Nuklearanlage Tricastin

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Luftaufnahme der Nuklearanlage Tricastin

Die Nuklearanlage Tricastin ist eine kerntechnische Anlage in der Nähe von Pierrelatte im Département Drôme am Canal de Donzère-Mondragon an der Rhône zwischen Valence (70 km flussaufwärts) und Avignon (65 km flussabwärts). Sie besteht aus mehreren Anlagen, darunter ein Kernkraftwerk mit vier Reaktorblöcken, zwei Urananreicherungsanlagen und einer Urankonversionsfabrik.

Laufende Anlagen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Tricastin ist die wichtigste französische nukleare Industrieanlage nach der Wiederaufarbeitungsanlage La Hague. Auf einem Areal von 600 Hektar arbeiten über 5000 Angestellte für AREVA und Électricité de France sowie weitere Subunternehmen.

Die wichtigsten Einrichtungen sind:

  • Commissariat à l’énergie atomique et aux énergies alternatives (CEA), Standort Pierrelatte, ein Atomwaffenforschungszentrum und eine stillgelegte Urananreicherungsanlage für atomwaffenfähiges Uran und Brennstoff für die Atomreaktoren der U-Boot-Flotte.
  • Kernkraftwerk Tricastin mit vier Reaktorblöcken mit je 915 MW Leistung.
  • Eurodif, das Unternehmen betreibt die zivile Urananreicherungsanlage (UAA) Georges Besse I für die Belieferung kommerzieller Reaktoren mit schwach angereichertem Uran. Eine neue Urananreicherungsanlage Georges Besse II ging 2009 in Betrieb.
  • Comurhex, das Unternehmen betreibt eine Urankonversionsanlage, welche für die Urananreicherung Urantetrafluorid in Uranhexafluorid umwandelt. Im Rahmen des Comurhex II-Projekts entsteht seit Sommer 2007 eine weitere Anlage vor Ort.

Kernkraftwerk Tricastin[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Mit der Konstruktion der vier Leichtwasserreaktoren mit je 915 MW Leistung wurde 1974 begonnen, sie gingen 1980 bzw. 1981 ans Netz. Die Reaktoren werden direkt durch das Flusswasser der Rhône über den Canal de Donzère-Mondragon gekühlt. Tricastin wird auch als einer der möglichen Standorte für einen zweiten französischen EPR gehandelt.

Urananreicherungsanlagen von Eurodif[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die beiden Kühltürme der UAA von Eurodif

Die Urananreicherungsanlage (UAA) Georges Besse I ist seit 1979 in Betrieb und arbeitet nach dem energieintensiven Gasdiffusionsverfahren, welches für sich alleine drei Viertel (75 %) der gesamten Reaktorleistung am Standort beansprucht. Diese Anlage wird über die beiden Kühltürme am Standort gekühlt. Sie liefert darüber hinaus Fernwärme für 2.400 Wohnungen in Pierrelatte sowie die Beheizung von Gewächshäusern auf 42 ha Fläche, außerdem auch für eine örtliche Krokodilzucht, deren anfallende Tierhäute zur Lederherstellung benutzt werden.[1]

Am 9. Dezember 2009 ging die neue Anlage Georges Besse II in Betrieb, welche nach dem energiesparenderen Gaszentrifugenverfahren arbeitet[2]; sie soll 2012 ihre volle Leistung erreichen und dann Besse I ablösen.

Das 1974 gegründete AREVA-Tochterunternehmen SOCATRI kümmert sich um die Wartung, den geplanten Rückbau der Altanlage und die Reinigung der Abwässer.[1] Bei der Wartung kam es am 7. Juli 2008 zu einem Störfall, bei dem nach Betreiberangaben 30.000 Liter uranhaltiges Abwasser mit bis zu 75 kg Uran entwichen, teilweise in die Flüsse Gaffière und Lauzon gelangten sowie im Boden versickerten.[3] Ende September 2011 hob das Berufungsgericht in Nîmes das Urteil der Vorinstanz auf und verurteilte Socatri für die Trinkwasserverschmutzung zu einer Gesamtstrafe von über 500.000 Euro.[4]

