Die kluge Else

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Die kluge Else ist ein Schwank (Märchentyp ATU 1450, 1383). Er steht in den Kinder- und Hausmärchen (KHM) der Brüder Grimm ab der 2. Auflage von 1819 an Stelle 34 (KHM 34).

Inhalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die kluge Else, wie sie von ihren Eltern genannt wird, soll verheiratet werden. Als Hans, der um sie freit, zu Besuch ist, geht Else in den Keller, um Bier zu holen. Dort sieht sie über dem Bierfass eine Kreuzhacke in der Wand stecken und stellt sich vor, diese könnte herunter fallen und das Kind erschlagen, das sie einmal mit Hans bekommen könnte, würde sie ihn heiraten. Wegen dieses bevorstehenden Unglücks beginnt sie laut zu weinen und bleibt im Keller. Nacheinander werden die Magd, der Knecht und die Frau geschickt, um nach ihr zu sehen, schließlich geht der Vater selbst. Als sie von Else den Grund ihres Jammers erfahren, beginnen auch sie zu weinen. Zum Schluss geht auch Hans in den Keller, hört von dem möglicherweise eintretenden Unglück und beschließt mit den Worten „mehr Verstand ist für meinen Haushalt nicht nöthig“ die kluge Else zu heiraten.

Im zweiten Teil der Erzählung sind Hans und Else schon eine Weile verheiratet. Hans geht zur Arbeit, um Geld zu verdienen, Else soll derweil das Korn schneiden. Sie kocht sich einen Brei, nimmt ihn mit auf das Feld, isst ihn, noch bevor sie mit der Arbeit begonnen hat und legt sich danach schlafen. Als Hans heimkommt, meint er erst, sie sei noch bei der Arbeit und lobt ihren Fleiß. Als er sie jedoch schlafend im Korn findet, hängt er ihr ein Vogelgarn mit kleinen Schellen um, geht heim, schließt die Haustür zu und setzt seine Arbeit fort. Als Else im Dunkeln erwacht und die Schellenkleidung bemerkt, kennt sie sich selbst nicht mehr. Sie geht nach Hause und fragt an der Tür, ob Else drinnen sei. Als sie hört „ja“, läuft sie davon („ach Gott, dann bin ichs nicht“) und wurde nicht mehr gesehen.

Vergleiche[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Grimm weist auf die Ähnlichkeit mit Hansens Trine hin, das in der Erstauflage an selber Stelle stand (KHM 34a): Dieses Märchen enthält nur den zweiten Teil über Trines Faulheit, woraufhin Hans der Schlafenden den Rock abschneidet (eine volkstümliche Strafe für "unzüchtige" Frauen) und Trine vergnügt ihre Identität aufgibt. Eine ähnliche Identitätskrise gibt es ebenfalls in Der Frieder und das Katherlieschen (KHM 59). Dabei gehört Die kluge Else zu Märchentyp AaTh 1450 Holen eines Getränks und absurde Sorge um künftiges Unheil, der v. a. in West-, Mittel- und Südosteuropa nachgewiesen ist.[1] Die Motivforscher Johannes Bolte und Georg Polívka betonen die zwei unverbundenen Motive der "unnützen Gedanken über künftiges Unglück des noch nicht geborenen Kindes" und die "an ihrer Identität irre" gewordene Frau.[2]

Die Grimms betitelten mehrere Dummenschwänke ironisch mit Klugheit: KHM 32 Der gescheite Hans, KHM 77 Das kluge Gretel, KHM 104 Die klugen Leute, KHM 162 Der kluge Knecht. Weitere männliche Pendants sind KHM 7, 84, 143, ein weibliches KHM 139. Hans-Jörg Uther findet für die Konzeption des Schwanks bis zu Elses Heirat literarische Vorbilder im 16. und 17. Jahrhundert, für Einzelmotive auch früher.[3] Der Subtext der gebrochenen Frau ist hier recht deutlich.

