Reichstag (Deutsches Kaiserreich)

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 10. April 2013 um 16:40 Uhr durch Heied (Diskussion | Beiträge) (→‎Stellung im Machtgefüge). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Plenarsitzungssaal des Reichstags, 1889 in der Leipziger Straße 4
Parlamentssaal des Reichstags, 1906 im Reichstagsgebäude
Der große Sitzungssaal des Reichstages um 1903, mit Ziffernkennzeichnung besonderer Plätze
Datei:Karte der Reichstagswahlkreise farbig.svg
Reichstagswahlkreise, siehe auch Liste der Reichstagswahlkreise des Deutschen Kaiserreichs

Der Reichstag war von 1871 bis 1918 das Parlament des Deutschen Kaiserreichs. Der Reichstag verkörperte neben dem Kaiser die Einheit des Reiches. Er repräsentierte das nationale und demokratische Element neben dem Föderalismus der Bundesstaaten und der monarchisch-bürokratischen Exekutive im Machtgefüge des Reiches.[1] Gemeinsam mit dem Bundesrat übte er die Reichsgesetzgebung aus und besaß die Mitentscheidungsgewalt über den Haushalt des Reiches. Es hatte auch gewisse Kontrollrechte gegenüber der Exekutive und konnte durch Debatten Öffentlichkeit herstellen. Allerdings behielt die Exekutive im politischen System des Kaiserreiches ein Übergewicht gegenüber dem Reichstag. Einen Einfluss auf die Ernennung oder Abberufung des Reichskanzlers hatte er nicht. Dennoch hatte der Reichstag erhebliches Gewicht im Machtgefüge des Reiches. Von 1871 bis 1894 tagte der Reichstag in der Leipziger Straße 4 in Berlin. Erst 1894 wurde das Reichstagsgebäude fertiggestellt.

Wahlrecht

Die Reichsverfassung vom 16. April 1871 änderte an der Rechtsgestalt des Parlamentes, wie sie für den Reichstag des Norddeutschen Bundes durch seine Verfassung vom 17. April 1867 vorgezeichnet war, zunächst nichts. Das Wahlrecht orientierte sich am Vorbild des Reichswahlgesetzes von 1849.

Die Abgeordneten wurden in allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl gewählt (siehe Reichstagswahlen in Deutschland). Wahlberechtigt waren alle Männer ab 25 Jahren. Dieses Wahlrecht war im internationalen Vergleich aber auch mit Blick auf die Länderparlamente sehr weitgehend. In den meisten Ländern wurde es durch eine Art des Zensuswahlrecht eingeschränkt. Otto von Bismarck hoffte mit der Gewährung eines gleichen Wahlrechts, dass die Landbevölkerung konservativ wählen und so den Einfluss der Liberalen begrenzen würde. Bis zum Ende des Kaiserreichs waren Frauen von der Wahl ausgeschlossen.[2]

Gewählt wurde in Einmannwahlkreisen mit absolutem Mehrheitswahlrecht. Damit gab es nur direkt gewählte Abgeordnete. Es war derjenige gewählt, der im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Geschah dies nicht, kam es zwischen den beiden Kandidaten mit der höchsten Stimmenzahl zu einer Stichwahl.

Im Jahr 1871 bestand der Reichstag aus 382, ab dem Jahr 1874 - infolge der Einbeziehung von fünfzehn Abgeordneten des Reichslandes Elsaß-Lothringen - aus 397 Abgeordneten. Diese Zahl galt bis zum Ende des Kaiserreichs. Die Wahlkreise waren zunächst so zugeschnitten, dass sie etwa 100.000 Menschen umfassten. Ausnahmen bildeten acht Kleinstaaten, die eigene Wahlkreise bildeten, auch wenn sie weniger als 100.000 Einwohnern hatten.

