Sèvres-Syndrom

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Karte des Vertrags von Sèvres mit den Interessensgebieten der Triple Entente und Gebietsabtretungen an Armenien und Griechenland.

Das sogenannte Sèvres-Syndrom (türkisch Sevr Sendromu)[1][2][3] ist eine in der heutigen Türkei verbreitete[4][5] Verschwörungstheorie, wonach „ausländische Mächte“[6][7][8][9] mit vereinten Kräften aus dem Hintergrund die Türkei schwächen und vernichten wollen.[10]

Hintergrund[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Begriff geht auf den Vertrag von Sèvres von 1920 zwischen dem Osmanischen Reich, Armenien, Griechenland, Großbritannien, Frankreich und Italien zurück. Nach den Bestimmungen dieses Vertrages wurden große Teile des Osmanischen Reiches abgetrennt und anderen Territorien zugeschlagen bzw. unter den dezidierten Einfluss der anderen Vertragsmächte gestellt. Lediglich das anatolische Kerngebiet um Angora wäre dadurch unter osmanischer Herrschaft verblieben. Allerdings wurde der Vertrag wegen des Türkischen Befreiungskrieges unter dem Gründer des türkischen Staates, Mustafa Kemal Atatürk, nie umgesetzt.[11] Der türkische Geschichtswissenschaftler Taner Akçam beschreibt diese Einstellung als eine andauernde Sichtweise, dass „es Mächte gibt, die ständig anstreben, uns zu zerstückeln und zu zerstören, und dass es notwendig sei, den Staat vor dieser Gefahr zu verteidigen.“[12]

Inhalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Syndrom bezieht sich „auf eine bestimmte Art der Wahrnehmung und sich daraus ergebende Reaktionsmuster, […] die in einer traumatischen Vergangenheitserfahrung mit dem Westen verwurzelt sind und die später nicht revidiert wurden, unabhängig davon, wie sich die tatsächlichen Beziehungen mit dem Westen im Laufe der Jahre verändert haben.“ Es beruht auf „tief verwurzelter Erinnerung und damit verbundener ebenso tief verwurzelter Politik der türkischen nationalistischen Eliten gegenüber dem Westen und seinen inländischen Verbündeten.“[13]

Der dänische Politikwissenschaftler Dietrich Jung beschreibt diese Begriffe als „die Annahme, von Feinden umzingelt zu sein, welche die Zerstörung des türkischen Staates beabsichtigen“ und stellt fest, dass es eine bedeutende Determinante der türkischen Außenpolitik sei.[14] Der Begriff wurde 1987 im Zusammenhang mit dem Kurdenkonflikt in der Türkei verwendet;[15] er beschreibt die Einstellung von türkisch-rechtsextremistischen Kreisen zum türkischen EU-Beitritt.[16] Auch die türkische Leugnung des Völkermords an den Armeniern wird unter anderem auf das Sèvres-Syndrom zurückgeführt.[17]

Entsprechend der Ausführung von Fatma Müge Göçek unterscheidet die Literatur zum Sèvres-Syndrom drei Entwicklungsstufen des „Syndroms“:[18]

  • die anfangs vorübergehenden Auswirkungen des Vertrages von Sèvres auf Staat und Gesellschaft in Form von Furcht und Angst
  • die Verhandlungen während der radikalen Europäisierung der türkischen Republik (Kemalismus), die durch das Militär und die Republikanische Volkspartei angeführt wurde, innere und äußere Feinde sind in dieser Phase definiert
  • das institutionalisierte Syndrom wird radikalisiert, als ultra-nationalistische Parteien versuchen, solche wahrgenommenen Feinde aus dem türkischen Volkskörper systematisch auszuschließen