Arthur Schnitzler greift in seiner Novelle Fräulein Else ein ähnliches Thema auf, indem Else von ihren Eltern zur Prostitution getrieben wird. Die kluge Else wird erwähnt in Wittgensteins Bemerkungen über Frazers Golden Bough Teil II, S. 144. In Franziska Sperrs moderner Kurzgeschichte hetzt Else durchs Kaufhaus, um einen Reißverschluss für Hans' Hose zu kaufen, bis sie, abgelenkt von Kleidungsstücken, Cafeteria und überteuertem Korkenzieher, in Wahnvorstellungen zusammenbricht.[4]

Interpretation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Erika Alma Metzger deutet Die kluge Else, deren Name (Ilse) schon auf Verwandtschaft mit Undinen, also Mächten der Tiefe hindeute, zusammen mit Der Frieder und das Katherlieschen als Entwicklung einer Paranoiden Schizophrenie.[5] Man denke dazu auch an die Schwarzerle oder Ilse, der dämonische Kräfte nachgesagt wurden. Eugen Drewermann sieht das Ich von Elses Vater durch Leistungsideale zerbrochen. Er identifiziert sich narzisstisch mit der Tochter, die klug sei, v. a. aber wie er versagen muss, um ihn nicht abzuwerten. So ein Kind entwickelt ein feines Gespür dafür, zu denken, was die anderen denken, jeden "Wind auf der Gasse" und jeden drohenden Schatten einer Fliege an der Wand zu ahnen. Die latente Vernichtungsdrohung internalisierter Aggression, die vatergöttliche Doppelaxt (im Märchentext „Kreuzhacke“) steckt tief im Familienfundament. Das Denken verkommt zum Handlungsersatz zur Rationalisierung eigener Verzweiflung. Wer sich stets widerwillig zu Leistung nötigt, wird oft von der Arbeit durch Hunger und Schlafbedürfnis abgelenkt, eine Art oral-mütterlicher Gegenpol zu den väterlichen Ansprüchen. Die psychotische Identitätskrise zerbricht die Bindungen und wandelt anfangs noch gut gemeinte Ratschläge in Zynismus.[6] Im Vorwort seines Buchs Die Angst vor Zurückweisung. Hysterie verstehen spricht Heinz-Peter Röhr 2018 seine Wahl aus, den Begriff der Histrionische Persönlichkeitsstörung der Fachsprache anstatt Hysterie im Fall der klugen Else nicht zu benutzen "weil sich histrionisch im alltäglichen Sprachgebrauch wenig durchsetzen" kann. Er meint dazu, es sei zweifelhaft, ob die Veränderung des Begriffs die Vorurteile ("hysterisch" häufig als Schimpfwort verwendet) mindert.[7]

Diese tiefsinnigen Deutungen verkennen jedoch, dass der Erzähler einen Schwank vorträgt, bei dem der Hörer/Leser über eine dumme Frau lachen darf: Zuerst wird ihre Dummheit ausführlich vorgestellt, die jedoch kein Hindernis dafür darstellt, Hausfrau zu werden; als sich dann aber erweist, dass Else auch noch faul ist und ihre Pflichten nicht erfüllt, vertreibt der Mann sie aus dem Haus, indem er ihre Dummheit ausnutzt: Sie verliert aufgrund des Schellenumhangs die normale menschliche Selbstgewissheit und will die anderen fragen, wer sie ist; darüber kann man als Hörer oder Leser nur lachen.

