Ulrike Wagner-Rau

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Ulrike Wagner-Rau (* 14. Juni 1952 in Hamburg) ist eine deutsche praktische Theologin und Hochschullehrerin.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Sie studierte bis 1977 Evangelische Theologie und schloss dieses mit dem ersten kirchlichen Examen ab. Anschließend absolvierte sie von 1978 bis 1980 ein Vikariat und wurde 1980 ordiniert. Von 1980 bis 1986 war sie Pastorin, erst in Bad Bramstedt und danach in Hamburg. Anschließend arbeitete sie von 1987 bis 1997 als wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Universität Kiel. Hier wurde sie auch 1992 promoviert. 1997 wechselte sie auf die Stelle der Studienleiterin am Prediger- und Studienseminar der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Preetz, wo sie bis 2002 angestellt war. 1999 habilitierte sie sich. Seit 2002 war sie Professorin für Praktische Theologie an der Universität Marburg. Zum Ende des Wintersemesters 2017/2018 wurde sie emeritiert.

Theologie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Neben den Feldern Pastoraltheologie und Kasualien liegt ein Forschungsschwerpunkt auf Seelsorge, weswegen sie in dem Sammelband "Praktische Theologie. Ein Lehrbuch" (2017) den Beitrag zur Seelsorge geschrieben hat, worin sie ihr Seelsorgeverständnis entfaltet.[1]

Als grundlegende Herausforderung des kirchlichen Handlungsfelds Seelsorge gilt für sie die Verbindung von religiöser Überzeugung mit lebensgeschichtlicher Situation. Es stelle sich auch die Frage, was Seelsorge im Unterschied zu anderen unterstützenden Kommunikationsformen als spezifisch religiös auszeichnet. Dem Anspruch nach haben Christen ein offenes Ohr für ihre Mitmenschen, die Pfarrperson genieße aufgrund der Verschwiegenheit ein besonderes Vertrauen und habe somit eine größere Verantwortung. Aufgrund anderer Berufsgruppen mit spezieller Qualifikation (Medizin, Psychotherapie) wachsen die Anforderungen an die Professionalität der Seelsorge von Haupt- und Ehrenamtlichen.

Zur Orientierung im Handlungsfeld diene die grundsätzliche poimenische Unterscheidung von cura animarum generalis (allgemeine Seelsorge in Gottesdienst Gemeinschaft, …) und cura animarum specialis (spezielle Seelsorge im Austausch von Einzelnen oder Gruppen). Die Vielfalt der Seelsorge zeichne sich durch ihre Anlässe (Alltagsbegegnungen, Kasualgespräche, Krisengespräche, Konfliktsituationen, weisheitliche Fragen der Lebenskunst, Notfallseelsorge), Orte (Krankenhaus, Beratungsstellen, Polizei, Militär, Gefängnis, Flughafen), Medien (Briefe, Telefon, Internet), Professionalisierungsgrade (Gemeinde, Ehrenamtlich, Pfarrpersonen, Diakoninnen, Gemeindepädagogen, Funktionspfarrämter) aus. Es gebe zwei grundsätzliche Gestalten von Seelsorge, nämlich Gespräch und Ritual. Als typische Kommunikationsmedien gelten Bibel, andere Texte, Musik, Bilder, Kunst.

Empirische Befunde aus Kirchenmitgliedschafts- und Berufsselbstverständnisuntersuchungen zeigen, dass Seelsorge als eine kirchliche Aufgabe erwartet werde und Pfarrpersonen sich mit dem Leitbild "Seelsorger/-in" identifizieren. Seelsorge arbeite empirisch und fallorientiert, die Selbstäußerungen von Personen können als "living human document" (Boisen) verstanden werden. Der Zusammenhang von Religion und Gesundheit sei empirisch untersucht worden und zeige, dass Religion Resilienz stärken kann – andererseits können rigide Gottesbilder und strikte soziale Kontrolle von Religionsgemeinschaften auch krank machen.

