski, damals Minister Israels für soziale Fragen, entwarf den Test und stellte ihn im Februar 2003 erstmals öffentlich vor. Seine Kriterien beeinflussten die Arbeitsdefinition für Antisemitismus, die die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) 2005 beschloss. Sie werden als leicht merkbar gelobt, ihre Anwendbarkeit für wissenschaftliche und politische Zwecke ist jedoch umstritten.[1]

Historischer Kontext[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Infolge der Terroranschläge am 11. September 2001 und aktueller Konflikte im mittleren Osten nahmen Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen in vielen Staaten der Welt zu, auch in Europa. Antisemitismus erscheint heute nicht nur in den traditionellen Ausdrucksformen von pauschalem Judenhass, sondern auch in versteckten, indirekten und kodierten Formen. Dazu gehört eine fundamentale Ablehnung des Staates Israel, die sich als Kritik an dessen Politik ausgibt und legitimiert, aber tatsächlich antisemitische Stereotype auf ihn projiziert. Die Antisemitismusforschung diskutiert seit etwa 2003, ob das als „neuer“ oder nur als neue Variante des alten Antisemitismus einzustufen ist.[2] Was die zunehmende Kritik an Israel und anti-israelischer Antisemitismus miteinander zu tun haben und woran sie unterscheidbar sind, ist dabei eine zentrale Frage.[3]

Regierungen und gesellschaftliche Initiativen vieler westlicher Staaten versuchen, über diese neuere Form von Antisemitismus aufzuklären und sie gezielter zu bekämpfen. Dazu gründete Scharanski 2003 das Global Forum for Combating Antisemitism. Bei dessen Jahrestreffen 2008 nannte er zwei unerlässliche Kriterien für legitime Kritik an Israel: 1. Sie dürfe dessen Verfassung als jüdischer Staat nicht als Apartheid abwerten, 2. sie müsse das Existenzrecht Israels anerkennen.[4] Scharanksi versteht den 3D-Test als Beitrag zu „moralischer Klarheit“, um legitime Kritik an Israel zu schützen und von unzulässigem Hass auf Israel abzugrenzen. Die Kritik an letzterem werde sonst zu leicht als vorsätzliche Unterdrückung von Kritik an Israel abgewehrt. Antisemitismus sei nur mit klaren moralischen Grenzlinien zu erkennen: „Das Übel blüht auf, wenn diese Linien verwischt sind, wenn Richtig und Falsch eine Sache von Ansicht und nicht von objektiver Wahrheit ist.“[5]

Die drei Kriterien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Dämonisierung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Scharanski verwies zunächst auf traditionelle Beispiele für Dämonisierung von Juden: Sie wurden in Europa kollektiv wegen Gottesmords angeklagt und etwa in der Figur des Shylock als geldgierig und hinterhältig dargestellt. Als Analogie dazu nannte Scharanski verbreitete Vergleiche von Israelis mit den Nationalsozialisten, etwa indem man palästinensische Flüchtlingslager mit dem Vernichtungslager Auschwitz oder den Gazastreifen mit dem Warschauer Ghetto gleichsetze. Solche Vergleiche zeigten entweder völlige Unkenntnis der Zeit des Nationalsozialismus oder, wahrscheinlicher, die Absicht, das heutige Israel als Inbegriff des Bösen darzustellen.[5][6] Weitere Beispiele sind Aussagen wie „Israel ist ein Terrorregime“ oder der z. B. im Iran weit verbreitete Spruch „Israel ist Satan“.[7]

Doppelstandards[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein Doppelstandard (Doppelmoral) liegt nach Scharanski vor, wenn Israel anders als andere Staaten behandelt und selektiv für ein Verhalten kritisiert wird, das bei anderen Staaten ignoriert wird. Das ähnele früherer Diskriminierung von Juden durch Gesetze der Mehrheitsgesellschaft. Als Beispiele nannte er UNO-Resolutionen gegen Menschenrechtsverletzungen Israels, nicht aber gegen ebensolche von China, Iran, Kuba oder Syrien (siehe auch Kritik am UN-Menschenrechtsrat).[5] Weitere Beispiele sind die Verurteilung von israelischen Militärschlägen oder Sanktionen gegen palästinensische Terror-Organisationen, bei gleichzeitigem Schweigen über den Raketenbeschuss auf Israel vonseiten dieser Organisationen und andere Terroranschläge gegen die israelische Zivilbevölkerung, sowie einseitige Kritik an Israels Umgang mit Palästinensern, bei gleichzeitiger Hinnahme der brutalen Unterdrückung von Juden, Andersdenkenden oder Homosexuellen in den arabischen Nachbarländern.

