Housing First

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Housing First, auch „rapid re-housing“ genannt, ist ein Ansatz aus der US-amerikanischen Sozialpolitik beim Umgang mit Obdachlosigkeit und eine Alternative zum herkömmlichen System von Notunterkünften und vorübergehender Unterbringung. Er entstand aus dem 1999 entwickelten Consumer Preference Supported Housing-Modell.[1] In Finnland wird dieses Projekt konsequent umgesetzt. Auch in Deutschland, Großbritannien, Dänemark, Frankreich, Portugal und Österreich wird der Ansatz erprobt.

Definition[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das zumeist bestehende Stufenmodell, in dem ein Umzug zwischen verschiedenen Wohnformen vorgesehen ist (beispielsweise von wohnungslos zum Nachtquartier zum Übergangswohnen und dann erst in die eigene Wohnung) bedeutet zwar, dass auch hier am Ende die eigene Wohnung steht. Jedoch ist zumeist vorgesehen, dass mit dem Einzug in die eigene Wohnung auch die Unterstützung endet. Im Unterschied zu anderen Programmen müssen sich die Obdachlosen im Rahmen von Housing First nicht durch verschiedene Ebenen der Unterbringungsformen für unabhängige und dauerhafte Wohnungen qualifizieren, sondern können direkt in eine eigene Wohnung ziehen.

Die Unterstützung wird bedarfsgerecht in der eigenen Wohnung kontinuierlich angeboten. Zudem wird auch keine Abstinenz von Alkohol oder anderen Substanzen als Voraussetzung verlangt. Unterstützung und Programme können in Anspruch genommen werden, sind aber nicht verpflichtend.[1] Der Ansatz basiert darauf, dass eine obdachlose Person oder Familie als Erstes und Wichtigstes eine stabile Unterkunft braucht und andere Angelegenheiten erst danach angegangen werden können, da die Sicherheit und Stabilität einer eigenen Wohnung die notwendige Grundlage darstellt.[1][2] Die meisten anderen Programme arbeiten hingegen mit einem Modell der Wohnfähigkeit, was bedeutet, dass andere Probleme, die zur Wohnungslosigkeit geführt haben, zuerst behoben werden müssen.

Ergebnisse[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach ersten Studien verringerte sich die Zahl der Menschen, die auf der Straße leben, in Gebieten mit einem solchen Programm um 30 Prozent,[3] sodass sogar die Zahl der Notunterbringungen reduziert werden konnte.[4] Einer Studie zufolge waren 77 Prozent derjenigen, die das Programm begannen, auch noch zwei Jahre später darin.[5] Auch Untersuchungen in Europa kamen zu dem Ergebnis, „dass Wohnstabilität nach 24 Monaten selbst bei Personen mit Doppeldiagnosen und ohne Betreuungsverpflichtung höher ist und seltener Wohnungslosigkeit eintritt als bei Kontrollgruppen mit einer Abstinenzvoraussetzung“[6]. Dabei verbessert sich nicht nur der Gesundheitszustand der Programmteilnehmer,[5] auch der Alkoholkonsum und die Kriminalitätsrate sinken, während die Bereitschaft für Therapieangebote steigt.[7] Für die Gemeinden bedeutet dies auch eine signifikante Kostenreduktion durch Rückgang von Inhaftierungen, aber vor allem durch die sinkende Nutzung von Rettungsdiensten und anderen medizinischen Versorgungsleistungen. „Selbst wenn man die Ausgaben für die Unterkunft miteinbezieht, halbierten sich die Gesamtkosten.“[7]