Comurhex Urankonversionsanlagen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1961 begann die CEA mit dem Bau einer Urankonversionsanlage unter dem Namen Societe des Usines Chimiques de Pierrelatte (SUCP), welche 1963 ihren Betrieb aufnahm. Sie wurde 1971 in Comurhex umbenannt und 1992 zu einer 100%igen Tochterfirma der Cogema, seit 2001 von AREVA.[1] Die Fabrik wandelt Urantetrafluorid mit vor Ort durch Elektrolyse hergestelltem Fluor in Uranhexafluorid um. Das Urantetrafluorid wird aus der Comurhexanlage in Narbonne-Malvési angeliefert. Darüber hinaus wurde aus den Wiederaufarbeitungsanlagen La Hague und Karlsruhe stammendes Uranylnitrat in Urantetrafluorid, anschließend in Uranhexafluorid umgewandelt. Dieser Fabrikteil soll bis Ende 2008 endgültig stillgelegt werden. Die maximale Produktionskapazität der gesamten Anlage beträgt 14.000 Tonnen pro Jahr.[5] Das produzierte Uranhexafluorid dient der Anreicherung vor Ort oder wird an andere Anreicherungsanlagen in den USA, Russland und der Urenco-Gruppe geliefert.

Am 1. Juli 1977 verursachte ein unerfahrener Arbeiter einen Ventilbruch, worauf Uranhexafluorid aus einem Gaszylinder entwich und sich eine größere Wolke aus Flusssäure über der betroffenen Werkhalle bildete. Neun betroffene Personen wurden zur Beobachtung in ein Krankenhaus eingeliefert und der Bürgermeister der benachbarten Gemeinde Bollène warnte vor dem Verzehr ungewaschenen Obstes oder Gemüses.[6][7]

Radioaktiv verunreinigte Fluorabfälle wurden von 1964 bis 1977 in einem Hügel auf dem Gelände entsorgt, anschließend bis 1999 in der nahe gelegenen Deponie von Solérieux.[5]

Für neue Fabriken an den Standorten Malvési und Tricastin im Rahmen des Comurhex II-Projektes will AREVA insgesamt 610 Mio. Euro investieren, der Baubeginn war im Sommer 2007. Laut Planung soll die erste Produktion 2012 erfolgen, mit einer Anfangsgröße von 15.000 Tonnen pro Jahr, welche je nach Bedarf auf bis zu 21.000 Tonnen ausgeweitet werden könnte. Nach eigenen Angaben ist die Firma der weltgrößte Hersteller von Uranhexafluorid mit einem Anteil von 26 % und europaweit größter Produzent von Fluor. Darüber hinaus werden am Standort eine Reihe weiterer Produkte der Fluorchemie hergestellt. Im Jahre 2006 waren 359 Angestellte im Unternehmen beschäftigt.[8]

  • Am 23. August 2008 meldete das ZDF Heute-Journal einen neuen Zwischenfall in der Anlage Pierrelatte: Durch ein defektes Ventil sei erneut eine kleine Menge radioaktives Uran in den Boden gelangt, so teilte der Betreiber Comurhex mit. Die französische Atomaufsichtsbehörde Autorité de sûreté nucléaire untersuchte den Vorfall.[9]

Areva NC Pierrelatte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Urankonversionsanlage zur Umwandlung des angereicherten Uranhexafluorids in Uranoxid (U3O8) und Vorbereitung des Urans zur Brennelementeherstellung. Darüber hinaus sorgt das Unternehmen für die Wartung der Urantransportbehälter, verarbeitet Atommüll und arbeitet am Abriss der stillgelegten Teile der Urananreicherung. Im Jahre 2006 waren im Unternehmen 901 Angestellte beschäftigt.[1]

