Karl Wilhelm Diefenbach

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Der 34-jährige Diefenbach in Reformkutte. Er legt den Arm um ein ebenfalls mit einer Kutte bekleidetes blondes Kind.
Diefenbach um 1885

Karl Wilhelm Diefenbach (* 21. Februar 1851 in Hadamar; † 15. Dezember 1913 auf Capri) war ein deutscher Maler und Sozialreformer.

Diefenbach gilt als „Urvater der Alternativbewegungen“ und einer der bedeutendsten Vorkämpfer der Lebensreform, der Freikörperkultur und der Friedensbewegung. Seine Landkommune Himmelhof in Wien Ober Sankt Veit (1897–1899)[1] war Vorbild für die von seinem Schüler Gusto Gräser gegründete Reformsiedlung Monte Verità bei Ascona, die auch als „Gral der Moderne“ bezeichnet wird. Als Maler ist er ein eigenständiger Vertreter des Symbolismus.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der ca. 60-jährige Diefenbach steht, mit einer Reformkutte bekleidet, vor dem Eingang seines Hauses auf Capri
Diefenbach vor seinem Haus auf Capri

Diefenbach war ein Sohn des Malers und Zeichenlehrers am Hadamarer Gymnasium Leonhard Diefenbach. Er ging zunächst auf das Gymnasium und erhielt durch seinen Vater den ersten künstlerischen Unterricht. Anschließend studierte er an der Münchner Kunstakademie und ließ sich von Arnold Böcklin und Franz von Stuck beeindrucken. Seine Gemälde fanden schon früh Beachtung und Anerkennung. Durch eine schwere Typhus-Erkrankung und Operation wurde sein rechter Arm verkrüppelt. Da er meinte, mit Naturheilmethoden sein Leben gerettet zu haben, wandelte er sich unter dem Einfluss des Naturheilpraktikers Arnold Rikli und Eduard Baltzer, dem Begründer des Vegetarischen Vereins in Deutschland, zum Apostel der naturgemäßen Lebensweise. Um 1881 trat er aus der Kirche aus und wurde Mitglied der Freireligiösen Bewegung. Am Morgen des 28. Januar 1882 erlebt Diefenbach auf dem Hohen Peißenberg im Voralpenland den „Sonnen-Aufgang“ seiner Seele: seine Wandlung und Berufung zum prophetischen Reformator. In Kutte und Sandalen verkündete er nun in München seine Lehre. Seine Ideen (Leben im Einklang mit der Natur, Ablehnung der Monogamie, Abkehr von jedweder Religion, Bewegung an der frischen Luft und Ausübung der Freikörperkultur, sowie einer fleischlosen Ernährung als Veganer) wurden von seinen Zeitgenossen zum Anlass genommen, ihn als „Kohlrabi-Apostel“ zu verspotten und zu verfolgen. Nachdem die Polizei seine Versammlungen unterdrückt hatte, zog sich Diefenbach in einen verlassenen Steinbruch bei Höllriegelskreuth zurück. Eine kleine Kommune entstand, die nach den Lehren Eduard Baltzers lebte. Dort wurde der junge Maler Hugo Höppener sein Helfer und Jünger. Diefenbach nannte ihn Fidus, was zum Künstlernamen Höppeners wurde. Die Zeitschrift Die Schönheit (ab 1901) veröffentlichte Werke von Fidus, der zu einer Ikone der FKK-Bewegung wurde.[2] In gemeinsamer Arbeit entstand der große Fries Per aspera ad astra. Eine Ausstellung seiner Gemälde in Wien im Jahr 1892 war ein sensationeller Erfolg und machte ihn berühmt, doch verlor er infolge von Betrügereien der Leitung des Österreichischen Kunstvereins alle seine Werke.

Er flüchtete nach Ägypten, wo er riesige Tempelbauten entwarf. Um seine Bilder zurückzugewinnen, ging er 1897 nach Wien zurück, plante die Herausgabe einer Zeitschrift Humanitas und veranstaltete eine große Ausstellung. Ein Freundeskreis, dem die Pazifistin Bertha von Suttner, die er 1891 auf einem Friedenskongress in Wien erstmals traf, und der Publizist Michael Georg Conrad angehörten, unterstützte seine Unternehmungen. In dieser Zeit sammelte sich um ihn eine Lebensgemeinschaft von bis zu 20 Schülern oder Jüngern. 1897 gründete er mit ihnen die Künstlerkommune „Humanitas“ im Hause der ehemaligen Gaststätte „Am Himmel“ am Himmelhof in Ober Sankt Veit, die zur Keimzelle der frühen Alternativbewegung oder Lebensreform wurde. Ihr gehörten zeitweise die Maler Franz Kupka, Constantin Parthenis, Paul von Spaun und Gusto Gräser sowie der spätere Tierrechtler Magnus Schwantje an. Die „Humanitas“ war ein Vorläufer für die berühmte Alternativsiedlung Monte Verità bei Ascona. Die Maßstäbe, die Diefenbach an sich selber und an seine Anhänger anlegte, waren durchaus unterschiedlich; lebte er selbst zeitgleich wenigstens in zwei Beziehungen zu Frauen, so verlangte er seinen Anhängern Keuschheit und unbedingten Gehorsam ab, deren Post wurde von ihm persönlich kontrolliert. Die Künstlerkommune ging bankrott, und Diefenbach zog 1899 auf die Insel Capri, wo er Erfolg und Ansehen gewann, während er in Deutschland vergessen wurde. Er starb dort 1913 im Alter von 62 Jahren an den Folgen eines Darmverschlusses.

