Gefühlsblindheit

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Gefühlsblindheit oder Alexithymie ist ein Konzept der psychosomatischen Krankheitslehre. Benutzt werden auch die Bezeichnungen Gefühlskälte, seltener Gefühlslegasthenie.

Der Begriff wurde 1973 von den US-amerikanischen Psychiatern John Case Nemiah (1918–2009) und Peter Emanuel Sifneos (1920–2008) geprägt. Damit bezeichneten sie die Unfähigkeit ihrer Patienten mit somatisierten Beschwerden, ihre eigenen Gefühle adäquat wahrzunehmen und sie in Worten zu beschreiben. Im Interview erschienen die Betroffenen phantasiearm und funktional, hielten ihre Beschwerden für rein körperlich und schwiegen zu seelischen Fragen.

Seit den 1990er Jahren wird versucht, diese unscharfe Beurteilung durch moderne Methoden zu objektivieren, z. B. durch Fragebögen und Scores.[1] Alexithymie ist bisher nicht in den international für Forschung und Gesundheitswesen maßgeblichen Klassifikationssystemen Internationale Klassifikation der Krankheiten und Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders enthalten.

Wortherkunft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Alexithymie ist ein Kunstwort, gebildet aus den griechischen Wortstämmen α- (a-) „nicht“, ἡ λέξις (he léxis) „Rede/Wort“[2] und ὁ θυμός (ho thymós) „Gemüt“;[2] Alexithymie wird also wörtlich übersetzt mit „Mangel an Worten für Gefühle“.

Moderne Begriffsverwendung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das ursprüngliche Konzept, nach dem Alexithymie eine Persönlichkeitsstörung ist, die psychosomatische Symptome verursacht, konnte nicht bestätigt werden. Im modernen psychosomatischen Schrifttum wird der Begriff jedoch weiter verwendet für eine inadäquate Reaktion auf belastende Ereignisse bei Personen mit geringer emotionaler Intelligenz; beispielsweise werden Übelkeit und Herzklopfen nicht als Ausdruck von Angst erkannt, sondern rein körperlich gedeutet.[3]

Es gibt Ansätze, den Grad der alexithymen Persönlichkeit zu messen, etwa mit den Levels of Emotional Awareness Scales (LEAS, Lane u. a., 1998) und der Toronto Alexithymia Scale (TAS-20, Bagby u. a., 1994). In Deutschland sollen ca. 10 % aller Erwachsenen stark durch Alexithymie beeinträchtigt sein.[4]

Naheliegend ist, nach statistischen Verbindungen zwischen alexithymen Persönlichkeitszügen und körperlichen bzw. psychosomatischen Krankheitsbildern zu suchen. Bei Kupfer, Brosig und Brähler findet sich eine Übersicht über solche Arbeiten. Die moderne Alexithymieforschung sucht außerdem nach einem neurobiologischen (hirnorganischen) Korrelat der beeinträchtigten Affektverarbeitung, beispielsweise mit der funktionellen MRT und der PET.

Dennoch bleibt die praktische Bedeutung der Alexithymie unklar, zumal sich die Laienpsychologie des Begriffs bemächtigt hat[5] und selbst Fachautoren mit anderem – z. B. tiefenpsychologischem – Hintergrund den Begriff unterschiedlich verwenden. Sie verstehen darunter etwa