Durch die unterschiedliche Bevölkerungsentwicklung, in erster Linie bedingt durch die Binnenwanderung in die Großstädte und Industriezentren, entstanden große Unterschiede hinsichtlich der Bevölkerungszahl der einzelnen Wahlkreise. Zum Vergleich im Wahlkreis Schaumburg-Lippe lebten 1912 etwas mehr als 10.000 Einwohner im Wahlkreis Teltow-Charlottenburg dagegen fast 340.000. Beide entsandten aber je einen Abgeordneten. Dieser Zuschnitt der Wahlkreise benachteiligte solche Parteien, die ihre Wählerschaft vor allem in den Städten hatten.[3]

Abgeordnete

Rednerpult, Präsidium und Stenographen

Die Abgeordneten galten als Vertreter des gesamten Reichsvolkes und waren nach der Verfassung an Weisungen nicht gebunden. Die Parlamentarier genossen Immunität und Indemnität. Damit verbunden war auch der Schutz von beamteten Abgeordneten vor Disziplinarstrafen für ihre politischen Handlungen als Parlamentarier.

Stark betont wurde die Trennung zwischen Exekutive und Parlament. Ein Abgeordneter der in die Reichsleitung oder in eine Länderregierung berufen wurde, hatte sein Mandat niederzulegen.

Diäten wurden nicht gezahlt, weil das Entstehen von Berufspolitikern verhindert werden sollte. In der Praxis bedeutete dies, dass man zeitlich abkömmlich sein musste und sich dieses Amt finanziell leisten konnte. Damit waren nicht begüterte oder nichtbeamtete Kandidaten benachteiligt. Eine Abgeordnetentätigkeit und den Beruf verbinden konnten etwa Anwälte und Journalisten. Max Weber rechnete auch preußische Junker, Großindustrielle, Rentiers und hohe Beamte zu dieser Gruppe. Dagegen war die Mehrzahl der Unternehmer wegen ihrer Berufstätigkeit nur selten abkömmlich. Noch mehr gilt dies für die Arbeiter.

Einen Ausgleich konnte die Unterstützung durch die eigene Partei oder eine Interessenorganisation sein. Die SPD etwa zahlte seit 1876 ihren Abgeordneten eine Art Gehalt. Zudem wurden zahlreiche Parlamentarier als Funktionäre oder Journalisten der Parteipresse beschäftigt. Im Jahr 1898 waren etwa 40 % der sozialdemokratischen Abgeordneten Parteiangestellte und weitere 15–20 % waren bei den freien Gewerkschaften tätig. Im konservativen Lager unterstützte der Bund der Landwirte Abgeordnete finanziell und erwartete im Gegenzug politische Unterstützung. Auch Industrieverbände und die katholische Kirche handelte ähnlich. Eine Aufwandsentschädigung gab es immerhin seit 1906. Die 3000 Mark im Jahr waren allerdings zu niedrig, um davon ausschließlich zu leben. Die Praxis hat gezeigt, dass diese Bestimmungen nicht verhindern konnten, dass so etwas wie ein Berufspolitikertum entstand.[4]

Einberufung und Auflösung

Mandate im Deutschen Reichstag 1871–1887[5]
1871 1874 1877 1878 1881 1884 1887
Konservative 57 22 40 59 50 78 80
Freikonservative 37 33 38 57 28 28 41
Nationalliberale 125 155 128 99 47 51 99
Fortschrittspartei 46 49 35 26 60 - -
Liberale Vereinigung - - - - 46 - -
Freisinn - - - - - 67 32
Zentrum 63 91 93 94 100 99 98
Sozialdemokraten 2 9 12 9 12 24 11
Minderheiten 21 34 34 40 45 43 33
Sonstige 31 4 17 13 9 7 3

Der Reichstag hatte kein Selbstversammlungsrecht, sondern wurde alljährlich vom Kaiser einberufen. Die Verhandlungen des Reichstages waren öffentlich (Artikel 22 der Reichsverfassung). Tatsächlich berichtete die Presse breit über die Debatten. Die Wahlperiode betrug zunächst drei, nach 1888 fünf Jahre. Eine Legislaturperiode war in mehrere Sessionen, meist vier oder fünf, unterteilt. Diese dauerten jeweils etwa einen bis vier Monate. Waren in einer Session Gesetzesvorhaben, Petitionen und andere Parlamentsgeschäfte nicht abgeschlossen, galten diese als erledigt und mussten in der nächsten Session neu eingebracht werden. Teilweise konnte es davon aber Ausnahmen geben.[6]

