Implizites Wissen

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Implizites Wissen oder stilles Wissen (vom englischen tacit knowledge) bedeutet – vereinfacht ausgedrückt – „können, ohne sagen zu können, wie“. Jemand „weiß, wie es geht“, aber sein Wissen steckt implizit in seinem Können, ihm fehlen die Worte, um dieses Können zu beschreiben oder es anderen verbal zu vermitteln. Ein Beispiel dafür ist die Fähigkeit, auf dem Fahrrad das Gleichgewicht zu halten. Wer das vermag, kennt – aber eben nur implizit – eine komplexe physikalische Regel, die Neigungswinkel, aktuelle Geschwindigkeit, Kreisel­gesetze und Lenkeinschlag berücksichtigt. Implizites Wissen wird im SECI-Modell dem Expliziten Wissen gegenübergestellt und wird oft durch implizites Lernen erworben.[1] Embodied Knowledge ist als Sonderform des impliziten Wissens zu verstehen.

Innerhalb der Soziologie ist der Begriff des impliziten Wissens zentral für die Praxeologie, die das Soziale als maßgeblich durch körperliche Praktiken – und damit auch stark durch implizites (Körper-)Wissen – gestaltet ansieht.

Definition

Schon im alltäglichen Gebrauch des Wissensbegriffs wird unterschieden zwischen explizitem und implizitem Wissen. Dass jemand weiß, wie man die Blätter des Bärlauchs von den ähnlichen Blättern des Maiglöckchens unterscheidet, kann einerseits bedeuten, dass er zwar exakt formulieren und „sagen“ kann, worin die markanten Unterschiede liegen (ohne die Blätter notwendigerweise selbst dann auch praktisch unterscheiden zu können). Sein Wissen ist dann explizit. Zu wissen, wie man unterscheidet, kann aber auch bedeuten, dass man das eine vom anderen sicher unterscheiden kann, ohne die Unterscheidungsmerkmale aufzählen zu können. Dann 'steckt' das fragliche Wissen gleichsam im praktischen Können, es ist implizit.

Eine präzisere Definition muss einerseits darauf Bezug nehmen, dass die gekonnt ausgeübte Praxis die eines Einzelmenschen, aber auch die einer ganzen Gruppe oder Organisation sein kann, und andererseits darauf, dass Wissen nur für den Könner oder aber auch für den Beobachter implizit sein kann. Implizites Wissen ist dann definiert als in gelingender individueller oder organisationaler Praxis zur Schau gestelltes, durch die Akteure und unter Umständen auch durch den analysierenden Beobachter jedoch nicht oder nicht vollständig oder angemessen explizierbares (verbalisierbares, objektivierbares, formalisierbares, technisierbares) Wissen.

Der bisweilen nahezu synonym verwendete Begriff Alltagswissen liegt quer zum Konzept des impliziten Wissens. Zum einen liegt Alltagswissen vielfach in expliziter Form vor, zum anderen sind Teile des Wissenschaftswissens implizit, worauf neben Thomas S. Kuhn gerade auch Michael Polanyi immer wieder hingewiesen hat.

Ursprung

Der Begriff des impliziten Wissens geht auf den Naturwissenschaftler und Philosophen Michael Polanyi[2][3] zurück. Dieser verwendete allerdings nicht den Begriff „tacit knowledge“, sondern sprach von tacit knowing. Besser als in der deutschen Übersetzung („implizites Wissen“) wird dadurch deutlich, dass das Interesse nicht primär dem Wissen, vielmehr der „Könnerschaft“[4] gilt, nicht kognitiven Strukturen also, sondern mentalen Prozessen. Der Blick richtet sich auf Wahrnehmungs-, Entscheidungs- und Handlungsdispositionen und die ihnen entsprechenden Formen der mehr oder weniger intuitiven Performanz­regulation (knowing). Erst von dort her wird im „tacit knowing view“ auf die Beziehung zwischen explizitem Wissen (knowledge) und diesem Können zurückgefragt. Die Hypothese lautet, dass das theoretische Wissen das praktische Können niemals vollständig einholen kann. „Wir wissen mehr, als wir zu sagen vermögen“, meinte Michael Polanyi.[3]

