Urslawisch

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Urslawisch

Gesprochen in

Mitteleuropa, Osteuropa, Südwest und Balkanhalbinsel
(vor dem 7. Jahrhundert)
Linguistische
Klassifikation

Urslawisch (auch: Protoslawisch) ist der hypothetische gemeinsame Vorfahre (die Ursprache) der slawischen Sprachen.

Diese Ursprache ist nicht direkt überliefert. Aus diesem Grund müssen ihre Laute und Wörter durch Methoden der vergleichenden Sprachwissenschaft erschlossen werden. Nicht belegte Formen werden in der Historischen Linguistik mit einem Sternchen markiert: *golva (Kopf), *rǫka (Hand) etc. Viele der Wörter in den modernen slawischen Sprachen stammen durch Lautverschiebungen von diesen „Urwörtern“ ab.

Geschichte

Das Urslawische entwickelte sich aus dem Indogermanischen. Unter Linguisten ist umstritten, ob es sich direkt von der indogermanischen Ursprache abspaltete, oder ob es zunächst zusammen mit den baltischen Sprachen eine gemeinsame balto-slawische Sprache bildete. Zu jener Zeit verfügten die slawischen Stämme (soweit bekannt) über keine Schrift und so existieren keine schriftlichen Aufzeichnungen der slawischen Ursprache.

Als Ende der gemeinsamen Ursprache kann die Zeit der „slawischen Völkerwanderung“ verschiedener slawischer Stämme ab dem 5. Jahrhundert im Anschluss an die germanische Völkerwanderung angesehen werden.

Die erste slawische Schriftsprache ist das Altkirchenslawische, das ab dem 9. Jahrhundert schriftlich festgehalten wurde und von dem angenommen wird, dass es dem Urslawischen noch sehr nahestand.

Grammatik – Phonologie

Vokale

Das Urslawische verfügte in seiner Spätphase über 11 Vokale, die mit Ausnahme von ь und ъ alle kurz oder lang sein konnten. Sie werden in der Slawistik üblicherweise wie folgt dargestellt: i, ь, e, ę, ě, a, o, ǫ, ъ, y, u.

  • ь, ъ – sehr kurze (reduzierte) Vokale oder Halbvokale, vermutlich [ɪ] beziehungsweise [ɯ];
  • ę, ǫ – nasale Vorder- und Hinterzungenvokale
  • ě - Jat, vermutlich [æː]
  • y – vermutlich [ɯː] oder als Diphthong [ɯi]
  • Die Existenz silbischer Konsonanten im Urslawischen ist umstritten. Von einigen Sprachwissenschaftlern werden die Gruppen ъl, ьl, ъr, ьr anstelle der silbischen Konsonanten l̥, ĺ̥, r̥, ŕ̥ vorgeschlagen.

Konsonanten

Die Konsonanten des Urslawischen in seiner Spätphase sind in folgender Tabelle (in der in der Slawistik üblichen Schreibweise) dargestellt:

Das Konsonanteninventar des Urslawischen
  bilabial dental palatalisiert dental alveolar palatalisiert alveolar palatal velar
Plosive p, b t, d t’, d’       k, g
Affrikaten     c, ʒ   č, ǯ    
Frikative v s, z s’   š, ž   x
Nasale m n   n’      
Liquida   l l’ r r’ j  
  • Paarweise Einträge in der Tabelle bezeichnen jeweils den entsprechenden stimmlosen (links) und stimmhaften (rechts) Konsonanten
  • c steht für die stimmlose Affrikate [ʦ]
  • ʒ steht für die stimmhafte Affrikate [ʣ]
  • x steht für den stimmlosen velaren Frikativ [x]
  • š, č, ž and ǯ stehen für die Laute [ʃ], [ʧ], [ʒ] und [ʤ]
  • ’ steht für das Weichheitszeichen, d. h. für die Palatalisierung des vorangehenden Lautes

Schreibweise

In der Slawistik werden zur Transkription der urslawischen Laute (und Wörter) üblicherweise die oben dargestellten Symbole verwendet und nicht ihre entsprechenden IPA-Symbole.


Wortschatz

Der Wortschatz des Urslawischen kann teilweise mit Methoden der vergleichenden Sprachwissenschaft anhand später schriftlich festgehaltener slawischer Sprachen sowie überlieferter slawischer Wörter in anderen Sprachen rekonstruiert werden.