Diefenbach war in erster Ehe verheiratet mit Magdalena Diefenbach geb. Atzinger, mit der er die Tochter Stella, verh. von Spaun (1882–1971) hatte. 1898 lernte er Wilhelmine (Mina) Vogler kennen, die er heiratete, aber primär mit deren Schwester Marie (bzw. in einer Art Ehe zu dritt) zusammenlebte. Diefenbach hatte weitere Kinder, u. a. den späteren Landschaftsmaler Lucidus Diefenbach.

Nachlass, Ausstellungen und Ehrungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Gemälde „Du sollst nicht töten“, auf dem in einer traumhaften Szene ein bärtiger Mann, ein Hirsch und Gott zu sehen sind
Du sollst nicht töten, 1903

Nach seinem Tod 1913 blieb sein Nachlass ein halbes Jahrhundert lang verborgen und dem Verfall ausgesetzt. Seit den 1960er Jahren sammelte und erforschte sein Enkel Fridolin von Spaun (1901–2004) in seinem Familienarchiv in Dorfen bei Wolfratshausen Diefenbachs Nachlass. Von Spaun erkannte schon früh durch seine Herkunft, die Kindheitserlebnisse mit Diefenbach, die Begegnungen mit verschiedensten Propagandisten der Lebensreform sowie die Teilnahme an der Wandervogelbewegung auf seinem Lebensweg, die kulturhistorische Bedeutung seines Großvaters. Er half bei der Entstehung der öffentlichen Museen für Diefenbachs Werke auf Capri und in seiner Heimatstadt Hadamar.

Vom 29. Oktober 2009 bis 31. Januar 2010 wurde in einer Ausstellung im Museum Villa Stuck in München sein Werk dem deutschen Publikum wieder zugänglich gemacht.[3] Eine Ausstellung der Schirn Kunsthalle Frankfurt von 2015, die anschließend auch in der Nationalgalerie Prag gezeigt wurde, sieht ihn als Ahnherrn einer Reihe von Künstlerpropheten, von Gusto Gräser, Franz Kupka und Egon Schiele bis zu Joseph Beuys und Friedensreich Hundertwasser. Sein schriftlicher Nachlass befindet sich heute im Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein.

1927 wurde die Karl-Wilhelm-Diefenbach-Gasse in Wien-Hietzing nach ihm benannt, 1945 die Diefenbachstraße in München-Solln.[4]

Am 25. November 2015 wurde ein Asteroid nach ihm benannt: (6059) Diefenbach.