Delegitimierung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach Scharanski ist Kritik antisemitisch, die dem Staat Israel seine grundsätzliche Legitimation zu entziehen sucht und ihm sein Existenzrecht abspricht, etwa indem sie ihn als Überrest des Kolonialismus darstellt (siehe auch Antizionismus). Dabei werde Juden anders als anderen Völkern nicht das Recht zugestanden, geschützt in einem eigenen Staat zu leben. Darin setze sich die analoge Entwertung des Judentums als Religion und/oder Volk fort.[5] Hierzu zählen auch die Absprache des Selbstverteidigungsrechts Israels sowie Geschichtsklitterung oder Verschwörungstheorien hinsichtlich der Staatsgründung Israels.

Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Als Mitglied der Regierung Israels erklärte Scharanski 2005, Israel könne einen Staat Palästina erst anerkennen, wenn die Palästinenser ernstzunehmende demokratische Institutionen gebildet hätten. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Michael C. Desch kritisierte in The American Conservative diese Bedingung als Doppelstandard, weil Scharanski zuvor den Friedensvertrag von 1994 zwischen Israel und dem autokratisch regierten Jordanien begrüßt habe.[8]

Das Gedicht von Günter Grass Was gesagt werden muss rief 2012 in Deutschland eine öffentliche Kontroverse um die Grenzen zulässiger Kritik an Israel hervor. Jan Riebe (Amadeu Antonio Stiftung) bezog sich dazu auf den 3D-Test: Dieser sei ein hilfreiches „Warnsystem zur Beurteilung von bestimmten Aussagen“, das aber für sich noch kein Urteil über einen Autor erlaube. Riebe stufte einige Gedichtmotive als antisemitische Ressentiments ein: Kritik an Israel als Tabubruch darzustellen, „wir Deutsche“ kollektiv Israel gegenüberzustellen und die deutsche Geschichte als „Last“ zu beschreiben, die für das Aussprechen der „Wahrheit“ gegenüber Israel abgeworfen werden müsse.[9]

Auf der Basis des 3D-Tests beurteilte das Simon Wiesenthal Center (SWC) im November 2012 einige Aussagen des Journalisten Jakob Augstein als antisemitisch. In der öffentlichen Debatte darüber begründete SWC-Vertreter Abraham Cooper dieses Urteil im Januar 2013 detailliert: Augsteins Aussagen erfüllten alle drei Testkriterien für Antisemitismus.[10] Ebenso urteilte der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn.[11]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Kenneth L. Marcus: The New OCR Antisemitism Policy. (Memento des Originals vom 3. Februar 2014 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/jewishresearch.org Journal for the Study of Antisemitism. Bd. 2, Ausgabe 2, S. 484 und Fn. 21.
  2. Moshe Zuckermann (Hrsg.): Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte: Antisemitismus - Antizionismus - Israelkritik. Wallstein, 2005, ISBN 3892448728, S. 50 und Fn. 4
  3. Georg Kreis: Israelkritik und Antisemitismus. In: Moshe Zuckermann: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte: Antisemitismus – Antizionismus – Israelkritik. 2005, S. 17
  4. Rebekka Denz (Hrsg.): Jiddische Quellen. Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien e.V.. Universitätsverlag Potsdam, 2008, ISBN 3940793418, S. 183
  5. a b c d Natan Scharanski: Antisemitismus in 3-D. Die Differenzierung zwischen legitimer Kritik an Israel und dem sogenannten neuen Antisemitismus. (HaGalil, März 2004)
  6. https://www.tagesschau.de/faktenfinder/kurzerklaert/israelkritik-antisemitismus-101~_origin-2322c77a-5078-4c15-9ccb-4932e5bc5133.html
  7. Hetzattacke: Iranischer Minister nennt Israel "kleiner Satan". In: Spiegel Online. 25. Januar 2006, abgerufen am 27. Januar 2024.
  8. Michael C. Desch: Sharansky’s Double Standard. The American Conservative, 28. März 2005; abgerufen 28. Oktober 2017.
  9. Jan Riebe (Der Stern, 13. April 2012): Grass-Gedicht: Kritik oder Antisemitismus?
  10. Leander Steinkopf (FAZ, 31. Januar 2013): „Fall Augstein“: Wie wird man einer der schlimmsten Antisemiten?
  11. Philip Kuhn (Die Welt, 16. Januar 2013): Augstein-Debatte: Dämonisierung mit dem Ziel der Delegitimierung