EU-Skepsis

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Vielsprachiger Protest gegen die EU-Verfassung

Als EU-Skepsis oder Europaskeptizismus wird eine große Bandbreite inhaltlicher Positionen bezeichnet, deren gemeinsames Merkmal eine kritische Auseinandersetzung darstellt: mit dem Prozess der europäischen Integration oder mit einem Demokratiedefizit, mit dem supranationalen politischem System oder mit den Zielen der Europäischen Union bzw. mit Elementen der EU-Finalitätsdebatte. Lazaros Miliopoulos sieht den Begriff oft sehr unpräzise verwendet – mehr im Sinne eines journalistischen Labels als im Sinne der politischen Theorie. „Ordnungsliberale Gegner des Euro und Kritiker des Umgangs der EU und der Europäischen Zentralbank (EZB) mit der Europäischen Staatsschuldenkrise werden in gleicher Weise als Euroskeptiker bezeichnet wie linke, nationalkonservative und rechtsnationale Gruppierungen. Extremistische Organisationen fallen ebenso unter das Etikett wie gemäßigte Kräfte von rechts wie links.“[1]

Wie im Brexit-Referendum von 2016 wird mit EU-Skepsis häufig der Wunsch verbunden, nationalstaatliche Souveränität zu bewahren oder wiederherzustellen. Aus der genau entgegengesetzten Position des europäischen Föderalismus wird das bestehende Unionsgefüge von denen kritisiert, die statt der supranationalen Union einen Bundesstaat bzw. die Vereinigten Staaten von Europa machen wollen. Auch im Europäischen Parlament sind EU-skeptische Abgeordnete unterschiedlicher politischer Ausrichtung vertreten. Dabei spricht manches dafür, dass die medial wahrgenommene und politisch artikulierte Skepsis gegenüber der EU und dem Euro die in der EU-Bevölkerung tatsächlich vorhandene Ablehnung zu übersteigen scheint. Tatsächlich zeigen Umfragen nämlich, dass eine große Mehrheit der EU-Bürger die Europäische Union grundsätzlich unterstützen.[2][3]

Geschichte und Argumentationslinien

Die Kritik an den supranationalen Institutionen war bereits früh ein Bestandteil der Geschichte des europäischen Integrationsprozesses. So fürchtete etwa die deutsche SPD in den fünfziger Jahren, die europäische Integration könnte ein Hindernis für die deutsche Wiedervereinigung werden; später betrieb sie eine integrationsfreundliche EU-Politik. Charles de Gaulle, französischer Staatspräsident von 1958 bis 1969, vertrat in den 1960er Jahren eine strikt intergouvernementalistische EU-Politik, die auf die Schwächung der supranationalen Kommission und eine Umwandlung der Europäischen Gemeinschaften in einen Staatenbund abzielte. Am Deutlichsten war die Ablehnung einer supranationalen Integration in Großbritannien, das fürchtete, auf diese Weise seine – tatsächliche oder gefühlte – politische Großmachtstellung zu verlieren. Darum schloss sich das Vereinigte Königreich zunächst auch den Europäischen Gemeinschaften nicht an und gründete stattdessen die rein intergouvernementale EFTA. Erst nach deren Scheitern bemühte sich Großbritannien um einen EG-Beitritt, der am 1. Januar 1973 erfolgte. Auch danach vertrat es bei weiteren Integrationsschritten meist zurückhaltende Positionen. Dennoch wurde die grundsätzliche Notwendigkeit einer europäischen Integration in allen westeuropäischen Ländern nur von einer Minderheit in Frage gestellt.

Erst seit den 1980er Jahren intensivierte sich die öffentliche Debatte über die EU, wodurch auch EU-skeptische Positionen stärker Gehör fanden. Insbesondere schlug sich dies in den Referenden nieder, mit denen in mehreren Mitgliedstaaten verschiedene EU-Vertragsreformen abgelehnt wurden, nämlich 1992 der Vertrag von Maastricht in Dänemark, 2000 der Vertrag von Nizza in Irland, 2005 der EU-Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden und 2008 der Vertrag von Lissabon wiederum in Irland.

Die Gründe für die Ablehnung einer supranationalen Integration sind dabei vielfältig. Ein oft vertretenes Argument ist die Sorge um die nationale Unabhängigkeit, die eigene Lebensart und Identität. Besonders in Mittelosteuropa wird als Reaktion auf die jahrzehntelange Abhängigkeit von der Sowjetunion die nationale Souveränität und Würde betont. Umgekehrt fürchten EU-Skeptiker in Westeuropa durch die rasche EU-Erweiterung eine zu große Heterogenität im Wertesystem der EU und begründen damit ihre Ablehnung einer fortschreitenden Integration.

Für die im Brexit-Befürworter spielte die Flüchtlingskrise in Europa ab 2015, bei der Ausländer aus ärmeren Ländern ins Vereinigte Königreich geströmt seien, weil man die Kontrolle der eigenen Grenzen an die EU abgegeben habe, eine wichtige Rolle: Take back control („Kontrolle wiedererlangen!“) bzw. I want my country back („Ich will mein Land zurückhaben“; Anlehnung an das Motto „I want my money back“ von Margaret Thatcher) lauteten die Schlagworte.

