Helmuth Plessner

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Helmuth Plessner (* 4. September 1892 in Wiesbaden; † 12. Juni 1985 in Göttingen) war ein deutscher Philosoph und Soziologe sowie ein Hauptvertreter der Philosophischen Anthropologie.

Leben

1910 begann er ein Studium der Medizin u. Zoologie u.a. bei Hans Driesch, später der Philosophie in Freiburg im Breisgau, Göttingen und Heidelberg. Zu seinen Lehrern gehörten Windelband und Husserl, entsprechend sind seine Gedanken beeinflusst vom Neukantianismus und von der Phänomenologie. 1913 erscheint seine erste philosophische Publikation: „Die wissenschaftliche Idee, ein Entwurf über ihre Form“. 1916 folgt seine philosophische Dissertation (Erlangen): „Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfängen“. 1920 erhält er eine Privatdozentur für Philosophie und Habilitation an der neuen Universität Köln: „Untersuchung zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft“. Mit „Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes“ (1923) kündigt sich ein weiterer Schwerpunkt seines Denkens an. 1924 erscheint die bald wirkungsmächtige sozialphilosophische Studie „Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus.“ 1926 wird er außerordentlicher Professor in Köln in nächster Umgebung zu Max Scheler. 1928 erscheint sein Hauptwerk: „Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie“. 1931 folgt eine politische Erweiterung dieses Ansatzes: „Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht“.

1933 wird er auf Grund der jüdischen Herkunft seines Vaters aus dem Amt entlassen, er emigriert zunächst nach Istanbul, dann flieht er mit Hilfe des Anthropologen F. J. J. Buytendijk nach Groningen, Niederlande, wo er Soziologie lehrt. Aus einer Vorlesungsreihe entsteht die Schrift „Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche“ (1935). Diese erlangte später unter dem Titel Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (1959) Berühmtheit. 1941 erscheint sein Buch Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens, das die anthropologische Richtung seines Denkens weiterführt.

1940 taucht Plessner nach der deutschen Besetzung der Niederlande unter. 1946 erhält er in Groningen eine ordentliche Professur für Philosophie. 1952–61 ist er Professor an dem neu gegründeten Institut für Soziologie in Göttingen. Zwischenzeitlich stand er dem „Institut für Sozialforschung“ vor, also der Frankfurter Schule um Max Horkheimer, Theodor W. Adorno u.a. In dieser Zeit lernte er seine spätere Ehefrau Monika kennen. 1960/61 ist er Rektor der Universität Göttingen. Ein weiterer Schwerpunkt bildet sich mit der empirischen Erforschung der Lebenswelten der Industriearbeit und des Sports.

Danach:

  • Emeritus an der New School of Social Research (New York)
  • Lehrauftrag für Philosophie (Zürich)

Helmuth Plessner publizierte bis zu seinem 82sten Lebensjahr 1975. Vor allem waren es Essays und Artikel und einige mehr oder weniger lange Abhandlungen, die höchst unterschiedliche Felder der Philosophie und Gesellschaft abdeckten, von der Biologie bis zur Ästhetik. Einige Titel seiner Essay-Sammlungen wurden zu geflügelten Worten: „Diesseits der Utopie“ (1966), „Zwischen Philosophie und Gesellschaft“ (1979), „Mit anderen Augen“ (1982).

Helmuth Plessner liegt in Erlenbach in der Schweiz begraben.

Unter seinen Schülern in der Soziologie sind Christian von Ferber und Christian Graf von Krockow zu nennen.