Bedeutungsschattierungen

Bei näherer Betrachtung lassen sich vier Bedeutungen des Konzeptes „implizites Wissen“ unterscheiden, die im Folgenden kurz durch Beispiele illustriert werden sollen:[5]

in actu implizit (intuitiv)
Eine Person handelt kompetent, ruft sich während des Handelns aber keine Handlungsregeln in Erinnerung, sondern agiert „automatisch“, „spontan“ oder „intuitiv“. Beispiel: Gedankenverloren bindet Hans Müller frühmorgens seine Krawatte, ohne sich daran erinnern zu müssen, wie das genau geht.
nicht verbalisierbar
Eine Person handelt kompetent, ruft sich während des Handelns aber keine Handlungsregeln in Erinnerung, sondern agiert „automatisch“, „spontan“ oder „intuitiv“. Auch im Nachhinein kann sie auf Anfrage keine solchen Regeln benennen. Beispiel: Während Hans Müller seinem Sohn beim Frühstück durch einiges Nachdenken die Regeln des Krawattenbindens erläutern kann, scheitert er an folgender Frage seines Sohnes: „Papa, warum sagt man eigentlich laufen/gelaufen, aber nicht studieren/gestudiert?“ Obwohl Herr Müller das zweite Partizip Perfekt ständig richtig bildet, kann er die Regel, die er implizit kennt, nicht verbalisieren.
nicht formalisierbar
Eine Person handelt kompetent, ruft sich während des Handelns aber keine Handlungsregeln in Erinnerung, sondern agiert „automatisch“, „spontan“ oder „intuitiv“. Auch im Nachhinein kann sie auf Anfrage keine solchen Regeln benennen. Das gilt aber nicht nur für den Handelnden, sondern auch für Beobachter, die versuchen, das fragliche Können über Regeln zu beschreiben. Beispiel: Müllers Kompetenz, das zweite Partizip Perfekt anzuwenden, ist zwar für ihn selbst nicht verbalisierbar. Aber ein Germanist kann die Regel nennen. Anders ist dies für eine andere Fähigkeit von Hans Müller. Er ist ungemein humorvoll und erfindet ständig neue Witze. Bis heute ist es nicht gelungen, Maschinen zu bauen, die ähnlich gute Witze erfinden können – weil niemand formalisieren kann, worin die Witzerfindungskompetenz genau besteht.
erfahrungsgebunden
Damit ist ein Wissen gemeint, das sprachlich nicht oder kaum weitergegeben werden kann. In solchen Fällen muss der Betreffende durch eigene Erfahrung oder am Modell lernen, das ihm vorzeigt, was nicht vorgesagt werden kann. Beispiel: Wer guten Nudelteig machen möchte, kann Rezeptbücher lesen. Aber in diesen Büchern steht offenbar nicht alles, was gute Teigköche wissen, weil dies nicht vollständig verbalisierbar ist oder verwendete Eier unterschiedliche Größen haben können. Das Gefühl für die richtige „Nässe“ des Teigs beispielsweise erwirbt man nur durch Erfahrung.

Messung

Empirisch wird implizites Wissen (in der Bedeutung 3) in der Regel als Differenzgröße zwischen Können und explizitem Wissen aufgefasst und auch entsprechend gemessen. Es wird einerseits erfasst, was eine Person kann, und andererseits gemessen, was sie berichtbar weiß; gleichsam als Differenz ergibt sich dann, was (nur) implizit „gewusst“ wird. Das artikulierte Wissen muss freilich noch daraufhin geprüft werden, ob es auch tatsächlich handlungssteuernd wirkt oder aber nur in der Befragungssituation geäußert wird. Letzteres ist beispielsweise bei nachträglichen Rationalisierungen von Handlungen der Fall, die tatsächlich intuitiv ausgeführt worden waren.

Rezeption und Bedeutung

Der Begriff des impliziten Wissens hat in den letzten Jahren eine beträchtliche Verbreitung erfahren. Allgemein wächst das Interesse am Intuitiven. So stellt etwa Gerd Gigerenzer Beispiele von implizitem Wissen dar.[6] In erstaunlich vielen Situationen erweisen sich intuitive Entscheidungen (oft mit Hilfe von unbewussten Faustregeln) erfolgreicher als systematische Abwägungsprozesse. Im Wissensmanagement wurde das Konzept des impliziten Wissens, allerdings in einer sehr trivialisierenden Form, besonders im SECI-Modell nach Nonaka/Takeuchi rezipiert.[1] Besondere Aufmerksamkeit findet das Konzept außerdem in der Lehrerbildungsdiskussion, wo seit jeher das Theorie-Praxis-Problem intensiv erörtert wird. Implizites, (noch) nicht in Begriffe verwandeltes und nur „gefühltes“ Wissen stellt, so wird angenommen, auch für Künstler häufig eine Quelle zur Produktion ihrer Werke dar. An der Zeppelin Universität in Friedrichshafen wird versucht, diese und andere Eigenschaften impliziten Wissens im Labor für implizites und künstlerisches Wissen wissenschaftlich nutzbar zu machen. [7]

Die Möglichkeiten und Grenzen der Explikation impliziten Wissens sind insbesondere dort von Bedeutung, wo Wissen von der Person abgelöst werden soll, um zum Beispiel menschliches Können technisch nachzubilden. Mit recht unterschiedlichem Erfolg wird versucht, implizites Wissen über Methoden des Knowledge Engineering über eine Prozesskette (Externalisierung, Strukturierung, Formalisierung und Kodierung) in explizites Wissen umzuwandeln.[8]