Der Bundesrat konnte unter der Zustimmung des Kaisers den Reichstag jederzeit auflösen. Nach der Auflösung hatten innerhalb von sechzig Tagen Neuwahlen stattzufinden. Der neu gewählte Reichstag musste spätestens nach 90 Tagen einberufen werden. Trotz dieser Bestimmungen hatte die Regierung mit der Reichstagsauflösung ein wirkungsvolles Mittel gegen unliebsame Parlamentsmehrheiten in der Hand. Tatsächlich wurde der Reichstag bei innenpolitischen Krisen mehrfach aufgelöst. Dies war 1878, 1887, 1893 und 1906 der Fall.[7]

Gesetzgebung

Debatte im Reichstag
Mandate im Deutschen Reichstag 1890–1912[8]
1890 1893 1898 1903 1907 1912
Konservative 73 72 56 54 60 43
Freikonservative 20 28 23 21 24 14
Nationalliberale 42 53 46 51 54 45
Linksliberale 66 37 41 30 42 42
Zentrum 106 96 102 100 105 91
Sozialdemokraten 35 44 56 81 43 110
Minderheiten 38 35 34 32 29 33
Antisemiten 5 16 13 11 22 10
Deutsche Volkspartei 10 11 8 6 7 -
Sonstige 2 5 18 11 11 9

Vorlagen für neue Gesetze konnten nach Artikel 16 durch den Bundesrat in das Parlament eingebracht werden. Aber auch der Reichstag selbst hatte nach Artikel 23 das Recht zur Gesetzesinitiative. Zur Gültigkeit bedurften die Gesetze aber in jedem Fall die Zustimmung des Bundesrates. Gegen den Willen der im Bundesrat vertretenen Regierungen der Bundesstaaten war somit kein Gesetz durchsetzbar.[9]

In einer ersten Lesung eines Gesetzes sollte nur eine allgemeine Debatte über die Grundsätze des Entwurfs stattfinden. Erst in der zweiten Lesung durfte über die einzelnen Artikel debattiert werden. Dabei konnten nun auch Änderungsanträge gestellt werden. In der dritten Lesung schließlich sollte es zu einer Synthese der Ergebnisse aus der ersten und zweiten Lesung kommen. Neu gestellte Anträge mussten die Unterstützung von mindestens dreißig Abgeordneten aufweisen. Schließlich wurde der gesamte Entwurf zur Abstimmung gestellt.[10]

Die Kernkompetenz des Reichstages war das Budgetrecht und damit der Beschluss über den Haushalt des Reiches in Gesetzesform (Artikel 69). Während Bismark einen für drei Jahre geltenden Haushalt vorgeschlagen hatte, setzte das Parlament eine einjährige Dauer durch. Kam es zu außerplanmäßigen Ausgaben musste ein Nachtragshaushalt verabschiedet werden. Das Parlament beschloss dabei nicht über die Gesamtsumme, wie ursprünglich von Bismarck vorgesehen, sondern die Ausgaben waren detailliert aufgeschlüsselt und das Parlament konnte über jeden Posten gesondert beraten. In diesem Zusammenhang wurde die Haushaltsdebatte zur zentralen Auseinandersetzung über das Handeln der Regierung insgesamt.

Dabei galten Einschränkungen hinsichtlich des Militäretat. Dieser wurde nicht jährlich sondern in längeren Zeiträumen beschlossen. Dies waren die Provisorien von 1867 und 1874. In den sogenannten Septenaten legten man danach den Militärhaushalt für sieben Jahre fest. Es folgten die Quinquennate mit einer fünf Jahre dauernden Laufzeit. Eine Reduzierung des Militärbudgets war kaum möglich und auch der Versuch auf Einzelposten des Militärs Einfluss zu nehmen stieß auf Schwierigkeiten.

In den Jahren zwischen der Verabschiedung des Militäretats hatte das Parlament keine Mitbestimmungsmöglichkeit über diesen mit Abstand größten Ausgabenbereich des Reiches. Allerdings war dies keine deutsche Besonderheit, sondern in Sachen der Militärhaushaltes gab es auch in anderen Staaten ähnliche Einschränkungen im Haushaltsrecht.

