Benutzer:Aalfons/Owen-Visger

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Viel Mut zur Lücke

Das Ausmaß der Sklaverei weltweit darzustellen ist eine wichtige Aufgabe, um die Aufmerksamkeit der Politik auf diese Verstöße gegen Menschenrechte zu lenken. Aber manche Zahlen im Global Slavery Atkas kommen auf abenteuerlichem Wege zustande – wenn er überhaupt zu erkennen ist


Eine professionelle Organisation von Spendensammlern mit Büro in Berlin wirbt so für ihe Anliegen: „Stell dir vor, fast ganz Potsdam ist versklavt.“ Der Vergleich mit der Nachbarstadt soll zeigen, wie viele Personen die 167.000 Menschen sind, die „heute in Deutschland in Sklaverei“ leben. In Frankreich beispielsweise könnte Aix-en-Provence für 129.000 Sklavinnen und Sklaven stehen. Und für die 126.000 in Großbritannien böte sich die Hälfte der Einwohnerzahl von Southampton an.

Für die Zahlen selbst übernehmen die Spendensammler keine Verantwortung. Sie verweisen auf den Global Slavery Index (GSI), den die australische Stiftung „Walk free“ herausgegeben hat. Sie wiederum wird von Andrew Forrest finanziert, 2021 der zweitreichster Mann Australiens. Ob Daten über Zwangsarbeit, Zwangsprostitution oder Zwangsehe – wer sich mit der Sklaverei weltweit befasst, kommt am GSI nicht vorbei. Derzeit enthält er Angaben über 167 Länder. Weltweit berichten die Medien, wenn er erscheint. Nach den Ausgaben von 2013, 2014 und 2016 ist derzeit der Index von 2018 aktuell.

Vergleichen lassen sich die Ergebnisse untereinander kaum, denn Datengrundlagen und Berechnungen ändern sich jedes Mal. Nur das Prinzip ist immer gleich: Durch Interpolation aus vorhandenen Daten die fehlenden zu ergänzen, um so die großen statistische Lücken in diesem kaum erforschten Gebiet zu schließen. Der nächste GSI soll 2022 erscheinen.

Doch 167.000 Versklavte in Deutschland – diese Zahl ist erstaunlich hoch. Die Daten, aus denen die Indices aller vier Ausgaben gebildet wurden, stammen von 2012 bis 2016. Doch nach Angaben der GSI-Webseite ermittelten Behörden in Deutschland im Jahr 2016 wegen Menschenhandels 536 Opfer. Auf Zwangsarbeit entfielen 48 und auf Zwangsprostitution 488 Personen. Nach einer älteren Studie haben 2008 rund 3400 Frauen und Mädchen in Beratungsstellen Hilfe vor drohenden oder in bestehenden Zwangsehen gesucht. Wieviele davon es in Deutschland sind oder wurden, lässt sich daraus nicht ableiten. Aber sollte die Dunkelziffer des GSI bei Zwangsarbeit von Versklavten tatächlich um das 330-fache höher als die offiziellen Fallzahlen liegen?

Schlüsselgröße des GSI ist eine ungefähre Häufigkeit von Opfern moderner Sklaverei pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner, also in Promille. Diese „geschätzte Prävalenz“ liegt für Deutschland derzeit bei 2,0, ebenso für Frankreich. Für Großbritannien liegt der Wert bei 2,1, und in den Niederlanden sind es 1,8.

Beim ersten Index 2013 lagen die Fallzahlen noch vollkommen anders. Für Deutschland wurden 10.464 Versklavte kalkuliert. Die Rechnung ging so: Für Großbritannien und die USA lagen Schätzungen vor. Der Durchschnittswert davon tauge als Untergrenze für Westeuropa, hieß es in der Publikation erklärungslos. Die Obergrenze sei der Durchschnittswert von ebenfalls geschätzten Angaben über die ost- und südosteuropäischen Länder Belarus, Ukraine, Bulgarien, Rumänien und Moldau. Daraus ergebe sich ein deutscher Mittelwert von 0,13 pro Tausend. Bei einer Bevölkerung von 81,9 Millionen seien dies 10.464 Versklavte. Es folgt ein Hinweis, dies sei eine bestmögliche, jedoch nicht die wirkliche Zahl. Doch in weiteren Tabellen des GSI wird für Deutschland dieser Wert angesetzt.