Stillgelegte Anlagen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Brennelementefabrik FBFC Pierrelatte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Brennelementefabrik Franco-Belge de fabrication de combustible (FBFC) Pierrelatte wurde 1983 gegründet und produzierte Uranbrennelemente und Kontrollstäbe für Leichtwasserreaktoren. Sie konnte 400 Tonnen Uran pro Jahr verarbeiten und wurde 1998 stillgelegt. Die Inneneinbauten wurden bis 2003 demontiert und hinterließen schwach radioaktiven Atommüll in Höhe von 2000 Tonnen. Die Produktion der unbefüllten Brennstabhüllen bzw. der Brennstabbündel als Vorstufe für die Brennelementefabrik FBFC Romans-sur-Isère blieb erhalten. Im CERCA-Labor werden darüber hinaus radioaktive Strahlungsquellen für die Industrie und medizinische Anwendungen weiterhin hergestellt.[10][1]

Teilanlage von Comurhex[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eine Anlage von Comurhex zur Reduktion des abgereicherten Uranhexafluorids in Urantetrafluorid ist vermutlich nicht mehr in Betrieb, da die anschließende Reduktion des Urantetrafluorids in metallisches Uran am Standort Malvési 1991 eingestellt wurde.[5]

CEA Urananreicherungsanlage und Atomwaffenforschung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1958 bestimmte Präsident Charles de Gaulle Tricastin zum Standort für den Aufbau einer eigenen Urananreicherungsanlage für militärische Zwecke, welche 1963 den ersten Betrieb aufnahm[1] und 1960 ursprünglich ca. 2 Milliarden Francs kosten sollte.[11] Sie produzierte hochangereichertes Uran nach dem Gasdiffusionsverfahren für die französischen Atombomben und U-Boot-Reaktoren und kostete mindestens 4,5 Milliarden Deutsche Mark (in Kaufkraft von 1968),[12] nach anderen Angaben 7 Milliarden Mark zuzüglich 400 Millionen Mark jährlicher Unterhaltskosten.[13]

Am 16. Juli 1965, ein Jahr vor dem Austritt Frankreichs aus der militärischen Integration der NATO und dem Abzug der alliierten Truppen, kam es zu einem Luftzwischenfall über der Anlage von Pierrelatte. Ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug vom Typ RF 101 „Voodoo“ vom Flughafen Ramstein (Pfalz) hatte nach französischen Angaben die Anlage viermal in 600 m Höhe überflogen und dabei 175 Fotos angefertigt, welche unmittelbar nach der Landung auf französisches Verlangen hin übergeben wurden. Der französische Versuch, den Aufklärer mit einem Jagdflugzeug vom Typ SNCASO SO-4050 Vautour abzufangen, war vorher fehlgeschlagen, da der Aufklärer eine deutlich höhere Maximalgeschwindigkeit erreichte. Der Zwischenfall verschärfte die bereits angespannten diplomatischen Beziehungen zu den USA, die von einem angemeldeten Routineflug sprachen, der einem Gewitter habe ausweichen müssen.[14][15]

Die Anlage wurde 1996 stillgelegt. 1998 wurde mit dem Rückbau begonnen, der bis 2010 andauern soll.[1]