Philosophische Anthropologie

Helmuth Plessner zählt - neben Max Scheler und vor Arnold Gehlen - zu den Hauptvertretern der Philosophischen Anthropologie. Damit ist eine philosophische Strömung benannt, die sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts formierte und eine Neubegründung der Frage nach dem Menschen und seiner Stellung in der Welt, der Geschichte, der Natur unternahm. Sie entwickelte sich in Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Tendenzen dieser Zeit (Phänomenologie, Neukantianismus) sowie mit Naturwissenschaften, besonders der Biologie. Gemeinsam ist den drei Ansätzen, dass sie eine Sonderstellung des Menschen behaupten und damit gewissermaßen "antidarwinistisch" argumentieren. Anders als Scheler fragt Plessner nicht nach einem überzeitlichen Wesen des Menschen; anders als Gehlen bestimmt er den Menschen nicht primär als „Mängelwesen“ (so Gehlens, von Herder übernommenes Grundwort).

Plessners Anthropologie, die er systematisch in seinem Werk "Die Stufen des Organischen und der Mensch" entwickelt hat, bildet sich um die Grundkategorie der Exzentrischen Positionalität. Sie lässt sich anhand zweier Leitfragen rekonstruieren.

1. Was unterscheidet belebte von unbelebten Phänomenen?

2. Wie organisieren sich lebendige Phänomene?

Die erste Antwort findet sich im Begriff der Grenze: im Unterschied zu anorganischen Körpern haben Organismen ein Verhältnis zu ihrer Umwelt, das über ihre Grenze reguliert wird. Pflanzen und Tiere sind "grenzrealisierende" Wesen. Die zweite Antwort liegt im Begriff der Position: Plessner unterscheidet die drei Organisationsformen (oder „Stufen“) des Lebendigen: Pflanze, Tier und Mensch, nach ihrer jeweiligen Positionalität. Pflanzen sind offen organisiert, sie haben keine zentralen Organe. Tiere sind zentrisch organisiert: sie leben aus einem Mittelpunkt heraus. Die Organisationsform des Menschen ist dagegen exzentrisch, weil der Mensch jederzeit in ein reflexives Verhältnis zu seinem Leben treten kann. Ein Moment dieses reflexiven Verhältnisses bildet das Selbstbewusstsein, das Plessner nicht wie in der philosophischen Tradition üblich als geistiges Phänomen behandelt, sondern aus seiner biologischen Wurzel heraus entwickelt. Er analysiert diese Organisationsweise als Doppelaspekt: als Menschen haben wir einen Körper und sind zugleich ein Leib. Die weitere Analyse der Exzentrischen Positionalität führt Plessner zu den (zunächst) drei von ihm so genannten "anthropologischen Gesetzen":
1. Das Gesetz von der natürlichen Künstlichkeit,
2. das Gesetz von der vermittelten Unmittelbarkeit,
3. das Gesetz vom utopischen Standort.
Entsprechend dieser Dreiteilung erschließt sich dem Menschen die Welt als Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt, die wiederum die Dimensionen der Kultur, der Geschichte und der Gesellschaft aufreißen. In der späteren Schrift "Macht und menschliche Natur" findet Plessner noch ein weiteres anthropologisches Gesetz,
4. das Gesetz der Unergründlichkeit des Menschen,
das die Dimension des Politischen öffnet.

Plessner gelangt also, ausgehend von einer Interpretation biologischer Sachverhalte, zu einer philosophischen Fundierung der Soziologie und verwandter Wissenschaften.

Der oft gehörte Einwand, anthropologisches Denken kreise um einen ahistorischen Wesensbegriff des Menschen, verfängt in seinem Fall also nicht. Vielmehr besagt der Begriff des Gesetzes, dass wir Menschen aufgrund unserer leiblichen Verfassung (Ausstattung, Verwurzelung) darauf angewiesen sind, uns zur Welt hin zu öffnen und sie "künstlich", geschichtlich und gesellschaftlich zu gestalten.