Unter historisch-systematischer Betrachtung ergeben sich als Grundspannungen die zwischen Zuwendung zu Leidenden und Überwindung von Leid, zwischen Erlösung/Vergebung und Verdammnis/Gericht, zwischen Lieben und dem Scheitern an ihr. In der Alten Kirche und im Mittelalter spielten Buße, Beichte, Seelsorge an Leidenden und das mystische Streben nach Vereinigung mit Gott eine Rolle. In der Reformation machte Luther sich für den Trost durch Vergebung stark, während die reformierte Tradition Besserung und Kirchenzucht akzentuierten. Pietismus und Aufklärung fokussieren das Subjekt und die persönliche Glaubensbiografie. Schleiermacher setzt die Freiheit und Mündigkeit der Seelsorgesuchenden voraus und möchte diese fördern. Pfister und Haendler gelten als Wegbereiter einer psychologisch aufgeklärten Seelsorge, weil sie Freud und Jung für die Praktische Theologie fruchtbar machten. Thurneysen sah die Rolle der Psychologie auf eine Hilfswissenschaft beschränkt und prägte die kerygmatische Seelsorge, in der es im Optimalfall zu einem Bruch kommt, der in Gebet und Beichte mündet. Demgegenüber setzte sich aber die Pastoralpsychologie durch (Stollberg, Scharfenberg, Winkler): „Professionelle Seelsorge ist heute nur als eine psychologisch aufgeklärte und methodisch reflektierte Praxis denkbar“ (186).

Zu den praktisch-theologischen Grundbestimmungen gehöre die Unterscheidung von impliziter (Selbstverständnis der Beteiligten, kirchlicher Kontext, religiöse Konnotationen) und expliziter (Glaubensthemen, christliche Rituale, Bibel, …) Religion. Anthropologisch werden im Begriff "Seele" emotionale, geistige, leibliche und soziale Erlebensmuster integriert. Geschöpflichkeit und Gottesebenbildlichkeit begründen den Respekt vor der Würde des Anderen, die das Wissen um die Fragmentarität des Lebens und die seelsorgerliche Verschwiegenheit einschließen und psychischen oder sexuellen Missbrauch ausschließen. Mit Klessmann gesprochen sei Seelsorge Begleitung, die Verständnis zeige, Begegnung, die das Fremde aufeinandertreffen lasse, und Lebensdeutung mit sinnstiftendem Potential.

Als aktuelle Diskurse werden das Verhältnis von Seelsorge zu Ethik (wo eine klare eigene Position und Respekt vor der Entscheidung der anderen erforderlich sei), Spiritual Care und anderen Kulturen oder Religionen genannt. Als Zukunftsfragen werden der Zeitmangel von Hauptamtlichen, die Stärkung des Ehrenamts, Aus- und Weiterbildungsmodelle sowie Sparprozesse mit ihren Auswirkungen auf Sonderseelsorge und drohender Selbstabschließung der Kirchen angedeutet.

Veröffentlichungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Monographien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Zwischen Vaterwelt und Feminismus. Eine Studie zur pastoralen Identität von Frauen, Gütersloh 1992
  • Segensraum. Kasualpraxis in der modernen Gesellschaft, Stuttgart 2000, erweiterte und grundlegend überarbeitete 2. Auflage 2008
  • Auf der Schwelle. Das Pfarramt im Prozess kirchlichen Wandels, Stuttgart 2009, 2. Auflage 2011

Herausgeberschaften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Peter Cornehl, "Die Welt ist voll von Liturgie". Bausteine für eine integrative Gottesdienstpraxis, Stuttgart 2005
  • Gott ins Spiel bringen. Handbuch zum Neuen Evangelischen Pastorale, herausgegeben gemeinsam mit Klaus Eulenberger / Lutz Friedrichs, Gütersloh 2007
  • Die halbierte Emanzipation? Fundamentalismus und Geschlecht, hg. gem. mit Elisabeth Rohr und Mechthild Jansen, Königstein 2007
  • Das neue Kleid. Feministisch-theologische Perspektiven auf geistliche und weltliche Gewänder, Sulzbach/Taunus 2010 (gemeinsam mit Elisabeth Hartlieb und Jutta Koslowski)
  • Differenz-Kompetenz. Religiöse Bildung in der Zeit, Festschrift für Bernhard Dressler, Leipzig 2012 (gemeinsam mit Thomas Klie und Dietrich Korsch)
  • Geschlechterverhältnisse und Pfarrberuf im Wandel. Irritationen, Analysen und Forschungsperspektiven, Stuttgart 2013 (gemeinsam mit Simone Mantei und Regina Sommer)

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Wagner-Rau: Seelsorge. In: Praktische Theologie. Ein Lehrbuch. 2017, S. 171–192.