Putinismus

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Wladimir Putin auf der Krim (2000)

Der Begriff Putinismus (russisch Путинизм) ist ein politisches Schlagwort, mit dem das Herrschaftssystem in Russland und dessen Handeln bezeichnet wird, wie es sich unter dem russischen Präsidenten Wladimir Putin herausgebildet hat.

Inhalte

Phasen

Der Putinismus durchlief nach Darstellung des Osteuropaexperten Richard Sakwa drei Phasen, bevor er sich ab etwa 2011 zu der aktuellen Form entwickelte: Die klassische Form mit den Phasen der Sanierungspolitik von März 2000 bis Oktober 2003 und der Phase des Ausbaus der Vormachtstellung der Administration bis 2008 wurde abgelöst von der Phase der „Tandem-Regierung“, in der Präsident Medwedew rechtsstaatliche und liberale Aspekte gegen das Übergewicht der Administration zu stärken suchte. 2011 begann die von Sakwa als „entwickelter Putinismus“ bezeichnete vierte Phase.

Sakwa betont die Kontinuität der Entwicklung, die schon mit Boris Jelzin 1991 begann und von Anfang an bei der Steuerung der politischen Prozesse bestimmte autoritäre Elemente aufwies. „Beide (Jelzin und Putin) haben versucht, die konkurrierenden Ansprüche zu steuern, nämlich den Drang nach politischer Partizipation und sozialer Sicherung einerseits, und die postsowjetische Fragmentierung Eurasiens sowie die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen auf internationaler Ebene andererseits.“ Wahlen stellten seit 1991 „einen sekundären Vorgang zur Legitimierung des Status quo dar“.[1]

Samuel Huntington hingegen argumentierte 2002, der Putinismus „unterscheidet sich vom Jelzinismus, der sich mit dem Westen ideologisch und kulturell identifizierte. Putin ist bloß ein Pragmatiker. Wenn es ihm passt, kooperiert er mit den USA, mit dem Westen.“ (Die blutigen Grenzen des Islam)Vorlage:": Ungültiger Wert: ref=

Phase des entwickelten Putinismus

In seiner entwickelten Form wies der Putinismus nach Sakwa „neue Methoden des politischen Managements“ auf: die Strategie selektiven Zwangs gegen Führungspersönlichkeiten der Opposition wie Alexei Nawalny, die Strategie der Beschränkung etwa des Demonstrationsrechts und des Aktienbesitzes im Ausland. In der Strategie der Kooptation sei die Allrussische Volksfront wichtigster „Kooptierungsmechanismus“. In der Strategie des Überzeugens seien ideologische Initiativen unternommen worden, „unter anderem durch eine betont antiwestliche Haltung, eine engere Verbindung zur Orthodoxen Kirche und das Eintreten für konservative kulturelle und Familienwerte.“ Sakwa diagnostiziert, diese Phase sei von Stagnation, Unterdrückung des Pluralismus und Korruption gekennzeichnet. Alternative sei ein „Putinismus ohne Putin“ als fünfte Phase durch anhaltenden „Druck demokratischer Bewegungen, begleitet von einer Wiederbelebung des Verfassungsstaates“ oder „Revolution und Kollaps“.[2]

„Wenn es Putin gibt, dann gibt es Russland. Wenn es Putin nicht gibt, gibt es auch Russland nicht.“

Wjatscheslaw Wolodin, Oktober 2014[3]
Vergleich mit anderen Herrschaftsformen

Marcel H. Van Herpen, Direktor der Cicero Foundation[4], vergleicht den Putinismus mit dem Faschismus und anderen Regierungsformen. Er findet Übereinstimmungen des Putinismus mit Merkmalen des Bonapartismus, des Zwischenkriegsfaschismus mussolinischer Prägung und des Berlusconismus.[5] Alan Posener von der Zeitung Die Welt schrieb im Zusammenhang mit der Diskriminierung von Minderheiten in Russland: „Der Putinismus lebt davon, außen- und innenpolitische Feinde zu schaffen und sie propagandawirksam niederzuringen.“[6]

Gemeinsamkeiten mit dem Bonapartismus

Mit dem Regierungssystem Napoleons III. sieht Marcel H. Van Herpen Gemeinsamkeiten, insofern auch der Bonapartismus durch einen allgegenwärtigen Geheimdienst, Zensur der Medien, ein formelles Mehrparteiensystem mit schwacher Stellung des Parlaments und ein Streben nach Vergrößerung des Territoriums sowie militärische Abenteuer gekennzeichnet war. Der Putinismus scheint Herpen aber insofern moderner, als die physische Repression durch Steuerung der öffentlichen Meinung über die Medien und Wahlmanipulationen ersetzt wurde.[7]