In folgender Tabelle sind einige Wörter des Urslawischen zusammen mit Beispielen aus anderen slawischen Sprachen dargestellt. Die kursiv geschriebenen Ausdrücke stellen Transliterationen mit lateinischen Buchstaben dar. Das h steht bei den südslawischen Sprachen (außer Altkirchenslawisch) für den stimmlosen velaren Frikativ [x]. Die kyrillischen Zeichen ь und ъ stehen für die reduzierten Vokale, welche nur im Urslawischen und Altkirchenslawischen vorkommen. In den heutigen slawischen Sprachen sind diese Laute nicht mehr vorhanden. Daher werden die Zeichen ь und ъ in Wörtern heutiger Sprachen transliteriert. So steht das für das Weichheitszeichen, d. h. für die Palatalisierung des vorangehenden Lautes. Rekonstruierte, nicht belegte Formen werden mit einem vorangestellten Sternchen * markiert.

Vergleich zwischen dem Urslawischen und einigen slawischen Sprachen
Urslawisch Südslawisch Ostslawisch Westslawisch Deutsch
Altksl. Kroatisch Serbisch Bosnisch Bulgarisch Mazedonisch Slowenisch Belarussisch Russisch Ukrainisch Kaschubisch Niedersorbisch Obersorbisch Polnisch Slowakisch Tschechisch
*golva глава (glava) glava глава (glava) glava глава (glava) глава (glava) glava галава (halava) голова (golova) голова (holova) głowa głowa hłowa głowa hlava hlava Kopf
*oko око (oko) oko око (oko) oko око (oko) око (oko) oko вока (voka) око (okо) oко òkò woko woko oko oko oko Auge
*ucho ухо (ucho) uho уво (uvo) uho ухо (uho) уво (uvo) uho вуха (vucha) ухо (ucho) вухо (vucho) ùchò wucho wucho ucho ucho ucho Ohr
*nosъ nos нос (nos) nos нос (nos) нос (nos) nos нос (nos) нoс (nos) ніс (nіs) nos nos nós nos nos nos Nase
*rǫka рѫка (rǫka) ruka рука (ruka) ruka ръка (răkа) рака (raka) roka рука (ruka) рука (ruka) рука (ruka) rãka ruka ruka ręka ruka ruka Hand/Arm
*noga нога (noga) noga нога (noga) noga крак (krak) нога (noga) noga нага (naha) нога (noga) нога (noha) noga noga noha noga noha noha Fuß/Bein
*sr̥dьce срьдьце (srьdьce) srce срце (srce) srce сърце (sărcе) срце (srce) srce сэрца (sėrca) сердце (serdce) серце (serce) serce wutšoba wutroba serce srdce srdce Herz
*mati мати (mati) majka/mater мајка/матер (majka/mater) majka/mater майка (majka) мајка (majka) mati маці (maci) мать (mat’) мати (maty) matka maś mać matka matka matka Mutter
*otьcь отьць (otьcь) otac отац (otac) otac татко/баща (tatko/baštа) татко (tatko) oče бацька (bac’ka) отец (otec) батько (bat’ko) òjc/tatk nan nan ojciec otec otec Vater
*sestra сестра (sestra) sestra сестрa (sestra) sestra сестрa (sestra) сестра (sestrа) sestra сястра (sjastra) сестра (sestra) сестра (sestra) sostra sotša sotra siostra sestra sestra Schwester
*bratrъ братръ (bratrъ) brat брат (brat) brat брaт (brat) брат (brat) brat брат (brat) брат (brat) брат (brat) brat bratš bratr brat brat bratr Bruder
*dъkti дъшти (dъšti) kći ћерка (ćerka) kći дъщеря (dăšterjа) ќерка (ḱerka) hči дачка (dačka) дочь (doč’ ) дочка (dočka) córka źowka dźowka córka dcéra dcera Tochter
*synъ сынъ (synъ) sin син (sin) sin син (sin) син (sin) sin сын (syn) сын (syn) син (syn) syn syn syn syn syn syn Sohn

Literatur

  • Bernard Comrie, Greville Corbett (Hrsg.): The Slavonic languages. Routledge, London 1993, ISBN 0-415-28078-8.
  • Sebastian Kempgen u. a. (Hrsg.): Die slavischen Sprachen / The Slavic Languages. Halbband 2, Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 32.2 (HSK), De Gruyter Mouton, Berlin, 2014, ISBN 3-110-17153-8.
  • Roland Sussex, Paul Cubberley: The Slavic Languages. S. 25–41, Cambridge Language Surveys, Cambridge University Press, Cambridge 2006, ISBN 978-0-521-22315-7.

Weblinks