Ersatzstimme (Wahlrecht)

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Die Ersatzstimme, auch Alternativstimme, Eventualstimme, Hilfsstimme, Nebenstimme oder Zweitpräferenz, bezeichnet im Wahlrecht (in Wahlverfahren) eine zusätzliche Stimme des Wählers, mit welcher dieser neben seiner ersten auch seine zweite Präferenz angeben kann. Sie kann nur wirken, wenn die erste Präferenz nicht wirkt; deshalb bleibt die Wahlgleichheit erhalten. Die Ersatzstimme wurde in Deutschland als mögliche Wahlrechtsreform diskutiert.[1][2]

Die Wahl mit Ersatzstimme ist der einfachste Fall einer Präferenzwahl; viel Wichtiges steht deshalb nur dort. Sie ist bei der Mehrheitswahl ebenso möglich wie bei der Verhältniswahl, ob mit oder ohne Sperrklausel:

  • für die Wahl von Kandidaten: Die Ersatzstimme kann nur wirken, wenn der Kandidat mit der ersten Präferenz dieses Wählers nicht mehr als die Hälfte der Stimmen ersten Ranges aller Wähler bekommt. Dieses Wahlsystem ist ein Spezialfall der Integrierten Stichwahl.
  • für die Wahl von Parteien: Die Ersatzstimme kann nur wirken, wenn die Partei mit der ersten Präferenz dieses Wählers keinen Sitz bekommt (unter Sperrklausel). Dieses Wahlsystem ist eine Spezialfall der Übertragbaren Einzelstimmgebung.

Vorteile und Nachteile[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ein Vorteil von Ersatzstimmen ist die Verringerung von verschwendeten Stimmen durch die Verringerung der Erfolgswertlosigkeit von Stimmen an irrelevante Alternativen durch das Auswahldilemma bei der Wahl von Kandidaten, beziehungsweise durch die Verringerung der Erfolgswertlosigkeit durch die Sperrklausel bei der Wahl von Parteien.[3] Die Verringerung der erfolglosen Stimmen verbessert die Wahlgleichheit[4] und verringert die Anreize zur Strategischen Wahl.[5] Die Ersatzstimme bei Parteiwahl erlaubt gerechtere Wettbewerbschancen nicht-etablierter politischer Parteien.[6] Im Unterschied zu den meisten Präferenzwahlsystemen, ist bei Benutzung einer Ersatzstimme die Präferenzwahl auf zwei Ränge begrenzt, damit die Auszählung der Stimmzettel einfacher ist. Die Begrenzung auf zwei Präferenzen erlaubt eine dezentrale Auszählung,[7] wo jeder Wahlbezirk die Anzahl der Stimmzettel jeder auftretenden Kombination von erstem und zweitem Rang tabelliert und die Wahlleitung anhand dieser Tabellen die Stimmen überträgt. Die Ersatzstimmen können auch zentral ausgezählt werden, wo erst das offizielle Ergebnis des ersten Präferenzranges von der Wahlleitung ermittelt wird, dann zählt jeder Wahlbezirk den zweiten Präferenzrang aus. Weitere allgemeine Vorteile, Varianten und Nachteile von Präferenzwahlen werden im Artikel Präferenzwahl und den Spezialfällen Integrierte Stichwahl und Übertragbare Einzelstimmgebung erörtert.

Anwendung in Deutschland[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Im deutschsprachigen Raum sind derzeit keine Wahlen bekannt, bei denen der Wähler eine Ersatzstimme abgeben kann.[8]

In Deutschland gab es 2015/16 im Saarland und in Schleswig-Holstein Versuche, die Ersatzstimme bezogen auf die Zweitstimme in das jeweilige Landtagswahlrecht einzuführen. In beiden Bundesländern hatten die Fraktionen der Piraten entsprechende Gesetzentwürfe eingebracht. Während der saarländische Vorstoß[9] mit der Stimmenmehrheit von CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt wurde[10], wurde der schleswig-holsteinische Gesetzentwurf[11] intensiver diskutiert[12][13], am Ende aber ebenfalls nicht umgesetzt.

