Chance 2000

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Chance 2000
Gründung März 1998
Gründungs­ort Berlin

Chance 2000 war eine deutsche Kleinpartei, die im März 1998[1] von Christoph Schlingensief gegründet wurde.[2]

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vor der Parteigründung gründete Schlingensief mit einigen anderen Personen, unter anderem Harald Schmidt und Alfred Biolek, den Verein Chance 2000 e. V., der den „Unsichtbaren [der] Gesellschaft“ beim Versuch, sich als unabhängige Wahlkreiskandidaten aufzustellen, helfen sollte.[3] Die Gründung der Partei fand am 13. März 1998 in einem Zirkuszelt auf dem Volksbühnengelände im Prater statt.[4] Der Oberstaatsanwalt Dietrich Kuhlbrodt setzte die Gründung juristisch durch. Insgesamt gab es 312 Gründungsmitglieder.[5][6] Die Partei war zunächst auch unter dem Namen Partei der letzten Chance mit dem Slogan „Scheitern als Chance“ bekannt.[7] Der Ansatz der Partei war die Möglichkeit jeder Person, sich mit der Namenskombination „Chance Müller“ oder „Müller Chance“ als Direktkandidat aufzustellen und somit selber zu wählen, sobald er 2000 Unterschriften von Wahlberechtigten seines Wahlkreises gesammelt hatte.[7] Nach Angaben Schlingensiefs hatte die Partei im Juni 1998 etwa 16.000 Mitglieder, ein Artikel der Welt vom 24. August 1998 sprach von „annähernd 1000 Mitglieder[n]“ und „30.000 Sympathisanten“.[7][8] Insgesamt hatte die Partei elf Landesverbände in Nordrhein-Westfalen (Landesvorsitzender war hier der Filmemacher Detlev F. Neufert), Hamburg, Bremen, Bayern, Brandenburg, Baden-Württemberg, Sachsen, Hessen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein.[9] Im Juli 1998 wurde die Partei für die Bundestagswahl 1998 zugelassen, bei welcher die Partei 0,007 % der Erststimmen (3.206 Stimmen) und 0,058 % der Zweitstimmen (28.566 Stimmen) erhielt.

1998 wurde ein Buch mit dem Titel Chance 2000: Wähle Dich selbst bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht, bei dem Christoph Schlingensief und Carl Hegemann als Autoren agierten.[10] Der Soziologe Niklas Luhmann unterschrieb nach Angaben der Partei eine Unterstützerliste.[11]

Trotz einer Spende von Wolfgang Joop von 190.000 DM[12] häufte die Partei im Zuge der Bundestagswahl zwischen 90.000 und 120.000 DM Schulden an, woraufhin Schlingensief den Verkauf der Partei ankündigte.[8] Bundeswahlleiter Johann Hahlen reagierte darauf mit der Äußerung „Die Gesetze lassen eine Veräußerung nicht zu.“[12] Nach der Gründung einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts namens Chance 2000 International, zu deren sieben Teilhabern unter anderem Schlingensief, drei Independent-Labels und Tom Tykwer gehören, wurden die Schulden von dieser übernommen.[13]

Der letzte Bundesvorstand wurde am 28. Oktober 1999 gewählt, hierbei waren die Vorsitzenden Alexander Karschnia, Matthias Riedel und Herbert Rusche. Zusätzlich gab es 6 Beisitzer. Schlingensief wurde als Ehrenvorsitzender genannt.[9] Im Dezember 2000 erschienen Berichte, die nach dementsprechenden Äußerungen Schlingensiefs über eine mögliche „Neuauflage“ der Partei spekulierten. Dabei gab Schlingensief auch bekannt, er habe „erst vor einigen Tagen die letzte Mark [der Chance-2000-Schulden] zurückgezahlt“.[14]

Aktionen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Chance 2000 verband politische Forderungen mit künstlerischen Aktionen. Die Gründung der Partei wurde als Wahlkampfzirkus '98 bezeichnet, wobei Schlingensief in Zirkusuniform auftrat und artistische Trapeznummern und Tierdressur Inhalte der Veranstaltung waren.[4][15] Für die Aktion Baden im Wolfgangsee lud Schlingensief sechs Millionen Arbeitslose zum Baden im Wolfgangsee ein, an dessen Ufer Helmut Kohls Ferienhaus in Sankt Gilgen stand. Ziel der Aktion war eine Erhöhung des Wasserspiegels, so dass Kohls Ferienhaus überflutet wird. Während Schlingensief einen Anstieg des Pegels um zwei Meter ankündigte, wies ein Experte darauf hin, dass das von den Menschen verdrängte Wasser einfach abfließen werde.[16] Den Arbeitslosen wurden Freikarten für die Salzburger Festspiele versprochen, ein logistisches Konzept gab es nicht. Die Aktion erzeugte große Aufmerksamkeit, die Teilnahme daran war jedoch gering. Insgesamt nahmen deutlich weniger als 100 Personen an der Aktion teil.[17]

