Choleraepidemie von 1892

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Cholerabaracke in Hamburg 1892

Die Choleraepidemie von 1892 in Hamburg war der letzte große Ausbruch der Cholera in Deutschland, der aufgrund hamburgischer Besonderheiten verheerende Ausmaße annahm. Die Epidemie brach während eines heißen Sommers aus. Der Pegel der Elbe war niedrig und das Flusswasser ungewöhnlich warm. Da sich Senat und Bürgerschaft jahrzehntelang nicht auf den Bau einer Filteranlage einigen konnten, wurde das Hamburger Trinkwasser damals noch ungereinigt der Elbe entnommen; die Entnahmestelle zwei Kilometer flussaufwärts war bei Flut dem verschmutzten Sielwasser ausgesetzt.[1] Im benachbarten Altona, das zu Preußen gehörte und eine Sandfilteranlage für Trinkwasser hatte, erkrankten während der Epidemie weit weniger Menschen als in Hamburg.[2] Hamburg hatte zudem unter allen deutschen Großstädten den höchsten Anteil an ungesunden Kellerwohnungen, und in der Innenstadt ballten sich Menschen unter unhygienischen Bedingungen auf allerengstem Raum. Berühmt ist der Kommentar des zu Hilfe gerufenen Direktors des Berliner Hygienischen Instituts, Robert Koch, beim Rundgang durch das Gängeviertel:[3] „Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie in den sogenannten Gängevierteln, die man mir gezeigt hat, am Hafen, an der Steinstraße, an der Spitalerstraße oder an der Niedernstraße.[...] Ich vergesse, daß ich mich in Europa befinde.“

Ablauf

Die Gemeinschaftstoiletten ohne Anschluss an die Kanalisation begünstigten die Ausbreitung der Cholera.
Desinfektionskolonnen mit Chlorkalk, um die Cholera-Erreger abzutöten.
Nachfolgebau "Schwarze Bude" (Behausung der Cholera-Totengräber) Friedhof Ohlsdorf

Bereits in den Jahren 1822, 1831, 1832, 1848, 1859, 1866 und 1873 hatten kleinere Cholera-Epidemien Hamburg heimgesucht. Aus den Endemiegebieten in Russland erreichten vermutlich auch 1892 infizierte Personen die Hafenstadt. Offenbar kam es zur Kontamination der zentralen Wasserversorgung mit Fäkalien und Choleravibrionen. Am 14. August 1892 wurde der erste Kranke, ein Kanalarbeiter namens Sahling, mit starkem Brechdurchfall in ein Krankenhaus eingeliefert und starb kurz darauf. Am 21. August fielen weitere drei Menschen der Krankheit zum Opfer. Anfänglich war der Senat nicht sehr besorgt, denn man hielt die Krankheit für die cholera nostras (Salmonellenenteritis), die jedes Jahr im Sommer auftrat. Aus Rücksicht auf die Wirtschaft wurden die Todesfälle verheimlicht und keine Maßnahmen ergriffen. Auswandererschiffen wurden noch nach Ausbruch der Krankheit wider besseres Wissen gesundheitliche Unbedenklichkeitszeugnisse ausgestellt, so dass die Cholera auf diesem Wege nach New York gelangte.[4]

Die Zahl der Erkrankten stieg exponentiell an. Bereits am 22. August waren 1.100 Hamburger an der Seuche erkrankt und 455 gestorben. Die Bevölkerung begann unruhig zu werden, viele Menschen verließen die Stadt.

Unzufrieden mit den zögerlichen Entscheidungsprozessen des Senates, setzte die Reichsregierung einen Reichs-Commissar für die Gesundheitspflege im Stromgebiet der Elbe ein. Der Hafen wurde als eine erste Maßnahme vollständig abgeriegelt.[5] Am 24. August 1892 traf der Vertreter der Reichsregierung, der berühmte Bakteriologe Robert Koch ein. Er hatte bereits 1884 veröffentlicht, dass mit dem von ihm entdeckten Erreger verunreinigtes Trinkwasser die Cholera überträgt. Koch bestätigte nun öffentlich den Ausbruch der Cholera in Hamburg. Auf seine Anordnung hin wurden dort die Schulen geschlossen und Versammlungen verboten. Jeglicher Verkehr mit Hamburg kam zum Erliegen, und der Handel stand still. Die Werft Blohm & Voss stellte ihren Reparaturbetrieb ein.

125 Arbeiter schaufelten in Tag- und Nachtschichten Gräber auf dem Friedhof Ohlsdorf. Die „Medicinal-Behörde“ gab Zettel mit Verhaltensregeln heraus und verteilte sie an die Bevölkerung, auch mithilfe des Verteilersystems der Sozialdemokratischen Partei. Fasswagen verteilten abgekochtes Wasser, Brauereien stellten ihre Tiefbrunnen zur Verfügung. Die Polizei errichtete improvisierte Desinfektionsstellen in leerstehenden Tanzsälen, Turnhallen und Bahnhöfen. In aller Eile begannen die Hamburger Wasserwerke mit dem Bau einer Trinkwasserfiltration auf der Elbinsel Kaltehofe.[3]

Nach zehn Wochen nahm die Zahl der Neuerkrankungen ab. Insgesamt waren während der Epidemie 16.956 Menschen erkrankt und 8.605[6] gestorben. Zur Erinnerung wurde bei der Eröffnung des Hamburger Rathauses im Innenhof der so genannte Hygieia-Brunnen aufgestellt.