Werke[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Gemälde „Der Rettung entgegen“, auf dem zwei Männer in einem Boot zu sehen sind
Der Rettung entgegen, um 1900, Öl auf Leinwand, 100 × 151 cm, Sammlung Jack Daulton, Los Altos Hills, California
Gemälde
  • 31 Gemälde befinden sich im Museo Diefenbach im Refektorium der Certosa di San Giacomo auf Capri.
  • Per aspera ad astra. Wien 1893. Ein 68 m langer Fries, heute in Diefenbachs Geburtsstadt Hadamar im Stadtmuseum im Schloss Hadamar ausgestellt.
Schriften
  • Ein Beitrag zur Geschichte der zeitgenössischen Kunstpflege. Wien 1895.
  • Göttliche Jugend. Ein Tag aus dem Sonnenlande. 2 Teile. Teubner, Leipzig 1912/1914.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Paul von Spaun (Hrsg.): Zum Fall Diefenbach. Triest 1899.
  • Diefenbach, Karl Wilhelm. In: Ulrich Thieme (Hrsg.): Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker. Band 9: Delaulne–Dubois. E. A. Seemann, Leipzig 1913, S. 228 (Textarchiv – Internet Archive).
  • Werner Helwig: Der Diefen-„Baccho“ auf Capri. In: Capri, magische Insel. Frankfurt a. M. 1979, S. 231–238.
  • Giancarlo Alisio (Hrsg.): Karl Wilhelm Diefenbach 1851–1913. Dipinti da collezioni private. Electa Napoli. Edizioni La Conchiglia, Neapel 1995, ISBN 88-435-5207-4.
  • Stefan Kobel: Karl Wilhelm Diefenbach. Der Maler als Gesamtkunstwerk. Ungedruckte Magisterarbeit, Universität Düsseldorf 1997.
  • Michael Grisko (Hrsg.): Freikörperkultur und Lebenswelt. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Freikörperkultur. Kassel University Press, Kassel 1999, ISBN 3-933146-06-2.
  • Diefenbach, Karl Wilhelm. In: Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker (AKL). Band 27, Saur, München u. a. 2000, ISBN 3-598-22767-1, S. 221 f.
  • Janos Frecot, Jonas Geist, Diethart Kerbs: Fidus, 1868–1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, München 2000, ISBN 3-8077-0359-4.
  • Kai Buchholz u. a. (Hrsg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Verlag Haeusser, Darmstadt 2001, ISBN 3-89552-077-2 (2 Bände).
  • Geoff Eley, James Retallack (Hrsg.): Wilhelminism and its Legacies. German Modernities, Imperialism, and the Meanings of Reform, 1890–1930. Essays for Hartmut Pogge von Strandmann. Berghahn, New York 2003, ISBN 1-57181-223-7.
  • Claudia Hammer: Karl Wilhelm Diefenbach, 1851–1913 per aspera ad astra. Galerie Konrad Bayer, München 2003 (Katalog der gleichnamigen Ausstellung 27. Juni bis 26. Juli 2003).
  • Hermann Müller (Hrsg.): Meister Diefenbachs Alpenwanderung. Ein Künstler und Kulturrebell im Karwendel 1895/1896. Umbruch-Verlag, Recklinghausen 2004, ISBN 3-937726-00-4.
  • Claudia Wagner: Der Künstler Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913). Meister und Mission. Mit einem Werkkatalog aller bekannten Ölgemälde. Dissertation Fachbereich Kunstgeschichte der Freien Universität Berlin 2005 (Digitalisat).
  • Karl Wilhelm Diefenbach: Per aspera ad astra. Schattenfries und Dichtung „Seines Lebens Traum & Bild“. 2. Auflage. Umbruch-Verlag, Recklinghausen 2007, ISBN 978-3-937726-01-4.
  • Michael Buhrs (Hrsg.): Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913). „Lieber sterben als meine Ideale verleugnen!“. Edition Minerva, München 2009, ISBN 978-3-938832-58-5. (Katalog der gleichnamigen Ausstellung, Villa Stuck, 29. Oktober 2009 bis 17. Januar 2010)
  • Peter Richter: Der Jesus von München. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 29. November 2009, S. 23.
  • Brigitte Fingerle-Trischler (Hrsg.): Naturpropheten in Freimann. Gusto Gräser, Bruno Wersig und die Wirkung von Karl Wilhelm Diefenbach „aufrichtig und unentwegt geradeaus“. Mohr-Villa Freimann, München-Freimann 2010. (Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Kulturzentrum Mohr-Villa, 8. Januar bis 12. März 2010)
  • Hermann Müller (Hrsg.): Himmelhof. Urzelle der Alternativbewegung, Wien 1897–1899. Eine Geschichte der Lebensgemeinschaft „Humanitas“ um Karl Wilhelm Diefenbach in Wien. Umbruch-Verlag, Recklinghausen 2011, ISBN 978-3-937726-08-3.
  • Ulrich Schuch (Hrsg.): il Gabbiano di capri 55, 2/2013. ISSN 1862-9172 (darin: Umfängliches Bildmaterial und diverse Aufsätze zu K. W. Diefenbach anlässlich des 100. Todestages).
  • Martina Hartmann-Menz: Begegnung auf Capri: Salonlöwe trifft Kohlrabiapostel. In: Jahrbuch für den Kreis Limburg-Weilburg 2014, ISBN 978-3-927006-50-8, S. 245–251.
  • Pamela Kort, Max Hollein (Hrsg.): Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne, 1872–1972. Katalog der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Snoeck Verlag, Köln 2015, ISBN 978-3-86442-116-7.
  • Katharina Cichosch: Erster unter Gleichen: Der Prophet Karl Wilhelm Diefenbach. In: Schirn Magazin 2015. schirn.de
  • Ulrich Holbein: Fünf ziemlich radikale Naturpropheten. Christian Wagner aus Warmbronn.Karl Wilhelm Diefenbach.Gustaf Nagel.Arthur Gustav Gräser.Willy Sophus Ackermann. Synergia Verlag, Zürich Basel Roßdorf 2015. ISBN 978-3-944615-43-1.
  • Felix Kucher: Vegetarianer. Roman. Picus Verlag, Wien 2022. ISBN 978-3-7117-2120-4.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Karl Wilhelm Diefenbach – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Meister Diefenbach und seine Colonie am Himmelhof. In: Österreichische Illustrierte Zeitung, 23. Oktober 1898, S. 4. (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/oiz
  2. Arnd Krüger: There Goes This Art of Manliness: Naturism and Racial Hygiene in Germany. In: Journal of Sport History. 18, 1, 1991, S. 135–158. Nacktbild von Fidus auf S. 138 (Digitalisat (Memento vom 12. September 2016 im Internet Archive) PDF).
  3. Der Jesus von München. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. 29. November 2009, S. 23.
  4. Hans Dollinger: Die Münchner Straßennamen. 5. Auflage. Ludwig Verlag, München 2004, ISBN 3-7787-5174-3, S. 58.