  1. eine Bindungsstörung und als Defizit, Gefühle zu mentalisieren,[6]
  2. ein neuropsychologisches Defizit der Affektregulation,[7]
  3. eine Symbolisierungsstörung der sprachlichen Sozialisation,[8] oder
  4. ein Gegenübertragungsphänomen in der therapeutischen Beziehung.[9]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • B. Brosig, J. P. Kupfer, M. Wölfelschneider, E. Brähler: Prävalenz und soziodemographische Prädiktoren der Alexithymie in Deutschland – Ergebnisse einer Repräsentativerhebung. In: Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie. 52, 2004, S. 237–251.
  • H. Gündel, A. O. Ceballos-Baumann, M. von Rad: Aktuelle Perspektiven der Alexithymie. In: Nervenarzt. 71, Nr. 3, 2000, S. 151–163.
  • K. D. Hoppe: Zur gegenwärtigen Alexithymie-Forschung. Kritik einer „instrumentalisierenden“ Kritik. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse. 43, 1989, S. 1029–1043.
  • J. Kupfer, B. Brosig, E. Brähler: Toronto-Alexithymie-Skala-26. Deutsche Version. Hogrefe Verlag, Göttingen/ Bern 2001.
  • P. Marty, M. de M’Uzan: Das operative Denken (”pensée opératoire”). In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse. 32, 1978, S. 974–984.
  • Michael von Rad (Hrsg.): Alexithymie. Empirische Untersuchungen zur Diagnostik und Therapie psychosomatisch Kranker. Springer, Berlin 1983, ISBN 3-540-12141-2.
  • J. C. Nemiah, P. E. Sifneos: Affect and fantasy in patients with psychosomatic disorders. In: O. W. Hill (Hrsg.): Modern Trends in Psychosomatic Medicine Band 2. Butterworths, London 1970, S. 26–34.
  • J. C. Nemiah, H. Freyberger, P. E. Sifneos: Alexithymia: A view of the psychosomatic process. In: O. W. Hill (Hrsg.): Modern Trends in Psychosomatic Medicine. Band 3. Butterworths, London 1976, S. 430–439.
  • B. Weidenhammer: Überlegungen zum Alexithymiebegriff: Psychischer Konflikt und sprachliches Verhalten. Ein Beitrag zur Phänomenologie. In: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. 1986; 32, S. 60–65.
  • G. J. Taylor, R. M. Bagby, J. D. A. Parker: The alexithymia construct: a potential paradigm for psychosomatic medicine. In: Psychosomatics. 32, 1991, S. 153–164.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wiktionary: Gefühlsblindheit – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Otto F. Kernberg: Narzissmus: Grundlagen – Störungsbilder – Therapie. Schattauer Verlag, 2006, ISBN 3-7945-2241-9, S. 557 ff. (books.google.com).
  2. a b Stichwort Alexi|thymie. In: Duden. Das Wörterbuch medizinischer Fachausdrücke. Software für PC-Bibliothek. Bibliographisches Institut, Mannheim
  3. Hans Morschitzky: Angststörungen: Diagnostik, Konzepte, Therapie, Selbsthilfe. Springer, 2009, ISBN 978-3-211-09448-8, S. 324 ff. (books.google.com).
  4. Matthias Franz: Vom Affekt zum Mitgefühl: Entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Aspekte der emotionalen Regulation am Beispiel der Alexithymie. (Memento vom 2. Oktober 2013 im Internet Archive) (PDF; 86 kB)
  5. V. Hackenbroch: Blind für Wut und Freude. In: Der Spiegel. 1. Dezember 2003.
  6. A. Fossati, E. Acquarini, J. A. Feeney, S. Borroni, F. Grazioli, L. E. Giarolli, G. Franciosi, C. Maffei: Alexithymia and attachment insecurities in impulsive aggression. In: Attachment & human development. Band 11, Nummer 2, März 2009, S. 165–182, ISSN 1469-2988. doi:10.1080/14616730802625235. PMID 19266364.
  7. M. Wölfelschneider: Psychoimmunologische und psychoendokrinologische Aspekte der Affektverarbeitung am Beispiel des psychodynamischen Konstrukts der Alexithymie. Universität Gießen 2009. (Dissertation)
  8. O. Decker: Der Prothesengott. Subjektivität und Transplantationsmedizin. Dissertation. Universität Kassel 2002.
  9. Michael Abele, Andres Ceballos-Baumann: Bewegungsstörungen. Georg Thieme Verlag, 2005, ISBN 3-13-102392-9, S. 176 ff. (books.google.com).