Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS

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Traditionsträger „HIAG Ostsachsen“ im Rahmen des Ulrichsbergtreffens am Ulrichsberg 2003

Die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS e. V. (HIAG) wurde 1951 als „Traditionsverband“ in der Bundesrepublik Deutschland gegründet. Die Gründer, Funktionäre und Redner waren verschiedene Offiziere der Waffen-SS. Der Bundesverband löste sich 1992 auf, regionale Organisationen existieren aber vereinzelt weiter. Die HIAG wurde zeitweilig als rechtsextremistisch vom Verfassungsschutz beobachtet und war bei der Bevölkerung und in den Medien ab den 1960er Jahren zunehmend umstritten. Eines der erklärten Ziele der HIAG war die Änderung der gesellschaftlichen und juristischen Wahrnehmung der Angehörigen der Waffen-SS als normale Soldaten.

Verein[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Organisation und Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der ehemalige SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS Otto Kumm gilt als Gründer der HIAG.

Die HIAG war zunächst dezentral organisiert, doch wurde diese Struktur noch in den 1950er Jahren aufgehoben. Das Ziel der „Hilfsgemeinschaft“ war die rechtliche Gleichstellung der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS mit den Soldaten der Wehrmacht und die Rehabilitierung der Waffen-SS. Die Vereinigung war tragendes Mitglied im Verband deutscher Soldaten und übte einen großen Einfluss im Netzwerk der Soldaten- und Traditionsverbände aus.

Ab November 1951 erschien der Wiking-Ruf als Sprachrohr der HIAG. Er wurde 1956 von der ebenfalls monatlich erscheinenden Zeitschrift Der Freiwillige abgelöst. Sie erschien in einer Höchstauflage von 12.000 Exemplaren, 1992 waren es noch 8.000. Der Herausgeber war Erich Kern. Die Zeitschrift erschien bis 2014 im Munin-Verlag.[1] Hauptinhalte dieser Publikation waren die Darstellung der Waffen-SS als normale kämpfende Truppe und Militärnostalgie; daneben fanden sich auch geschichtsrevisionistische Artikel, die nicht allein die Geschichte der Waffen-SS betreffen.

Die HIAG hatte von ihrer Gründung bis in die 1970er Jahre nicht nur erheblichen Einfluss im Netzwerk der Soldaten- und Traditionsverbände, sondern pflegte auch intensive Kontakte zu den im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Sie erreichte so für die ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS deren „Rehabilitierung“ und uneingeschränkte Rentenversorgung, während die Parteien im Gegenzug hofften, durch solche Zugeständnisse die Mitglieder und Anhänger der HIAG in die demokratische Gesellschaft zu integrieren und ihre Wählerstimmen zu gewinnen. Erst in den 1980er Jahren kam es zur Distanzierung: CDU-Bundestagsabgeordnete beendeten ihre Mitarbeit; die SPD beschloss die Unvereinbarkeit, da die HIAG „dazu beiträgt, nationalsozialistisches Gedankengut zu vertreten bzw. zu verharmlosen“.[2]

Bei der Auflösung des HIAG-Bundesdachverbandes 1992 waren diesem zwölf Landesverbände, zwölf Truppen- und zahlreiche Kreiskameradschaften angegliedert. Dem letzten Bundesvorstand gehörten 1992 Hubert Meyer, August Hoffmann und Johann Felde an. Bis zu dieser Zeit war die Bundesführung „Beobachtungsobjekt“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz, und es wurden gezielt Informationen im Sinne der §§ 3, 4 des Bundesverfassungsschutzgesetzes gesammelt und ausgewertet. 2015 gelangte das Schriftgut der HIAG ins Bundesarchiv, das Archiv nennt als Datum der endgültigen Auflösung den 31. Dezember 1994.[3]

Einige Landesverbände und regionale Kameradschaften der HIAG sowie die 1993 gegründete „Kriegsgräberstiftung ‚Wenn alle Brüder schweigen‘“ werden weitergeführt. Diese Stiftung mit Sitz in Stuttgart wird von dem Vorsitzenden August Hoffmann, dem stellvertretenden Vorsitzenden Heinz Berner und dem Schatzmeister Werner Bitzer geleitet. Ihre Aufgabe ist nach eigenem Bekunden in erster Linie, „Soldatengräber im In- und Ausland – besonders unserer Truppe – zu suchen, zu sichern und die Grabanlagen dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge mitzuteilen“.