Das Material wurde verarbeitet im gleichnamigen Lied von Schobert & Black auf ihrer Platte In unsrer Eigenschaft als Freund von 1977[8] und in einem Musiktheaterstück von Sven Daigger (Uraufführung Rostock 2012).[9]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Grimm, Brüder. Kinder- und Hausmärchen. Vollständige Ausgabe. Mit 184 Illustrationen zeitgenössischer Künstler und einem Nachwort von Heinz Rölleke. S. 210–213. Düsseldorf und Zürich, 19. Auflage 1999. (Artemis & Winkler Verlag; Patmos Verlag; ISBN 3-538-06943-3)
  • Grimm, Brüder. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke. Band 3: Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort. S. 76, 456. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1994. (Reclam-Verlag; ISBN 3-15-003193-1)
  • Bottigheimer, Ruth B.: Kluge Else. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 8. S. 12–16. Berlin, New York, 1996.
  • Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Berlin 2008. S. 85–87. (de Gruyter; ISBN 978-3-11-019441-8)
  • Metzger, Erika A.: Zu Beispielen von Depersonalisation im Grimmschen Märchen. In: Fairy Tales as Ways of Knowing. Essays on Märchen in Psychology, Society and Literature. Edited by Michael M. Metzger and Katharina Mommsen. Bern, Frankfurt am Main, Las Vegas 1981. S. 99–116. (Peter Lang – Verlag; Germanic Studies in America, vol. 41; ISBN 3-261-04883-2)
  • Drewermann, Eugen: Die kluge Else. In: Lieb Schwesterlein, laß mich herein. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet. S. 313–362. München 1992. (ISBN 3-423-35050-4)
  • Röhr, Heinz-Peter: Die Angst vor Zurückweisung. Hysterie verstehen. 2. Auflage 2007, Düsseldorf. (Patmos Verlag; ISBN 978-3-491-40127-3)

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wikisource: Die kluge Else – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Bottigheimer, Ruth B.: Kluge Else. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 8. S. 12–16. Berlin, New York, 1996.
  2. Bolte, Johannes; Polívka, Georg: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, Bd. 1, Leipzig 1913, S. 335ff.
  3. Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. de Gruyter, Berlin 2008, ISBN 978-3-11-019441-8, S. 85–87.
  4. Franziska Sperr: Die kluge Else. In: Die Horen. Bd. 1/52, Nr. 225, 2007, ISSN 0018-4942, S. 190–193.
  5. Metzger, Erika A.: Zu Beispielen von Depersonalisation im Grimmschen Märchen. In: Fairy Tales as Ways of Knowing. Essays on Märchen in Psychology, Society and Literature. Edited by Michael M. Metzger and Katharina Mommsen. Bern, Frankfurt am Main, Las Vegas 1981. S. 99–116. (Peter Lang – Verlag; Germanic Studies in America, vol. 41; ISBN 3-261-04883-2)
  6. Drewermann, Eugen: Die kluge Else. In: Lieb Schwesterlein, laß mich herein. Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet. S. 313–362. München 1992. (ISBN 3-423-35050-4)
  7. Röhr, Heinz-Peter: Die Angst vor Zurückweisung. Hysterie verstehen. 2. Auflage 2007, Düsseldorf. (Patmos Verlag; ISBN 978-3-491-40127-3), neue Auflage 2018 im Patmos Verlag, Vorwort 2018, S. 11, siehe [1]
  8. http://www.hitparade.ch/showitem.asp?interpret=Schobert+%26+Black&titel=Die+kluge+Else&cat=s www.hitparade.ch zu Schobert & Black – Die kluge Else.
  9. http://www.hmt-rostock.de/veranstaltungen/veranstaltungskalender/cal/event///view-month%7Cpage_id-28%7C%7Cview-event%7Cpage_id-28%7Cuid-2539%7Ctype-tx_cal_nearby%7C%7Cview-month%7Cpage_id-28%7C%7Cview-month%7Cpage_id-28/tx_cal_nearby//die_kluge_else_musiktheater_von_sven_daigger-2.html?tx_cal_controller%5Byear%5D=2012&tx_cal_controller%5Bmonth%5D=10&tx_cal_controller%5Bday%5D=16&cHash=cf6253785a15ad6f66b46c196facbd60@1@2Vorlage:Toter Link/www.hmt-rostock.de (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Dezember 2023. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. hmt Rostock zu Eine kluge Else – Musiktheater von Sven Daigger.