Für den Index des Folgejahres 2014 teilte das GSI-Team 167 Länder der Erde in sieben Gruppen ein , die sich nach sozioökonomischen Kriterien wie Bevölkerungsgröße, -dichte und Armut unterschieden oder ähneln. Es folgten wiederum Interpolationen. Für deren Qualität ein Beispiel: Kambodscha, für das keine Daten vorlagen, landete in einer Gruppe mit den „ähnlichen“ Staaten Niger und Haiti, bei denen das Team eine Sklaverei-Prävalenz von 1,5 Prozent der Bevölkerung schätzte. Dann fiel auf, dass Kambodschas nicht weit entferntes Nachbarland Indonesien – das einer anderen Ländergruppe zugeordnet war – nur eine Prävalenz von 0,3 Prozent aufwies. Die Lösung: Um neu eingeführte „regionale Ähnlichkeiten“ zu berücksichtigen, wurde nun die Prävalenz von Kambodscha aus 40 Prozent des Wertes von Indonesien plus 60 Prozent des Durchschnittswertes von Niger und Haiti ermittelt. Ergebnis: eine Prävalenz von 1,029 Prozent. Gemessen an seiner Bevölkerungszahl hatte Kambodscha nun 155.800 Versklavte.

Der nächste GSI aus dem Jahr 2016 brachte 25 Länderumfragen, drei von anderswo übernommene Studien und 139 Interpolationen für Länder ohne eigene Daten. Die Tabelle der 167 Staaten kam so zustande: Anhand politischer, wirtschaftlicher und sozialer Daten aus 24 internationalen Statistiken, die ein Profil des Versklavungrisikos in einem Staat darstellen sollten, bildete das Team 12 Gruppen , auf die es alle 167 Länder verteilte. Die Prävalenz der 28 Länder mit Umfragen wurde nun auf die anderen Länder in der jeweiligen Gruppe übertragen. Wie das genau passierte, ist nicht nachvollziehbar. Denn der GSI von 2016 listet nur die Anzahl, nicht aber die Namen der 139 Länder ohne Umfrage auf, die auf die 12 Gruppen verteilt wurden. Beispiele: Bolivien und Vietnam bestimmten die Prävalenz von 17 Ländern. Das mittlerweile untersuchte Kambodscha alleine war für 12 Länder maßgeblich. Und für 17 Länder in zwei Gruppen fand sich kein „Leitland“ mit Umfrage; sie wurden aus weniger ähnlichen Ländern mit einer Prävalenz versehen. Zu guter Letzt nahm das Team bei 40 Ländern noch „Anpassungen“ vor. Damit änderte es nachträglich viele nach Augenschein unzulängliche Zuordnungen zu den 12 Gruppen. Zuvor hatte das Team schon Lücken in den 24 internationalen Ausgangsstatistiken – die es bei solchen Erhebungen immer gibt –, mit Werten geschlossen, die es selbst aus vergleichbaren Ländern gebildet hatte.

Für Großbritannien und die Niederlande wurden hingegen ganz andere Zahlen genommen. Sie beruhten auf einer neuen Methode, Einzelfälle aus verschiedenen Opferlisten auszuwerten. Dadurch stieg die Zahl der Versklavten in Großbritannien von 8.300 auf 11.700 und in den Niederlanden von 2.200 auf 17.500. Warum dieselbe Methode zu solchen Unterschieden führte, blieb wiederum unerklärt. Für Deutschland stieg die Zahl der Versklavten auf 14.500, wohl weil es zur Gruppe des Referenzlandes Großbritannien gehörte.

2018 ging der GSI in die vierte Ausgabe, seine jüngste. Die Zahl der Versklavten in den Niederlanden, noch zwei Jahre zuvor als sehr exakt präsentiert, stieg nun um weitere 60 Prozent auf 30.000. Für Großbritannien, 2016 mit gleicher neuer Methode berechnet, verelffachte sich die Zahl auf 126.000. Ähnliche Sprünge gab es für Deutschland mit 169.000 – Potsdam! – und Frankreich mit 129.000 Versklavten.