Unterschiede zur kommunistischen Diktatur

Der deutsche Politikwissenschaftler Manfred Sapper sieht vier Hauptunterschiede zur kommunistischen Diktatur: An der Stelle der Partei stehe „eine Vielzahl von Klans, Seilschaften und Netzwerken...., die ihre materiellen Interessen befriedigen, indem sie ökonomisch relevante Ressourcen wie die exportfähigen Rohstoffbranchen kontrollieren und aus den Erlösen »Renten« abschöpfen.“ Des Weiteren gebe es keine messianische Ideologie mehr, statt Massengewalt stehe Willkür und Repression auf der Tagesordnung und die Grenzen seien offen, man könne das „System Putin“ verlassen.[8]

Theoretiker des Putinismus

Als einen der Autoren dieses Systems bezeichnet sich der Politiker Wladislaw Surkow.[9]

Innenpolitik

Das Konzept manifestierte sich seit dem Amtsantritt von Putin 1999 als Nachfolger des zurückgetretenen Boris Jelzin durch den Kampf gegen die organisierte Kriminalität, die Finanzierung von Sozial- und Rüstungsausgaben durch die verstaatlichte Rohstoffausbeutung sowie durch einen Vorrang der öffentlichen Ordnung vor individuellen Freiheiten. Mit der Regierungsform der gelenkten Demokratie soll vor allem die Stabilität von Staat und Gesellschaft erreicht werden. Damit einher gehen Einschränkungen bei der Verwirklichung der Menschenrechte in Russland.[10]

Außenpolitik

Außenpolitisch steht die Aufrechterhaltung und der Ausbau des Großmachtstatus Russlands im Zentrum des Putinismus. Die Rolle westlicher Länder und Bündnisse wird kritisch gesehen, die NATO-Osterweiterung als Bedrohung der eigenen Sicherheit empfunden. Nach der Intervention im Kaukasuskrieg 2008 mit Georgien machte die Machtpolitik 2014 auch vor einem Annexion der Krim, einem Gebiet des heute unabhängigen Staates Ukraine, nicht halt. Dabei werde, wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel kommentierte, „das Recht des Stärkeren“ gegen die „Stärke des Rechts“ gestellt.[11]

Siehe auch

Literatur

  • Ronald J. Hill, Ottorino Cappelli (Hrsg.): Putin and Putinism. Routledge, Abingdon (Oxfordshire) 2013.
  • Marcel H. Van Herpen: Putinism: The slow rise of a radical right regime in Russia. Palgrave Macmillan, Basingstoke 2013.
  • Richard Sakwa: Russian Politics and Society. Routledge, London, New York 2008.
  • Richard Sakwa: Putin’s Leadership. Character and Consequences. In: Europe-Asia Studies, 60.2008, Nr. 6 (Sonderausgabe: Power and Policy in Putin’s Russia), S. 879–897.
  • Richard Sakwa: The Dual State in Russia. In: Post-Soviet Affairs, 26.2010, Nr. 3, S. 185–206.
  • Richard Sakwa: The Crisis of Russian Democracy. The Dual State, Factionalism and the Medvedev Succession. Cambridge University Press, Cambridge 2011.
  • Richard Sakwa: Modernisation, neo-modernisation, and comparative democratisation in Russia. In: East European Politics, 28.2012, Nr. 1, S. 43–57.
  • Walter Laqueur: Putinismus: Wohin treibt Russland? (Originaltitel: Putinism, Russia and Its Future with the West, 2015, übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt), Propyläen, Berlin 2015, ISBN 978-3-549-07461-9.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Richard Sakwa: Analyse: Entwickelter Putinismus – Wandel ohne Entwicklung. Bundeszentrale für politische Bildung, 15. Juli 2013, abgerufen am 27. Dezember 2014.
  2. Richard Sakwa: Analyse: Entwickelter Putinismus – Wandel ohne Entwicklung. Bundeszentrale für politische Bildung, 15. Juli 2013, abgerufen am 21. Februar 2015.
  3. Julian Hans: Ohne Putin kein Russland. Süddeutsche Zeitung, 16. März 2015, abgerufen am 16. März 2015.
  4. The Cicero Foundation
  5. Van Herpen, 2013, 203.
  6. Alan Posener: Kein Führerschein für Transsexuelle in Russland (Die Welt), abgerufen am 11. Januar 2015
  7. Van Herpen, 2013, 7f.
  8. Manfred Sapper: Putinismus in Aktion
  9. Peter Pomerantsev: The hidden author of Putinism (The Atlantic), abgerufen am 19. Dezember 2014
  10. Ljudmila Alexejewa: Human rights: The rise and fall of Putinism (Die Welt), abgerufen am 21. Dezember 2014
  11. Merkel in ihrer Regierungserklärung: Russland stellt Recht des Stärkeren gegen Stärke des Rechts (The Huffington Post), abgerufen am 19. Dezember 2014