Deutschland[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Erschwerend wirkt in Deutschland der überreizte Wohnungsmarkt: zu wenig Angebot und zu teuer. Vor allem fehlen Sozialwohnungen, da gingen in den letzten Jahren 150.000 bis 200.000 Wohnungen pro Jahr verloren. Zwar hat die Regierung den Bau von jährlich 400.000 Wohnungen versprochen, davon 100.000 Sozialwohnungen, und dafür jährlich zwei Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Aber davon wurden im ersten Jahr lediglich 263.000 Wohnungen gebaut, davon unter 15.000 Sozialwohnungen.[8] Für den sozialen Wohnungsbau sind die Bundesländer zuständig. Das Baurecht ist sehr kompliziert und in jedem Bundesland anders. Baubehörden haben lange Bearbeitungszeiten für Bauanträge, Baufirmen fehlt Material und Personal. Wegen steigenden Preisen werden zunehmend geplante Projekte abgebrochen.

[9]

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neue Sozialwohnungen
2019 25.500
2020 23.073
2021 22.000
2022 ? 20.000[10]

Berlin[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Berlin begannen im Oktober 2018 das auf drei Jahre angelegte Modellprojekt Housing First Berlin und das Projekt Housing First für Frauen. Die vorgegebene Zahl von 80 Obdachlosen, die in eigenen Wohnraum vermittelt werden sollten, konnte in der Modellprojektphase sogar übertroffen werden. Nur einem einzigen von den 40 ehemals Obdachlosen musste in den drei Jahren gekündigt werden. In Berlin dürfen die beiden Housing-First-Projekte im Gegensatz zu Housing First Finnland nicht selbst bauen.

Nach Ablauf der Modellprojekte im Jahr 2021 werden beide Projekte weiterfinanziert und konnten bis März 2023 ca. 120 obdachlose Menschen in eigenen Wohnraum bringen.[11]

Düsseldorf[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Vor allem durch Fördergelder des Landes NRW konnte der lokal tätige Sozialarbeitsverein Fiftyfifty zwischen 2014 und 2022 in Düsseldorf 54 Kleinwohnungen für die dauerhafte Vergabe an ortsansässige Dauerobdachlose ankaufen. Die zeitlich limitierte Landesförderung ist allerdings zum Jahresende 2022 ausgelaufen.[12] Mit der Gründung eines lokalpolitischen Vereins „Housing First Düsseldorf e.V.“ im Oktober 2021 hat die Stadt Düsseldorf die Finanzierung von zwei Sozialarbeiterstellen fest zugesagt und sich wissenschaftliche Evaluation durch den Fachbereich Sozialarbeit der Hochschule Düsseldorf gesichert. Bei dessen Konzept-Erstellung und -Umsetzung sind neben Fiftfifty mit von der Partie außerdem ein Notar, der Geschäftsführer der Düsseldorfer Drogenhilfe sowie sozial eingestellte Personen aus der lokalen Kultur und Geschäftswelt. Gesucht werden weitere Unterstützer sowie mehr Wohnungen.[13]

Nürnberg[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Housing First in Nürnberg ist ein Gemeinschafts-Projekt von Straßenkreuzer (Obdachlosenzeitung), Mudra (Jugend- und Drogenhilfe), Lilith (Drogenhilfe für Frauen) und Hängematte (Notschlafstelle). Auch hier fehlen Wohnungsgeber.[14]

Finnland[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Finnland will bis 2027 Wohnungslosigkeit beseitigt haben. Mit dem Programm Housing First werden Wohnungen dauerhaft bereitgestellt. Die erforderlichen Wohnungen stellt die gemeinwohlorientierte Stiftung Y-Säätiö, eine der vier größten Wohnungsanbieter in Finnland, zur Verfügung oder baut sie neu. Eine Herausforderung ist es auch in diesem Ansatz, gewalttätige Menschen und junge Drogenabhängige aus der Obdachlosigkeit zu holen. Hierzu erklärte der Geschäftsführer Juha Kaakinen in einem Interview, dass es manche Bewohner gibt, für die ein Betreuungsschlüssel von 2:1 erforderlich ist, dass dieser Aufwand in Finnland gegebenen Falles aber auch betrieben wird, da eine Wohnung als Teil der Menschenwürde angesehen wird.[15]