Parteiprogramm[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In ihrem Parteiprogramm nennt die Partei die Wiedereinsetzung des „Volk[s] in seiner Gesamtheit“ als „Souverän des Staates“ als Hauptziel. Dabei richtet sie sich besonders an „alle[] […], die sich von der herrschenden Gesellschaft erniedrigt, entrechtet und beleidigt fühlen“ und nennt speziell „Behinderte[], Sozialhilfeempfänger[], […] Ausgegrenzte[] und Außenseiter[]“. Sie bezeichnet sich als „Nichtwählerpartei“ und versucht den „um sich greifenden Fatalismus“, sowie die „grassierende Politikverdrossenheit“ mit „gemeinsame[r] soziale[r] und politische[r] Sensibilisierung und Mobilisierung der Nichtwähler“ zu bekämpfen. Die Partei offeriere „Hilfe zur Selbsthilfe“ um einen „Artikulationsprozeß in Gang zu bringen“. Zudem wird die Forderung „Politik muß kunstvoller werden“ erhoben.[18]

Angelehnt an die Parole Wir sind das Volk vertrat die Partei die Aussage Wir sind jeder ein Volk!, was darin begründet lag, dass jede Person als ein Volk gezählt wurde, also im Sinne einer Maßeinheit.[19] Eine zentrale Forderung bestand darin, dass Arbeitslosigkeit als Beruf anerkannt werden solle.[20]

Dokumentarfilm[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Am 7. September 2017 hatte die Dokumentation Chance 2000 – Abschied von Deutschland von Kathrin Krottenthaler und Frieder Schlaich einen bundesweiten Kinostart.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Finke, Johannes / Wulff, Matthias: Chance 2000: die Dokumentation. Phänomen, Materialien, Chronologie, 1999.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Wolfgang Weber: Christof Schlingensief, "Chance 2000" und das kulturelle Klima in Deutschland, vom 2. September 1998, abgerufen am 28. Mai 2012
  2. Kiepenheuer & Witsch: Christoph Schlingensief (Memento des Originals vom 20. November 2012 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.kiwi-verlag.de, abgerufen am 14. Mai 2012
  3. Anke Dürr, Joachim Kronsbein: Losrasen für Deutschland, DER SPIEGEL 11/1998, Onlineversion vom 9. März 1998, abgerufen am 28. Mai 2012
  4. a b Martin Klesmann: Große Koalition aus Ziege und Pferd, Berliner Zeitung, vom 14. März 1998, abgerufen am 28. Mai 2012
  5. Ronald Gläser: "Einfach so mitmachen", vom 20. März 1998, abgerufen am 29. Mai 2012
  6. Matthias Heine: "Chance 2000 - Wahlkampfzirkus ‘98" im Prater (Memento vom 22. Oktober 2014 im Internet Archive), B.Z., vom 13. März 1998, abgerufen am 29. Mai 2012
  7. a b c Intro: CHRISTOPH SCHLINGENSIEFS PARTEI "CHANCE 2000", Ausgabe #56 (Juli / August 1998), Onlineversion vom 7. Juni 1998, abgerufen am 28. Mai 2012 / Thomas Kerpen: Schlingensief und Chance 2000, Ox-Fanzine / Ausgabe #32 (III 1998), abgerufen am 28. Mai 2012
  8. a b Hanns-Georg Rodek: Schlingensief will seine Partei verkaufen, vom 24. August 1998, abgerufen am 28. Mai 2012
  9. a b Chance 2000: Information auf der Website der Partei (Memento vom 11. Juni 2000 im Internet Archive)
  10. Christoph Schlingensief, Carl Hegemann: Chance 2000: Wähle Dich selbst Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998, ISBN 978-3-46-202773-0.
  11. Chance 2000: Dumm ist, wer Nonsens dabei denkt. 2. Juni 1998, abgerufen am 16. Februar 2021.
  12. a b Detlef Friedrich: Christoph, bring die Flaschen weg, vom 26. August 1998, abgerufen am 28. Mai 2012
  13. Roland Koberg: Die Arbeitslosen wählten ihn ab, vom 1. September 1998, abgerufen am 28. Mai 2012
  14. Spiegel Online: Bahn frei für "Chance 2002"?, vom 13. Dezember 2000, abgerufen am 28. Mai 2012
  15. Nina Wetzel: Chance 2000-Wahlkampfzirkus’98 I C. Schlingensief, Bilder der Veranstaltung, abgerufen am 29. Mai 2012
  16. : „Das Wasser wird steigen“. In: Spiegel Online. Band 31, 27. Juli 1998 (spiegel.de [abgerufen am 29. Oktober 2019]).
  17. Frank Ebbinghaus: Das ungeliebte Kind schreit laut: Protest!, vom 4. August 1998, abgerufen am 29. Mai 2012
  18. Chance 2000: Parteiprogramm der Partei Chance 2000 vom 22. März 1998 (Memento vom 4. November 1999 im Internet Archive)
  19. alextext: PARTEI DER LETZTEN CHANCE, vom 20. Juni 2011, abgerufen am 29. Mai 2012
  20. cd: Neue Parteien: „Chance 2000“ auch für Bremen. In: Die Tageszeitung: taz. 27. Mai 1998, ISSN 0931-9085, S. 24 (taz.de [abgerufen am 16. Februar 2021]).