Siehe auch

Literatur

  • Giulio Angioni: Doing, Thinking, Saying. In: Glauco Sanga, Gherardo Ortalli (Hrsg.): Nature Knowledge. Ethnoscience, cognition, and utility. Berghahn Books u. a., New York NY u. a. 2004, ISBN 1-57181-822-7, S. 249–261.
  • Yongjian Bao, Shuming Zhao: MICRO Contracting for Tacit Knowledge – A Study of Contractual Arrangements in International Technology Transfer. In: Problems and Perspectives in Management. 2, 2004, ISSN 1727-7051, S. 279–303, Digitalisat (PDF; 210,07 MB).
  • Mikhael Dua: Tacit knowing. Michael Polanyi's exposition of scientific knowledge. Herbert Utz Verlag, München 2004, ISBN 3-8316-0314-6 (Zugleich: München, Hochschule für Philosophie, Dissertation, 2003).
  • Gerd Gigerenzer: Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. Bertelsmann, München 2007, ISBN 978-3-570-00937-6.
  • Olaf Katenkamp: Implizites Wissen in Organisationen. Konzepte, Methoden und Ansätze im Wissensmanagement. VS – Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-18028-1 (Zugleich: Dortmund, Technische Universität, Dissertation, 2010).
  • Klaus Mulzer: Sprachverständnis und implizites Wissen (= Münchner philosophische Beiträge. Bd. 18). Herbert Utz Verlag, München 2007, ISBN 978-3-8316-0662-7 (Zugleich: München, Universität, Dissertation, 2005).
  • Georg Hans Neuweg: Könnerschaft und implizites Wissen. Zur lehr-lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie Michael Polanyis (= Internationale Hochschulschriften. Bd. 311). 3. Auflage. Waxmann, Münster u. a. 2004, ISBN 3-89325-753-5 (Zugleich: Linz, Universität, Habilitations-Schrift, 1998).
  • Georg Hans Neuweg: Das Schweigen der Könner. Gesammelte Schriften zum impliziten Wissen. Waxmann, Münster u. a. 2015, ISBN 978-3-8309-3178-2.
  • Georg Hans Neuweg: Implizites Wissen als Forschungsgegenstand. In: Felix Rauner (Hrsg.): Handbuch der Berufsbildungsforschung. Bertelsmann, Bielefeld 2005, ISBN 3-7639-3167-8, S. 581–588.
  • Ikujirō Nonaka, Hirotaka Takeuchi: The knowledge creating company. How Japanese companies create the dynamics of innovation. Oxford University Press, New York NY u. a. 1995, ISBN 0-19-509269-4 (In deutscher Sprache: Die Organisation des Wissens. Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen. Aus dem Englischen von Friedrich Mader. Campus-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 1997, ISBN 978-3-593-35643-3).
  • Michael Polanyi: Personal Knowledge. Towards a post-critical philosophy. The University of Chicago Press, Chicago IL 1958.
  • Michael Polanyi: Implizites Wissen (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. 543). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-518-28143-7.
  • Günther Schanz: Implizites Wissen. Phänomen und Erfolgsfaktor, neurobiologische und soziokulturelle Grundlagen, Möglichkeiten problembewussten Gestaltens. Rainer Hampp, München 2006, ISBN 3-86618-007-1.
  • Christian Schilcher: Implizite Dimensionen des Wissens und ihre Bedeutung für betriebliches Wissensmanagement. 2006, (Darmstadt, Technische Universität, Dissertation, 2006, online).
  • Markus Schönemann: Management von Wissen und Können. Ein Beitrag zur Neuausrichtung des Wissensmanagements. VDM-Verlag Müller, Saarbrücken 2008, ISBN 978-3-639-03181-2.
  • Georg Schreyögg, Daniel Geiger: Wenn alles Wissen ist, ist Wissen am Ende nichts?! In: Die Betriebswirtschaft. Bd. 63, Nr. 1, 2003, ISSN 0342-7064, S. 7–22, (Digitalisat (PDF; 234,78 KB)).

Einzelnachweise

  1. a b Ikujirō Nonaka, Hirotaka Takeuchi: The knowledge creating company. 1995.
  2. Michael Polanyi: Personal Knowledge. 1958.
  3. a b Michael Polanyi: Implizites Wissen. 1985.
  4. Georg Hans Neuweg: Könnerschaft und implizites Wissen. 3. Auflage. 2003.
  5. Georg Hans Neuweg: Implizites Wissen als Forschungsgegenstand. In: F. Rauner (Hrsg.): Handbuch der Berufsbildungsforschung. 2005. S 581–588.
  6. Gerd Gigerenzer: Bauchentscheidungen. 2007.
  7. Zentrum für Kulturproduktion.
  8. Chris Kimble: Knowledge management, codification and tacit knowledge. In: Information Research. Bd. 18, Nr. 2, 2013, ISSN 1368-1613.