Störfälle[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Im April 1976 kam es bei 13 Arbeitern auf dem Gelände zu mysteriösen Erkrankungen. Die Gewerkschaft Confédération française démocratique du travail (CFDT) machte dafür verseuchtes Trinkwasser verantwortlich, welches nach Analysen einen abnorm hohen Gehalt von 2,45 mg Uran und 5 mg Fluor pro Liter aufwies.[16]
  • 1984 kollidierte der Frachter „Mont Louis“ vor Ostende mit einer Passagierfähre und sank. Er transportierte 30 Stahlfässer, gefüllt mit insgesamt 350 Tonnen Uranhexafluorid aus der Anlage Tricastin von Le Havre über Riga zur Wiederaufarbeitung in der Sowjetunion. Die Fässer konnten später alle geborgen werden.
  • Am 12. April 1987 kam es auf dem Gelände erneut zu einem Leck und Freisetzung von Uranhexafluorid, bei dem sieben Arbeiter verletzt wurden.[17] Die Kosten des Zwischenfalls werden auf 59 Millionen Dollar geschätzt. Die Kosten von Atomunfällen in der Kernenergie-Forschung und zivilen Nutzung weltweit werden in diesem Zusammenhang auf weit über 400 Milliarden Dollar geschätzt.[18]
  • am 30. Juni 2008 gelangten 30 Kubikmeter uranhaltiges Wasser in die Umgebung.[19]
  • Am 2. Juli 2011 kam es zu einer Explosion und einem Brand in einem Transformator. Nach Angaben des Betreibers geschah dies „außerhalb des nuklearen Bereiches“; der Brand sei rasch gelöscht worden.[20]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Nuklearanlage Tricastin – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e f g Rapport environnemental, social, sociétal, de sûreté nucléaire et de radioprotection 2006 Tricastin (Memento des Originals vom 17. Januar 2012 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.comurhex.areva-nc.com, AREVA.
  2. Georges Besse II: erste Zentrifugenkaskade in Betrieb. Nuklearforum Schweiz, 17. Dezember 2009, ehemals im Original (nicht mehr online verfügbar); abgerufen am 31. März 2010.@1@2Vorlage:Toter Link/www.atomenergie.ch (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  3. Atomkraftgegner warnen vor Gefahren des freigesetzten Urans. Spiegel-Online. Stand 9. Juli 2008 [1]
  4. Areva reconnu coupable d'une fuite d'uranium au Tricastin. Le Monde, 30. September 2011, abgerufen am 8. Oktober 2011.
  5. a b c Mary Byrd Davis: La France nucleaire/Nuclear France: RHONE-ALPES (Memento des Originals vom 20. Juli 2009 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.francenuc.org, Stand 14. Juli 2008.
  6. French-led consortium to forge ahead with fast-breeder reactors, The Times, 2. Juli 1977, S. 3.
  7. Corrosive gas cloud over French nuclear plant, The Times, 5. Juli 1977, S. 5.
  8. AREVA invests 610 million euro in new uranium conversion plant. (Memento des Originals vom 17. Januar 2012 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.comurhex.areva-nc.com 21. Mai 2007. AREVA-Webseite
  9. Erneut Panne in französischer Atomanlage Tricastin (tagesschau.de) (Memento vom 25. August 2008 im Internet Archive)
  10. Nuclear Power and the Nuclear Fuel Cycle: A Review of Overseas Events in 1997 (Memento des Originals vom 17. Februar 2004 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.ansto.gov.au, Australian Nuclear Science and Technology Organisation (ANSTO). Stand 15. Mai 1999.
  11. Das Riesen-Spielzeug. In: Der Spiegel. Nr. 49, 1960, S. 65 (online30. November 1960).
  12. Überall hin. In: Der Spiegel. Nr. 7, 1968, S. 71 (online12. Februar 1968).
  13. Schlag der Trommeln. In: Der Spiegel. Nr. 10, 1967, S. 17 (online27. Februar 1967).
  14. Voodoo im Gewitter. In: Der Spiegel. Nr. 31, 1965, S. 67 (online28. Juli 1965).
  15. SDR/SWR Abendschau – Spionage in Ramstein (21.07.1965). Abgerufen am 26. Oktober 2019.
  16. Uranium leak blamed for illness at atom plant. The Times, 24. Dezember 1976 S. 4 [2]
  17. Mir läuft der kalte Schauer über den Rücken. In: Der Spiegel. Nr. 17, 1987, S. 136–142 (online20. April 1987).
  18. Kosten gescheitertert AKW-Projekte: Milliardeninvestitionen ohne Ertrag In: tagesschau.de, 22. Oktober 2015
  19. Philip Faigle, Björn Schwentker: Kernkraft: Vertuschter Unfall? In: zeit.de. Juli 2008, abgerufen am 28. November 2018.
  20. Zwischenfall in Tricastin – Transformatorbrand in weltgrößtem AKW In: sueddeutsche.de, 3. Juli 2011, abgerufen am 28. November 2018.

Koordinaten: 44° 20′ N, 4° 43′ O