Als besonderes Verdienst Plessners sei noch einmal explizit auf seine Durchdringung des Konflikts in Natur- und Geisteswissenschaften hingewiesen, welcher aus der Unvereinbarkeit von subjektiver und objektiver Perspektive entsteht. Die Ursache dieses Konfliktes erkennt Plesser in der falschen Umgangsweise mit der "Doppelaspektivität" der menschlichen Grundsituation: Dass der Mensch eben zugleich sein Körper/seine physische Existenz ist und diese hat, dass er zugleich um sich als Geistwesen und als Körperding weiß. Seit Descartes bewältigt das abendländische Denken diese Schwierigkeit dergestalt, dass es sich vor die Entscheidung eines Primats des Geistigen oder des Physischen gestellt sieht (Subjekt-Objekt-Spaltung). Das tradierte Denken verabsolutiert die geistige und die körperliche Erfahrungswelt, anstatt beide in jedem Moment aufeinander bezüglich bzw. ineinander verschränkt zu denken. Die Spaltung in Naturansicht und Bewusstseinsansicht aber zerreißt die Natur- und Geisteswissenschaften ebenso, wie sie das naturgemäß ganzheitliche Selbstbild des Menschen irritiert, womit nicht zuletzt moderne Identitätskrisen zu begründen wären.

Plessner begegnet diesen Problemen, indem er konsequent die doppelte Perspektive der Verschränktheit beibehält. Seine auf biologischen Tatsachen aufbauende Philosophie wiederholt beständig die Einsicht in die paradoxe Grundverfasstheit menschlichen Selbst- und Welt-Erlebens.

Wirkungen

Zu seinen Lebzeiten wurde Plessners Werk nicht angemessen gewürdigt. Einige seiner Schriften galten als Geheimtip oder wurden nur in Fachkreisen rezipiert. Insbesondere das Hauptwerk „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ aus dem Jahr 1928 stand lange im Schatten von Martin Heideggers ein Jahr früher erschienenen „Sein und Zeit“. Andere von Plessners Titeln machten eher anonym die Runde: „Die verspätete Nation“, „Diesseits der Utopie“. Erst mit Herausgabe der zehnbändigen „Gesammelten Schriften“ (1981–1985) hat sich diese Lage geändert. Seither gehört sein Werk zu den meistdiskutierten Denkansätzen des 20. Jahrhunderts, vor allem sein Konzept einer „Philosophischen Anthropologie“, doch auch die weitgestreuten Kreise eines biologisch, soziologisch, politisch, historisch, ästhetisch und ästhesiologisch geöffneten Denkstils.

1999 wurde in Freiburg im Breisgau die Helmuth-Plessner-Gesellschaft gegründet. Plessners Nachlass befindet sich in Groningen.

Werke

  • Die wissenschaftliche Idee, ein Entwurf über ihre Form (1913)
  • Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfängen (1918)
  • Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923)
  • Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924)
  • Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928)
  • Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931)
  • Zur Anthropologie des Schauspielers (1948)
  • Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941)
  • Das Lächeln (1950)
  • Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (1959, ursprünglich 1935)
  • Die Frage nach der Conditio humana (1961)
  • Die Emanzipation der Macht (1962)
  • Anthropologie der Sinne (1970)

Literatur

  • Wolfgang Eßbach: Die exzentrische Position des Menschen. In: Freiburger Universitätsblätter. Anthropologie als Natur- und Kunstgeschichte des Menschen. Nr. 139, 1998, S. 143–151.
  • Wolfgang Eßbach: Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie. In: . Dux und U. Wenzel (Hrsg.): Der Prozeß der Geistesgeschichte. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994, S. 15–44.
  • Kai Haucke: Plessner zur Einführung. Junius, Hamburg 2000, ISBN 3-88506-326-3.
  • Kersten Schüßler: Helmuth Plessner. Eine intellektuelle Biographie. Philo, Berlin [u.a.] 2000.
  • Carola Dietze: Nachgeholtes Leben. H. P. 1892-1985 Wallstein, Göttingen 2006 (kritisch zu P. - Rezension: [1]
  • Stephan Pietrowicz: Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-antropologischen Denkens. Alber, 1992, ISSN 3-4954-7720-9(?!).

Weblinks