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Fatma Müge Göçek: The Transformation of Turkey. Redefining State and Society from the Ottoman Empire to the Modern Era. Hrsg.: I.B.Tauris. London 2011, ISBN 978-1-84885-611-0.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Şahin Alpay: 'Sevr Sendromu' nedir ve neden azar? Zaman, 7. Juli 2009, archiviert vom Original am 25. Dezember 2013; abgerufen am 25. Juli 2013 (türkisch).
  2. Melih Altınok: Yeni Sevr sendromu da bu mu. Taraf, 19. Juni 2012, archiviert vom Original am 13. September 2013; abgerufen am 25. Juli 2013 (türkisch).
  3. Cengiz Çandar: Nabucco imzası 'Sevr sendromu'nun defin belgesidir. Radikal, abgerufen am 25. Juli 2013 (türkisch).
  4. Nasuh Uslu: Turkish Foreign Policy In The Post-Cold War Period. Hrsg.: Nova Science Publishers. Hauppauge, N.Y. 2004, ISBN 978-1-59033-742-4, S. 15.
  5. Morton Abramowitz: Turkey’s Transformation and American Policy. Hrsg.: Century Foundation Press. New York 2000, ISBN 978-0-87078-453-8, S. 141 (englisch): “Previously rarely raised, Sevres became a ‘common’ word in the Turkish political lexicon in the 1990s.”
  6. Daniella Kuzmanovic: Refractions of Civil Society in Turkey. Hrsg.: Palgrave Macmillan. New York 2012, ISBN 978-1-137-02791-7, S. 46 (englisch): “The Sèvres Syndrome presents a narrative foreign powers and consistently pursuing a hidden agenda when it comes to Turkey, an agenda that entails wanting to destroy the Turkish nation and undermine its sovereignty.”
  7. David L. Phillips: Unsilencing the Past: Track Two Diplomacy And Turkish-Armenian Reconciliation. Berghahn Books, 2004, ISBN 978-1-84545-007-6, S. 42.
  8. Hans-Lukas Kieser: Turkey Beyond Nationalism: Towards Post-Nationalist Identities. Hrsg.: Tauris. London 2006, ISBN 978-1-84511-141-0, S. 232 (englisch): “The fear of conspiracies directed toward Turkey by international actors is often referred to as the ‘Sevres Syndrome’. It is the belief that the international community, and in particular the Western world, aspire to revive the terms of the Sevres Treaty imposed on the Ottoman Empire after the end of the First World War and basically divide up Turkey into smaller ethnic states.”
  9. William Hale: Turkish Foreign Policy, 1774–2000. Hrsg.: Routledge. 2012, ISBN 978-1-136-23802-4, The Alliance Under Stress, 1991–9 (books.google.com).
  10. Fatma Müge Göçek, I. B. Tauris (Hrsg.): The Transformation of Turkey. Redefining State and Society from the Ottoman Empire to the Modern Era. S. 105.
  11. Fatma Müge Göçek, I. B. Tauris (Hrsg.): The Transformation of Turkey. Redefining State and Society from the Ottoman Empire to the Modern Era. S. 116.
  12. Taner Akçam: From Empire to Republic: Turkish Nationalism and the Armenian Genocide. Hrsg.: Zed Books. London 2005, ISBN 978-1-84277-527-1, S. 230.
  13. Hakan Yilmaz: Euroskeptizismus in der Türkei. Parteien, Eliten und öffentliche Meinung, 1995–2006. In: Gabriele Clemens (Hrsg.): Die Türkei und Europa. Lit, Münster 2007, ISBN 3-8258-0782-7, S. 236.
  14. Dietrich Jung: The Sèvres Syndrome: Turkish Foreign Policy and its Historical Legacies. The University of North Carolina at Chapel Hill, archiviert vom Original am 30. Oktober 2018; abgerufen am 23. Juli 2013.
  15. Stephen Kizner: Turks See Throwback to Partition in Europe’s Focus on Kurds. In: The New York Times. 7. Dezember 1998, abgerufen am 24. Juli 2013 (englisch): „With the Sevres treaty dead, most of the world forgot it. Turks, though, did not. Many are convinced that the world is still plotting to dismember Turkey. They see every claim for regional or cultural autonomy, including those put forward by Kurdish nationalists, as means to this end. Turkish historians and sociologists call this belief the Sevres syndrome.
  16. Fatma Müge Göçek, I. B. Tauris (Hrsg.): The Transformation of Turkey. Redefining State and Society from the Ottoman Empire to the Modern Era. S. 109.
  17. Die Türkei und das "Sèvres-Syndrom". Hamburger Abendblatt. 19. April 2016. Abgerufen am 2. Juli 2016.
  18. Fatma Müge Göçek, I. B. Tauris (Hrsg.): The Transformation of Turkey. Redefining State and Society from the Ottoman Empire to the Modern Era. S. 110.