Die Methodologie war 2018 wiederum neu. Erstmals – und durchaus brauchbar – wurde klar nach Formen der modernen Sklaverei ausdifferenziert: in staatliche und private Zwangsarbeit einschließlich Zwangsprostitution sowie Zwangsehen, in Erwachsene und Kinder und in Männer und Frauen. Diesmal übernahm das GSI-Team die Prävalenz für 167 Länder und für die ganze Welt aus drei Quellen: 48 eigenen Länderumfragen, einer offiziellen Einzelfallsammlung und – für staatliche Zwangsarbeit – Expertisen.

Durchgerechnet wurde das 2017 in den Global Estimates of Modern Slavery. Dafür hatte sich die Walk Free Foundation mit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zusammengetan, die 2012 in einer Studie auf 21 Millionen Zwangsarbeiter weltweit gekommen war. Doch auch die Global Estimates, die im Folgejahr in den GSI übernommen wurden, weisen Erstaunlichkeiten auf.

Dass die 48 Länderumfragen repräsentativ sind, mag das damit beauftragte, weltweit aktive US-Umfrageinstitut Gallup zusichern. Das GSI-Team argumentiert, weltweit seien 71.000 Menschen befragt worden. Da sie auch für ihre Familie ausgesagt hätten, seien 575.000 Personen als erfasst zu betrachten.

Aber selbst in vielen Ländern mit über 100 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern haben gerade einmal 1000 oder 2000 Menschen an den Umfragen teilgenommen. Wie grob ist das Ergebnis für Länder wie Brasilien mit 206 Millionen Einwohnern, wenn dort 1007 Personen über Erfahrungen mit Sklaverei Auskunft geben sollen? Laut GSI hat Brasilien eine Prävalenz von 1,8 auf 1000 Personen. Damit müssten etwa zwei Menschen entsprechende Angaben gemacht haben – die dann zur GSI-Aussage geführt hat, in Brasilien gebe es 369.000 Versklavte.

Die Länderergebnisse werden einzeln weder im GSI noch anderswo veröffentlicht. Tatsächlich müssen die 48 Umfragen noch weit unergiebiger gewesen sein. Denn in einem methodologischen Beiheft zu den Global Estimates sind die weltweiten Fallzahlen genannt. Nur etwa 3000 Nachweise von Zwangsarbeit und Zwangsehen stammen von den Umfragen, die angeblich 71,1 Prozent der Weltbevölkerung oder 5,5 Milliarden Menschen abgedeckt haben.

5850 Angaben über Zwangsarbeit und Zwangsprostitution stammen aus der zweiten Quelle, einer Sammlung von Belegen für Menschenhandel, die bei der Internationalen Organisation für Migration (IOM) geführt wird. Zusammen: genau 8907 Fälle.

Die dritte Quelle ist ganz anderer Natur und deswegen nicht bei den Einzelfällen erfasst. Fachleute aus dem ILO-Umfeld Die Erhebung über staatliche Zwangsarbeit wurde für jedes Land der Erde von Fachleuten aus dem ILO-Umfeld und aus Veröffentlichungen zusammengestellt. 4 Millionen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter in 20 Ländern entfallen auf den staatliche Sektor. Aber dessen Einfluss auf die Prävalenz zu erfahren ist wiederum nicht möglich: eine Ländertabelle mit Fallzahlen wird nicht veröffentlicht.