Im September 2017 gab es einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts mit dem Tenor, dass keine verfassungsrechtlich herzuleitende Pflicht des Gesetzgebers zur Einführung eines Ersatzstimmen-Wahlrechts bestehe.[14] Diese Entscheidung wurde in Teilen der Literatur kritisiert.[15]

Zur Verkleinerung des Deutschen Bundestages machten die drei Regierungsparteien in Deutschland im Mai 2022 den Oppositionsparteien ein „Gesprächsangebot“, das eine Ersatzstimme vorsieht bezogen auf die Erststimme, um Überhangmandate ganz zu vermeiden: Wenn in einem Wahlkreis eine Partei über die Erststimmen (neu „Personstimmen“) mehr Mandate erzielt als über die Zweitstimmen (neu „Listenstimmen“), sollen diese Erststimmen verfallen. Dann soll die – nun unter Berücksichtigung der Ersatzstimme – nächstplatzierte Person einziehen, dies aber nur dann, wenn durch Listenstimmen gedeckt.[16][17][18][19]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Eckhard Jesse: Reformvorschläge zur Änderung des Wahlrechts. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Band 52. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2003, DNB 021247129, S. 9 f.
  2. Philipp Barlet: Verfassungskonformität des Bundestagswahlrechts trotz Nichteinführung der Eventualstimme? Entscheidungsbesprechung zu BVerfG, Beschl. v. 19.9.2017 – 2 BvC 46/14 (= Zeitschrift für das Juristische Studium. 2018, S. 179). ([1] [PDF]).
  3. Werner Speckmann: 5 %-Klausel und subsidiäre Wahl. In: Zeitschrift für Rechtspolitik. Nr. 3. Beck, München / Frankfurt am Main 1970, DNB 011134755, S. 19 8 f.
  4. Benken, Björn, and Alexander Trennheuser. "Mehr Demokratie dank Ersatzstimme?." Nomos, 2023, 216 Seiten ISBN 978-3-7560-0089-0
  5. Franz Decker: Ist die Fünf-Prozent-Sperrklausel noch zeitgemäß? Verfassungsrechtliche und -politische Argumente für die Einführung einer Ersatzstimme bei Landtags- und Bundestagswahlen (= Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), Heft 2/2016, S. 460–471. 2018, S. 179). doi:10.5771/0340-1758-2016-2-460.
  6. Jan Köhler: Parteien im Wettbewerb. Zu den Wettbewerbschancen nicht-etablierter politischer Parteien im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland. Nomos, Baden-Baden 2006, ISBN 3-8329-1679-2, S. 140 ff.
  7. Die Dualwahl in der Praxis, Björn Benken
  8. Eckhard Jesse: Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland (1949–1983). Droste, Düsseldorf 1985, ISBN 3-7700-5129-7.
  9. Landtagsfraktion der Piraten im Saarland: Gesetzentwurf zur Änderung wahlrechtlicher Vorschriften, Drucksache 15/1541 vom 7. Oktober 2015
  10. Saarländischer Landtag: Erste Lesung des von der PIRATEN-Landtagsfraktion eingebrachten Gesetzes zur Änderung wahlrechtlicher Vorschriften, Sitzung am 13./14. Oktober 2015
  11. Landtagsfraktion der Piraten in Schleswig-Holstein: Alternativen zum Gesetzentwurf aus Drucksache 18/385 vom 4. November 2013
  12. Innen- und Rechtsausschuss des schleswig-holsteinischen Landtages Niederschrift der Sitzung vom 7. Mai 2014
  13. Artikel in der SHZ vom 13. Juli 2015: Ersatzstimme bei Landtagswahlen: SPD will Piraten-Vorschlag überdenken, abgerufen am 17. Oktober 2019
  14. Bundesverfassungsgericht: Beschluss 2 BvC 46/14 vom 19. September 2017, Rn. 80–82
  15. Philipp Barlet: Entscheidungsbesprechung - Verfassungskonformität des Bundestagswahlrechts trotz Nichteinführung der Eventualstimme?, in: ZJS 2/2018, S. 179–188
  16. Sebastian Hartmann, Konstantin Kuhle und Till Steffen: Wie der Bundestag verkleinert werden kann. Ein Gesprächsangebot zur Reform des Wahlrechts. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Mai 2022, S. 8.
  17. Ein neues Betriebssystem, Zeit, 18. Mai 2022
  18. So will die Ampel den Bundestag verkleinern, Konstantin Kuhle, 18. Mai 2022, ohne Paywall - mittlerweile offline, hier archiviert: https://web.archive.org/web/20221002092433/https://konstantinkuhle.de/gastbeitrag-eine-frage-der-selbstachtung/
  19. Ampel-Plan zur Parlamentsverkleinerung verfassungskonform, Legal Tribune Online, 31. Mai 2022