Auch im Bereich der Einnahmen gab es Grenzen des parlamentarischen Einflusses. Indirekte Steuern und Zölle lagen für einen längeren Zeitraum fest und daher war der Spielraum des Parlaments eingeschränkt. Die Matrikularbeiträge der Länder lagen ohnehin außerhalb der Kompetenz des Reichstages. Das Parlament konnte neue Einnahmen ablehnen, aber es konnte sie nicht allein durchsetzen.[11]

Besonders im Bereich der Außenpolitik waren die Mitwirkungsrechte des Parlaments begrenzt. Nur in Zoll-, Handel-, Verkehrs- und ähnlichen Bereichen war die Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen nötig (Artikel 4 und 11). Dies galt nicht für die Bündnispolitik. Entsprechende Abkommen brauchten dem Parlament nicht einmal bekannt gemacht zu werden. Die Erklärung von Krieg und Frieden war Sache des Kaisers. Er brauchte dazu zwar die Zustimmung des Bundesrates nicht aber des Reichstages.[12]

Kontrollfunktion

Mitglieder der Zentrumsfraktion

Das Parlament hatte für jeden Bereich des Regierungshandelns das Recht der Interpellation oder Petition. Für eine Interpellation bedurfte es der Zustimmung von 30 Abgeordneten. Die Beantwortung der dabei aufgeworfenen Fragen war indes dem Kanzler freigestellt. In der Regel entzog sich die Regierung kaum der Herausforderung durch die Abgeordneten. Bismark hat dies im Gegenteil für außenpolitische Fragen für Stellungnahmen genutzt. Die Kontrollfunktion wurde in den Ausschüssen weiterentwickelt. Bei einer kleineren Reform der Geschäftsordnung des Reichstages 1912 wurde zusätzlich für jeden Abgeordneten das Recht zu einer kleinen Anfrage an den Reichskanzler eingeführt. Dessen Beantwortung blieb ohne anschließende Aussprache. Des Weiteren wurde das Interpellationsrecht dahin gehend erweitert, dass über die im Raum stehende Frage abgestimmt werden konnte. Dies war etwa im Zusammenhang mit der Zabern-Affäre 1913 der Fall, als der Reichstag den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg mit großer Mehrheit kritisierte. Dies blieb allerdings ohne staatsrechtliche Folgen, weil es nur von der Geschäftsordnung nicht vom Verfassungsrecht gedeckt war.[13]

Einen Einfluss auf die Ernennung oder Entlassung des Reichskanzlers hatte der Reichstag nicht. Dies war Sache des Kaisers. Der parlamentarische Einfluss auf die Ernennung der Staatssekretäre der Reichsämter war noch geringer, waren diese doch lediglich Untergebene des Kanzlers. Der Reichskanzler war also nicht direkt an parlamentarische Mehrheiten gebunden. Er war zwar dem Reichstag gegenüber verantwortlich. Aber dieser Aspekt wurde nie klar bestimmt. Das Recht zu einem Misstrauensvotum bestand nicht. Das Parlament hatte nur die Möglichkeit mit Hilfe von Debatten und ähnlichem seine Haltung deutlich zu machen. Auch das Recht den Kanzler vor dem Reichstag zu rufen bestand nicht.[14]

Geschäftsordnung und Reichstagspräsidium

Mitglieder der Konservativen Fraktion

Für seine interne Organisation orientierte sich der Reichstag an der Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses. Diese blieb im Wesentlichen bis zum Ende des Kaiserreichs und darüber hinaus bis 1922 in Kraft. Redebeiträge sollten nach der Geschäftsordnung nur vom Rednerpult oder von den Abgeordnetenbänken erfolgen. Da sich in der Praxis viele Abgeordnete um den Tisch mit den Abstimmungskästen aufhielten, wurden von dort auch Reden gehalten und die anderen Abgeordneten gruppierten sich um die Redner und kommentierten die Beiträge. Dies wurde vom Reichstagspräsidenten meist nicht geahndet.[15]

Es gab zwar Parlamentsausschüsse aber ihr Ausbau verlief zögerlich. Ihre Mitgliederzahl richtete sich nach der Stärke der Fraktionen. Im Seniorenkonvent (d.h. Ältestenrat) einigte man sich über den Ausschussvorsitz. Im Gegensatz zur Geschäftsordnung des Reichstages der Weimarer Republik gab es keine Festlegung der Zahl oder Aufgabe bestimmter Ausschüsse.[16]