In einer Besprechung des 2011 erschienenen Buchs Die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ (HIAG) 1950–1990. Veteranen der Waffen-SS in der Bundesrepublik von Karsten Wilke heißt es auf Literaturkritik.de: „Im Gegensatz zu den Bemühungen des Bundesvorstandes um einen demokratischen Anschein sind die Binnenstruktur und insbesondere die Akteure an der Basis deutlich nationalsozialistisch geprägt gewesen, wo „antidemokratische, rassistische und antisemitische Positionen“ die Regel waren.“[4]

Abgrenzungen gegen Kriegsverbrechen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Abgrenzung und Zurückweisung des Vorwurfs von Kriegsverbrechen ist ein durchgehendes Thema der HIAG. Schon der Vereinsname ist eine Positionierung gegen die Allgemeine SS, der in der Praxis nicht durchgehalten wurde. Obwohl der Vereinsname sich auf die „ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS“ bezieht und damit die HIAG als militärischen Veteranenverein positioniert, waren in ihr auch Mitglieder der Totenkopfverbände oder des SD organisiert.[5] Eine Ursache hierfür ist sicher die relative Durchlässigkeit der einzelnen SS-Teile.[6] So war etwa Theodor Eicke zunächst als Kommandant des KZ Dachau und als Inspekteur der Konzentrationslager maßgeblich am Aufbau der deutschen Konzentrationslager beteiligt. Später war er Kommandeur der SS-Division Totenkopf, die aus den Wachverbänden der Konzentrationslager entstanden war. Ein Traditionstreffen der SS-Division Totenkopf mit der HIAG fand etwa 1979 statt.[7]

Umgang mit Kriegsverbrechern[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Kurt Meyer, der 1959 der Sprecher der HIAG wurde,[8] wehrte Kritik, dass die HIAG auch die SS-Totenkopfverbände und den SD vertrete, ab: „Wo das Verbrechen anfängt, hört die Kameradschaft auf.“[9] Gegen diese Selbstdarstellung spricht, dass Meyer selbst wegen der Ermordung kanadischer Kriegsgefangener als Kriegsverbrecher verurteilt worden war. Auch andere Funktionäre der HIAG, wie etwa Otto Kumm, Sepp Dietrich oder Richard Schulze-Kossens, waren an Kriegsverbrechen beteiligt und zum Teil rechtskräftig verurteilt worden.

Die HIAG schloss keinen Truppenführer der Waffen-SS wegen begangener Kriegsverbrechen oder anderer Verbrechen aus der Kameradschaft aus.[10] Im April 1975 feierte die HIAG den 80. Geburtstag des SS-Generals Gustav Lombard, der die Bezeichnung „Entjudung“ für die von ihm organisierte Ermordung der jüdischen Bevölkerung in den deutschbesetzten Gebieten Osteuropas geprägt hatte.[11]

Die HIAG setzte sich für inhaftierte Kriegsverbrecher ein. Beispielsweise 1960 bat sie in einer Anzeige in Der Freiwillige um Spenden, Päckchen und Post für drei „Kriegsgefangene in Italien“.[12] Dabei handelte es sich um die beiden SS-Sturmbannführer und verurteilten Kriegsverbrecher Walter Reder[13] und Herbert Kappler[14] sowie um Josef Feuchtinger, gegen den als Täter des Massakers von Bassano del Grappa ermittelt wurde.[15]

Die HIAG war neben der Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger als Teil der „Kriegsverbrecherlobby“ (Westemeier) maßgeblich an der Konstruktion des „Peiper-Mythos“ beteiligt. Joachim Peiper sei ein hervorragender Offizier und untadliger Mensch gewesen. „Alte Kameraden“ in der HIAG wie Kurt Meyer und Rudolf Lehmann konstruierten die Geschichte des „letzten Gefallenen der Leibstandarte“, dabei wurden die von Peiper beim Malmedy-Massaker zu verantwortenden Kriegsverbrechen negiert. Zentrales Beweismittel der HIAG waren Zitate aus Paul Haussers Buch „Waffen-SS im Einsatz“. Eine besondere Verehrung hatte Peiper im Nationalsozialismus nicht erfahren, der „Peiper-Mythos“ beruht auf dieser Nachkriegsarbeit.[16]