Österreich[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Housing First als innovativen Ansatz in der Sozialarbeit mit obdachlosen Menschen wurde von neunerhaus gemeinsam mit dem Fonds Soziales Wien im Rahmen einer Pilotphase zwischen 2012 und 2015 erstmals in Wien getestet. Aufgrund des Erfolgs dieser dreijährigen Testphase – 98 Prozent der insgesamt 131 betreuten Menschen wohnten stabil in ihrer eigenen Wohnung mit Betreuung durch neunerhaus – ist Housing First heute ein fixer Bestandteil der Wiener Wohnungslosenhilfe.[16]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Dokumentationen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c Sam Tsemberis, Sara Asmussen: From Streets to Homes: The Pathways to Housing Consumer Preference Supported Housing Model. In: Alcoholism Treatment Quarterly. Band 17, Nr. 1-2, 12. August 1999, ISSN 0734-7324, S. 113–131, doi:10.1300/J020v17n01_07.
  2. Patricia M. Chen: Housing First and Single-Site Housing. In: Social Sciences. Band 8, Nr. 4, 24. April 2019, ISSN 2076-0760, S. 129, doi:10.3390/socsci8040129.
  3. Rachel L. Swarns: U.S. Reports Drop in Homeless Population. In: nytimes.com. 30. Juli 2008, abgerufen am 14. Januar 2023 (englisch).
  4. Monica Brady-Myerov: Homelessness On The Decline In Boston. WBUR Radio Boston, 29. September 2010, abgerufen am 16. April 2011 (englisch).
  5. a b Jennifer Perlman, John Parvensky: Denver Housing First Collaborative. Cost Benefit Analysis and Program Outcomes Report. (PDF; 85,82 kB) Colorado Coalition for the Homeless, 11. Dezember 2006, abgerufen am 16. April 2011 (englisch).
  6. Housing First – Ein neuer Weg aus der Armut. In: staedtebund.gv.at. Österreichischer Städtebund, 24. Dezember 2009, abgerufen am 5. April 2018.
  7. a b Alkoholismus: “Housing first” senkt Versorgungskosten. In: aerzteblatt.de. Deutsches Ärzteblatt, 1. April 2009, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 5. April 2018; abgerufen am 5. April 2018.
  8. Bundesbaupolitik – Mehr bezahlbare und klimagerechte Wohnungen schaffen. In: bundesregierung.de. 17. Februar 2022, abgerufen am 9. Februar 2023.
  9. Daten von Statista
  10. Wohnungswirtschaft GdW rechnet mit etwa 20.000 neuen Sozialwohnungen
  11. Marc Grube: Berliner Modell „Housing First“ vermeldet Erfolg. In: housingfirst.berlin. 17. Januar 2022, abgerufen am 21. November 2022.
  12. WDR-Video „Mit der Wohnung kam der Neuanfang“ auf YouTube aus der Sendung Westpol vom 11. Dezember 2022, abgerufen am 3. Februar 2023
  13. „Die Geschichte hinter dem Verein“, housingfirstduesseldorf.de vom 26. September 2022, abgerufen am 3. Februar 2023
  14. Housing First jetzt auch in Nürnberg: Schnelle Hilfe für Obdachlose. In: frankenfernsehen.tv. 31. Januar 2022, abgerufen am 11. April 2023 (Video, 5:01 Minuten).
  15. Jan Petter: „Housing First“ in Finnland Dieser Mann schafft die Obdachlosigkeit ab. In: spiegel.de. 23. April 2021, abgerufen am 29. April 2021.
  16. Susi Schmatz,Claudia Sorger, Lisa Danzer: Housing First - Pilotprojekt. (PDF) In: neunerhaus.at. L&R Sozialforschung im Auftrag von neunerhaus, 2015, abgerufen am 12. Januar 2022.