Die Abgeordneten wählten einen Reichstagspräsidenten und seine Stellvertreter. Dieser repräsentierte das Parlament nach außen und hatte die Aufgabe im Inneren die Ordnung aufrecht zu erhalten. Der Präsident legte die Tagesordnung fest. Das Parlament konnte diese nur mit einer Mehrheit ablehnen. Des Weiteren erteilte er das Wort, auch wenn es dabei meist nach der Reihenfolge der Meldungen ging. Tatsächlich gab es oft eine Rednerliste, die teilweise in Absprache mit den Fraktionen im Seniorenkonvent festgelegt wurde. Der Präsident konnte Redner zur Ordnung rufen, beantragen ihm bei Missachtung das Wort zu entziehen oder von der Sitzung auszuschließen. Beispielsweise war es unstatthaft, über die Person des Kaisers zu debattieren. Wagte dies ein Parlamentarier, griff der Präsident ein.

Eine Sonderstellung im Parlament genossen Reichskanzler und die Mitglieder des Bundesrates, fielen sie doch nicht unter die Ordnungsgewalt des Präsidenten, hatten aber das Recht gehört zu werden.[17]

Fraktionen und Seniorenkonvent

Mitglieder der Fraktion der Freisinnigen Partei

Fraktionen waren nicht Teil der Geschäftsordnung. De facto waren sie aber die entscheidende Binnengliederungen des Parlaments. Die in der Geschäftsordnung vorgesehenen ausgelosten Abteilungen spielten dagegen keine Rolle. Der Reichstag basierte auf der liberalen Vorstellung eines freien Mandates. Tatsächlich gab es fraktionslose oder sogenannte wilde Abgeordnete. Aus- und Übertritte aus den Fraktionen waren nicht selten. Dennoch wurden die Fraktionen ein zentraler Faktor der Parlamentsarbeit. Diese bestimmten letztlich die Geschäftsordnung, besetzten das Präsidium, bestimmten die Redner und die Zusammensetzung der Ausschüsse.

Die Fraktionen im Kaiserreich waren in der Regel Zusammenschlüsse von Abgeordneten derselben Partei. Die Fraktionen wählten einen Vorstand meist aus der jeweiligen Parteiführung. Neben den ordentlichen Mitgliedern gab es auch die sogenannten Hospitanten. Dies waren Mitglieder die (noch) nicht der jeweiligen Partei angehörten. Finanziert haben sich die Fraktionen durch Abgaben ihrer Mitglieder. Es fanden regelmäßige Fraktionssitzungen statt, in denen man sich über das parlamentarische Vorgehen verständigte.

Einen regelrechten Fraktionszwang gab es selten. Eine Ausnahme war die Polnische Fraktion. Dennoch war die Drohung mit Fraktionsausschluss ein wichtiges Mittel der fraktionsinternen Disziplinierung. Auch die moralische Erwartung mit der Fraktion zu stimmen ist nicht zu unterschätzen. Letztlich setzte sich die Fraktionsdisziplin immer stärker durch. Es blieb freilich immer die Möglichkeit einer Abstimmung fern zu bleiben. Am schwächsten ausgeprägt war die Fraktionsdisziplin bei den bürgerlichen Mittelparteien. Bei diesen war individuelles Abstimmungsverhalten noch lang nicht unüblich.[18]

Außerhalb der offiziellen Geschäftsordnung bewegte sich auch der Seniorenkonvent. in diesem Leitungsgremium des Parlaments kamen führender Vertreter der Fraktionen zu Abstimmung etwa über die Tagesordnung, Ausschussbesetzungen oder Verfahrensfragen zusammen. Die Entscheidungen des Seniorenkonvents unterlagen nicht dem Mehrheitsprinzip sondern wurden einstimmig getroffen. Seit etwa 1890 waren die Fraktionen je nach ihrer Stärke in dem Gremium vertreten.

Die Position des Reichstagspräsidenten gegenüber dem Seniorenkonvent hing mit dessen politischer Rückendeckung zusammen. Wenn er keiner starken Fraktion entstammte, musste er in stärkerem Maß dem Konvent folgen, als wenn er aus einer starken Fraktion kam. Eine personelle Verzahnung zwischen Reichstagspräsidium und Seniorenkonvent bestand zunächst nicht. Bis 1884 waren die Mitglieder des Präsidiums nicht auch Mitglieder des Seniorenkonvents. Seither war der erste Vizepräsident auch Leiter des Seniorenkonvents. Im Jahr 1899 übernahm der Präsident diese Funktion selbst.[19]