Die HIAG übernahm auch die Betreuung von inhaftierten und verurteilten SS-Männern, die in KZ gedient hatten, etwa für Walter Haassengier und Herbert Hartung, die verantwortlich für den Tod von Häftlingen im KZ Gusen II waren, oder Johann Haider und Michael Heller, die für Quälereien und Morde im KZ Mauthausen verurteilt worden waren.[17]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Bert-Oliver Manig: Die Politik der Ehre. Die Rehabilitierung der Berufssoldaten in der frühen Bundesrepublik. Wallstein Verlag, Göttingen 2004, ISBN 3-89244-658-X.
  • Karsten Wilke: Geistige Regeneration der Schutzstaffel in der frühen Bundesrepublik? Die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS“ (HIAG). In: Jan Erik Schulte (Hrsg.): Die SS, Himmler und die Wewelsburg. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2009, ISBN 978-3-506-76374-7, S. 433–448.
  • Karsten Wilke: Die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit (HIAG) 1950–1990. Veteranen der Waffen-SS in der Bundesrepublik. Schöningh, Paderborn / Wien 2011, ISBN 978-3-506-77235-0 (zugleich Dissertation, Universität Bielefeld, 2010).[18]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Karsten Wilke: Verband der Unbelehrbaren? (PDF; 15 kB) Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. VERLAGE: Zielgruppe Waffen-SS. In: Der Spiegel. 17. März 2014, archiviert vom Original; abgerufen am 2. März 2019.
  2. Karsten Wilke: Die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit (HIAG) 1950–1990. Veteranen der Waffen-SS in der Bundesrepublik. Schöningh, Paderborn / Wien 2011, ISBN 978-3-506-77235-0, S. 344 (Zitat) und S. 421–429 (zugleich Dissertation, Universität Bielefeld, 2010).
  3. https://www.archivesportaleurope.net/ead-display/-/ead/pl/aicode/DE-1958/type/fa/id/DE-1958_bdf0561e-2dd1-438d-b937-af7f312693f3
  4. Kurt Schilde: SS-Nachfolgeorganisation Geschichte der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS (HIAG)
  5. John M. Steiner, Jochen Fahrenberg: Autoritäre Einstellung und Statusmerkmale von ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS und SS und der Wehrmacht. Eine erweiterte Reanalyse der 1970 publizierten Untersuchung. (PDF)
  6. Zum Organisationsaufbau auch: Hans Buchheim: Anatomie des SS-Staats. Band 1: Die SS – Das Herrschaftsinstrument. Befehl und Gehorsam. München 1967, S. 179.
  7. Besten Willens. In: Der Spiegel. Nr. 15, 1979 (online).
  8. Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. 2., aktualisierte Auflage. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-596-16048-0, S. 408.
  9. Kurt Meyer 1958 nach: Thomas Kühne: Kameradschaft. S. 245.
  10. Thomas Kühne: Kameradschaft. S. 245.
  11. Abteilungsbefehl Nr. 36 u. 37 vom 9. u. 11. August 1941, BA-MA, RS 4/441.
  12. Anzeige in: Der Freiwillige August. 1960, S. 7.
  13. In einer Beilage von „So sieht es Vocator“ zu Der Freiwillige. Heft 3, März 1968 heißt es: „Major Walter Reder wurde für etwas bestraft, was er nicht getan hat. Er ist kein Kriegsverbrecher!“
  14. Der Freiwillige. Heft 2, Feb. 1968, S. 21–23 gibt außerdem umfangreich eine Broschüre von Rudolf Aschenauer, dem Verteidiger Kapplers wieder.
  15. Gegen Feuchtinger wurde 1963 in Wien ein Prozess wegen des Massakers von Bassano geführt. Siehe: Wehrmachtsverbrechen. Verdächtiger nimmt sich das Leben. In: Frankfurter Rundschau. 26. September 2008.
  16. Jens Westemeier: Himmlers Krieger. Joachim Peiper und die Waffen-SS in Krieg und Nachkriegszeit. Schöningh, Paderborn 2013, S. 619 f.
  17. Jens Westemeier: Himmlers Krieger. Joachim Peiper und die Waffen-SS in Krieg und Nachkriegszeit. Schöningh, Paderborn 2013, S. 474 f.
  18. Rafael Binkowski, Klaus Wiegrefe: Brauner Bluff. In: Der Spiegel. Nr. 42, 2011, S. 44–45 (online17. Oktober 2011, Rezension).