Nicht nur die erhobenen, sondern auch die berechneten Werte werfen Fragen auf. Aus 24 erhobenen Datensätzen in fünf „Dimensionen“ soll sich das „Risiko der Sklaverei“ für ein Land ergeben. Die Liste enthält neben den üblichen sozio-ökonomischen Daten auch Komponenten wie „Zugang zu Waffen“ oder „Auswirkung des Terrorismus“, deren Bedeutung für die Sklaverei sich nicht direkt erschließen. Einer der Datensätze ist, in Punkten ausgedrückt, die Antwort der Regierung auf den Global Slavery Index selbst – arg selbstreferenziell. Es leuchtet ein, dass Binnenvertriebene berücksichtigt sind – aber Flüchtlinge wurden gestrichen, weil sie nicht zu den „fünf Dimensionen“ passen. Seitdem ergeben nur noch 23 Variablen die Anfälligkeit eines Landes für Sklaverei. Nicht für alle Ländern lagen dabei die kompletten 23 Datensätze vor. Die teilweise enormen Lücken wurden durch die Orientierung an regional ähnlichen Ländern zugerechnet.

Sklaverei zu quantifizieren, um damit politischen Druck aufzubauen, ist ein durchaus ehrenwertes Projekt. Die Veröffentlichung eines neuen globalen Index löst in Fachkreisen üblicherweise Diskussionen über die Plausibilität von Annahmen und die Aussagefähigkeit von Länderlisten aus. Beim GSI jedoch – nichts davon. Nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe 2013 hatten vier Wissenschaftler der US-amerikanischen George-Mason-Universität in Arlington, Virginia auf „bedeutende und kritische Schwächen“, „unsaubere Methoden“ und „nicht nachvollziehbare Schätzungen“ hingewiesen und mehr Transparenz in der Methodik verlangt.

Zwar hat das Team, das nun seit über zehn Jahren am GSI arbeitet, eine Reihe von Papieren veröffentlicht, aber keine seiner Methoden in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift zur Diskussion gestellt. Dann hätten auch Daten und Rechenwege veröffentlicht werden müssen. Die Walk-Free-Stiftung hat zwar einige Länderreports publiziert, aber auch in ihnen ist nicht erklärt, wie die GSI-typischen Werte zustande kommen. Und selbst mithilfe eines „Dataset“, der auf der Webseite des GSI angeboten wird, sind sie nicht nachzuvollziehen. Diese Excel-Tabellen können nicht einfach von der Webseite heruntergeladen werden, sondern sie werden auf Anfrage verschickt, enthalten aber auch nicht die Details zur Berechnung der geschätzten Prävalenz. Die Zahl der Versklavten taucht wie aus dem Nebel auf. Der wird nicht dadurch lichter, dass die Veröffentlichungen – zu Recht – immer wieder auf Schätzungen und begrenzte Aussagen aufmerksam machen.

Die australische Migrationsexpertin Anne T. Gallagher hat sich kritisch mit verschiedenen GSI-Ausgaben befasst und registriert „das Fehlen einer ernsthaften kritischen Hinterfragung des GSI“ und eine „Verschwörung zum Schweigen“. Sie kritisiert den „Philantrokapitalismus“, in dem sich wie GSI-Geldgeber Andrew Forrest einige Multimilliarden schwere Geschäftsleute in Idealkonkurrenz um eine ruhmträchtige, zahlenbasierte Verbesserung der Welt bemühen. Angefangen hat dies mit Microsoft-Gründer Bill Gates, der zum global wichtigsten Geldgeber für Gesundheitsprojekte wurde. Soche Initiativen sind hilfreich, wenn sie transparent sind. Aber das ist bei der Arbeit der Walk-Free-Stiftung und ihrem Index anders. Hinzu kommt, dass die Stiftung, so Gallagher, gut ausgestattet ist. Sie kann ihre Seriösität durch eine Zusammenarbeit mit notorisch knappen Institutionen wie der ILO und mit Fachleuten, die beratend an das Projekt angebunden werden, unterstreichen. Eine notwendige kritische Auseinandersetzung wird so nicht gefördert – und sie muss sich noch gegen die Denunziation mangelnder Solidarität mit einem guten Zweck wehren.

2022 soll der nächste, der fünfte Global Slavery Index erscheinen. Die Messlatte liegt hoch. Möglicherweise stellt sich dann heraus, dass in Deutschland doch weniger Versklavte leben als Potsdam an Bevölkerung hat. Je weniger Fragwürdiges der GSI aufweist, umso nützlicher wird er sein.