Stellung im Machtgefüge

Mitglieder der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion 1889

Auch wenn die Verantwortlichkeit der Regierung vor dem Parlament Grenzen hatte, war der Kanzler doch auf die Zustimmung des Parlaments für Gesetze und den Haushalt angewiesen. Im Zeitalter des Rechtspositivismus war eine Herrschaft gestützt auf Verordnungen nicht mehr möglich. Das neugegründete Reich benötigte zahlreiche Gesetze, und die immer komplexer werdende Wirtschaft und Gesellschaft führte zu einem weiteren Bedarf an gesetzlichen Regelungen.[20]

Der Kanzler brauchte damit Mehrheiten im Reichstag. Die Bedeutung des Reichstages wuchs im Zusammenhang mit strukturellen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Das allgemeine Wahlrecht hatte eine politische Massenmobilisierung zur Folge. Die Wahlbeteiligung stieg von 51 % 1871 auf 85 % 1912. Die Parteien und Interessenverbände jeglicher Art formulierten ihre Interessen und brachten diese im Parlament wirkungsvoll zur Geltung. Der Reichstag hatte insofern im institutionalisierten Entscheidungsgefüge des Reiches eine zentrale Schlüsselstellung inne. Allerdings nutzten die Parlamentarier diese Position nur sehr zögerlich, um eine Parlamentarisierung des Reiches voranzutreiben.[21]

Die Position des Reichstages gegenüber der Regierung hing natürlich auch von der inneren Struktur und den Mehrheitsverhältnissen ab. Das deutsche Mehrparteiensystem erschwerte eine parlamentarische Mehrheitsbildung. Bismarck etwa spielte die Parteien gegeneinander aus, setzte auf wechselnde Mehrheiten oder gefügige Koalitionen. Seit der konservativen Wende von 1878/79 beschränkten sich die Fraktionen häufig auf das Reagieren und Verhindern von Regierungsmaßnahmen. Die gering ausgeprägte Kompromissbereitschaft der Parteien untereinander erleichterte der Regierung die Durchsetzung ihrer Ziele. Notfalls griff sie zum Mittel der Parlamentsauflösung. Im anschließenden Wahlkampf sollten teilweise demagogische Kampagnen dafür sorgen, dass die Wahlen im Sinne der Regierung ausfielen. Die Möglichkeit der Auflösung spielte im Hintergrund für parlamentarische Entscheidungen immer eine Rolle.

Nach der Ära Bismarck verlor die Auflösungsdrohung immer mehr an Bedeutung. Dabei spielte eine Rolle, dass sich feste politische Wählerlager ausbildeten. Für die Regierung gab es kaum noch mobilisierbare Nichtwähler zu gewinnen. Bis auf die Wahl von 1907 brachten Neuwahlen keine Veränderungen mehr mit sich, die die Position der Regierungen verbessert hätten. Aber der Gegensatz der politischen Lager hat sich weiter verschärft, was ein gemeinsames Handeln gegen die Regierung erschwerte.[22]

Präsidenten des Reichstages

Präsidenten des Deutschen Reichstages (1871–1918)
Nr. Name Amtsantritt Ende der Amtszeit
1 Eduard Simson 1871 1874
2 Maximilian Franz August von Forckenbeck 1874 1879
3 Otto Theodor von Seydewitz 1879 1880
4 Adolf Graf von Arnim-Boitzenburg 1880 1881
5 Gustav Konrad Heinrich von Goßler 1881 1881
6 Albert Erdmann Karl Gerhard von Levetzow 1881 1884
7 Wilhelm von Wedell-Piesdorf 1884 1888
8 Albert Erdmann Karl Gerhard von Levetzow 1888 1895
9 Rudolf Freiherr von Buol-Berenberg 1895 1898
10 Franz von Ballestrem 1898 1907
11 Udo Graf zu Stolberg-Wernigerode 1907 1910
12 Hans Graf von Schwerin-Löwitz 1910 1912
13 Johannes Kaempf 1912 1918
14 Konstantin Fehrenbach 1918 1918