Folgen

  • Die Gängeviertel wurden grundlegend saniert oder abgerissen.
  • Neue Gesetze gegen den Bau unhygienischer Wohnverhältnisse wurden erlassen.
  • Das Filtrierwerk der Hamburger Wasserwerke auf Kaltehofe wurde 1893 fertiggestellt.
  • Hamburg bekam eine Müllverbrennungsanlage, die 1893 als erste Anlage Deutschlands am Bullerdeich errichtet wurde. 1894 begann der Probebetrieb, 1896 wurde der reguläre Betrieb aufgenommen.
  • Durch eine Verfassungsänderung wurden größere Teile der Bevölkerung an der politischen Gestaltung beteiligt.
  • Die hygienischen Verhältnisse in den Zwischendecks der Passagierschiffe wurden verbessert, die Baracken 1906 durch die Auswandererhallen auf der Veddel ersetzt.
  • Im vorgelagerten Auswandererbahnhof Ruhleben bei Berlin richteten die Transportgesellschaften eine Desinfektionsanstalt ein, nachdem Bremen und Hamburg mit einer vollständigen Sperrung ihres Stadtgebiets für Auswanderer drohten. Der Bremer und der Hamburger Senat beschlossen, nur noch Auswanderer mit einer ärztlichen Kontrollkarte aus Ruhleben einzuschiffen.[7]
  • Zum 1. April 1893 wurde das Amt des Hafenarztes neu geschaffen und Bernhard Nocht auf diese Position berufen.

Sonstiges

Der Mediziner Max von Pettenkofer (1818–1901) wurde 1865 erster Direktor des Instituts für Hygiene (Ludwig-Maximilians-Universität München). Pettenkofer wurde als Pionier der Hygiene und Öffentlichen Gesundheit bekannt. Er analysierte die Choleraepidemien in München (1836/37 und 1853/54) und überzeugte Ludwig II. von Bayern, dass die Bodenqualität durch Zentralisierung der Abwasserkanalisation und der Trinkwasserversorgung wesentlich verbessert werden kann. Der Nutzen dieser Maßnahmen wurde erkennbar, als die Cholera 1892 in Hamburg wütete, in München hingegen nicht.

Zwischen Pettenkofer und Robert Koch gab es einen Disput: Pettenkofer verkannte lange Zeit, dass Cholera vom „Kommabazillus“ Vibrio cholerae verursacht wird; er hatte eine „Bodentheorie“ und glaubte, dass Eigenschaften bestimmter Böden ein auslösender Faktor für Darmerkrankungen seien.[8]

Am 28. Dezember 1892 wurde in Hamburg das Institut für Hygiene und Umwelt gegründet.

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Commons: Choleraepidemie von 1892 – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Anmerkungen

  1. Cholera – Seuchengeschichte, Informationen der Gesundheitsämter Dachau und Garmisch
  2. Richard J. Evans: Tod in Hamburg, S. 374.
  3. a b Hygiene-Institut Hamburg 2003: Cholera in Hamburg 1892 (PDF 7,7 MB)
  4. Richard J. Evans: Tod in Hamburg, S. 402ff.
  5. Charles E. Closmann: Wirbelnde Strömungen. Umweltverschmutzung und politische Tradition in Hamburg 1900–1933. In: Hamburger Wirtschafts-Chronik, Neue Folge, Band 1 (2000), herausgegeben von Sven Tode und Frank Hatje, im Auftrag der Wirtschaftsgeschichtlichen Forschungsstelle e. V., Verlag Hanseatischer Merkur, Hamburg 2000, ISSN 0436-7030, S. 137 ff
  6. „So erlagen in Hamburg innerhalb der ersten 14 Tage nach Seuchenausbruch mehrere tausend Menschen der Cholera tödlich (die Zahl der Choleraopfer, die auf dem Ohlsdorfer Friedhof beerdigt wurden, betrug am 5. Sept. 1892 schon 14530!), während noch weitere ungezählte Tausende an ihr erkrankt blieben.“ schreibt Johannes Thomas aus Riesa in Unsere Heimat. 5. Jahrgang, Nr. 43, Seite 3, Riesa, 8. Oktober 1932 mit der Quellenangabe: „Elbeblatt und Anzeiger“, 45. Jahrgang, 1892.
  7. Arne Hengsbach: Station der Europamüden. Die Geschichte des Auswandererbahnhofs Ruhleben.. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, 70. Jahrgang, 1974, S. 424 (PDF-Datei).
  8. Darstellung der Geschichte des Max von Pettenkoferinstituts der Universität München, abgerufen am 20. März 2016