Bedeutende Reichstagsabgeordnete der Kaiserzeit

Reichstag: Innenansicht und Plan, Meyers Konversations-Lexikon 1905

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. II.: Machtstaat vor der Demokratie. München, 1992 S. 102.
  2. Winfried Halder: Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914. Darmstadt, 2003 S. 8f.
  3. Winfried Halder: Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914. Darmstadt, 2003 S. 17.
  4. Winfried Halder: Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914. Darmstadt, 2003 S. 18f, Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. II.: Machtstaat vor der Demokratie. München, 1992 S. 105, Marion Reiser: Zwischen Ehrenamt und Berufspolitik Professionalisierung der Kommunalpolitik in deutschen Großstädten. Wiesbaden, 2006 S. 55f.
  5. Zahlen nach Tormin: Geschichte deutscher Parteien, S. 282 f. Hinweise: Sozialdemokraten umfassen bis 1874 die SDAP und den ADAV, unter Minderheiten sind subsumiert: Welfen, Polen, Dänen, Elsaß-Lothringer, unter Sonstige finden sich bis 1878 (Alt-)Liberale, Deutsche Volkspartei, 1881 und 1884 nur Deutsche Volkspartei, 1887 außerdem 1 Abg. der Christlich-Sozialen Partei und zwei weitere Abg.
  6. Norbert Achterberg: Parlamentsrecht. Tübingen 1984, S. 28.
  7. Winfried Halder: Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914. Darmstadt 2003, S. 17f., Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie. München 1992, S. 104f.
  8. Zahlen nach Loth: Kaiserreich, S. 236. Unter Linksliberale sind Deutsche-Friesinnige Partei, ab 1893 Freisinnige Volkspartei und Freisinnige Vereinigung, ab 1910 Fortschrittliche Volkspartei subsumiert.
  9. Winfried Halder: Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914. Darmstadt, 2003 S. 18.
  10. Heiko Bollmeyer: Der steinige Weg zur Demokratie: Die Weimarer Nationalversammlung zwischen Kaiserreich und Republik. Frankfurt am Main, 2007 S. 63.
  11. Winfried Halder: Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914. Darmstadt, 2003 S. 18, Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. II.: Machtstaat vor der Demokratie. München, 1992 S. 103f.
  12. Winfried Halder: Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914. Darmstadt, 2003 S. 18.
  13. Heiko Bollmeyer: Der steinige Weg zur Demokratie: Die Weimarer Nationalversammlung zwischen Kaiserreich und Republik. Frankfurt am Main, 2007 S. 65, Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. II.: Machtstaat vor der Demokratie. München, 1992 S. 104.
  14. Norbert Achterberg: Parlamentsrecht. Tübingen, 1984 S. 28.
  15. Heiko Bollmeyer: Der steinige Weg zur Demokratie: Die Weimarer Nationalversammlung zwischen Kaiserreich und Republik. Frankfurt am Main, 2007 S. 62f.
  16. Raban von Westphalen: Deutsches Regierungssystem. München u.a., 2001 S. 37f.
  17. Heiko Bollmeyer: Der steinige Weg zur Demokratie: Die Weimarer Nationalversammlung zwischen Kaiserreich und Republik. Frankfurt am Main, 2007 S. 63f
  18. Michael Winkler: Die Parlamentsfraktionen im deutsch-spanischen Rechtsvergleich. Berlin, 1997, S. 26–29, Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. II.: Machtstaat vor der Demokratie. München, 1992 S. 105
  19. Raban von Westphalen: Deutsches Regierungssystem. München u.a., 2001 S. 36f.
  20. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. II.: Machtstaat vor der Demokratie. München, 1992 S. 103.
  21. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der deutschen Doppelrevolution bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849–1914. Beck, München 1995, S. 864f.
  22. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. II.: Machtstaat vor der Demokratie. München, 1992 S. 105–107

Literatur

  • Michael Stürmer: Regierung und Reichstag im Bismarckstaat 1871–1881. Cäsarismus oder Parlamentarismus? Düsseldorf, 1974
  • Manfred Rauh: Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches. Düsseldorf, 1977
  • Winfried Halder: Innenpolitik im Kaiserreich 1871–1914. Darmstadt, 2011
  • Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. II.: Machtstaat vor der Demokratie. München, 1992 S. 202–207.

Weblinks

Commons: Reichstag (Deutsches Kaiserreich) – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource: Themenseite Reichstag – Quellen und Volltexte
Vorlage:Navigationsleiste Mitglied des Reichstags des Deutschen ReichsVorlage:Navigationsleiste Reichstagspräsident (Deutsches Kaiserreich)