Auch in sozioökonomischer Hinsicht wird an den Verhältnissen in der EU Kritik geübt. So heißt es einerseits beispielsweise, dass die Brüsseler EU-Bürokratie die wirtschaftliche Dynamik bremse und daher besser durch eine reine Freihandelszone zu ersetzen sei. Andererseits wird der EU die Begünstigung eines ausufernden Neoliberalismus auf Kosten der sozial Schwächeren vorgehalten. In den MOEL ergab sich im Zuge der ökonomischen Integration die Furcht vor einem Ausverkauf nationaler Vermögensgüter an die wirtschaftlich stärkeren westeuropäischen Unternehmen. In den westeuropäischen Ländern steht dem die Furcht vor dem Verlust von Arbeitsplätzen und in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten die Angst vor dem Abbau sozialer Standards entgegen.

Außerdem wird häufig mit dem Demokratiedefizit der Europäischen Union argumentiert. Dabei vertreten EU-Skeptiker oft die Ansicht, dass die EU das Subsidiaritätsprinzip verletze, da viele auf EU-Ebene getroffene politische Regelungen, so die Lesart, sinnvoller auf nationaler, regionaler oder kommunaler Ebene aufgehoben wären. Auch eine Verschwendung der verwalteten Gelder und verteilten Subventionen wird kritisiert, ebenso Korruption und Vetternwirtschaft.[4][5][6]

Euroskeptische Parteien im Europäischen Parlament

EU-skeptische Positionen werden von einigen europäischen Parteien vertreten, die auch Fraktionen im Europäischen Parlament bilden. In vergleichsweise schärfster Opposition zur europäischen Integration steht die von Rechtspopulisten gebildete Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF), in der der französische Front National, die niederländische Partij voor de Vrijheid, die italienische Lega Nord und die Freiheitliche Partei Österreichs vertreten sind.

Ebenfalls zu den euroskeptischen Fraktionen gehören Europäische Konservative und Reformer (EKR) mit der britischen Konservativen Partei und der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) als größten Teilhabern. Bewahrung oder Stärkung der nationalen Souveränitätsrechte stehen hier programmatisch im Vordergrund.

Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD) bildet eine weitere euroskeptische Fraktion, in der sich die britische UKIP sowie die italienischen Abgeordneten der Partei MoVimento 5 Stelle zusammenfinden. Die Haltung der EFDD-Fraktion zur europäischen Integration ist nicht eindeutig; die meisten ihrer Mitglieder lehnen jedoch die Mitgliedschaft ihrer jeweiligen Nationalstaaten in der Europäischen Union ab oder fordern deren Umwandlung in einen rein intergouvernementalen Staatenbund.

Euroskepsis in Krisenlagen der EU

Angesichts variabler Positionierungen scheint eine eindeutige Zuordnung zum euroskeptischen Lager mitunter zweifelhaft, wie Lazaros Miliopoulos darlegt. Trotz ihres politisch-ideologischen Rechtskurses habe Viktor Orbáns Partei Fidesz auch in Wahlkämpfen lange keine euroskeptischen Positionen vertreten, im Gegensatz etwa zur tschechischen ODS oder zur polnischen PiS. „Zwar steht die restriktive Migrationspolitik Ungarns gegenwärtig unter Verdacht, die Wertegrundlagen der EU zu unterlaufen, doch statt sich innenpolitisch von der Union abzusetzen und einen betonten Europaskeptizismus an den Tag zu legen, wirbt Orbán weiterhin für die EU und engagiert sich zugleich in dieser für die eigenen umstrittenen migrationspolitischen Positionen.“ Allerdings habe er im Zuge der Migrationskrise deutlich euroskeptischere Töne angeschlagen.[7]

Die Rechtspopulisten in „Kerneuropa“ bekämpften, so Claus Offe, die EU und die Währungsunion nicht wegen des sozialen Elends und der Arbeitslosigkeit in der „Peripherie“, die von der fehlkonstruierten gemeinsamen Währung ausgelöst seien, „sondern weil ihnen mögliche, von den Eurogewinnern mitzutragende Folgelasten der Einheitswährung und der Liberalisierung von Güter- und Arbeitsmärkten zu weit gehen. Was sie beschwören und zu restaurieren suchen, ist die wirtschaftliche, politische und kulturelle Schutzfunktion territorialer Grenzen.“ Linke Populisten wiederum – beispielsweise in Griechenland, Spanien oder Italien – hätten Mobilisierungserfolge bisher damit erzielt, „dass sie die EU als Verursacher der Schuldenkrise und der aus ihr folgenden ökonomischen und sozialen Krise anklagten oder mit dem Vorwurf eines verfehlten Krisenmanagements operierten.“[8]

Laut Miliopoulos könnte die Flüchtlingskrise dazu führen, dass der souveränitätsfixierte EU-Skeptizismus zusätzlich kulturalistisch und immigrationsfeindlich aufgeladen wird. Eurokrise und resultierende Sparpolitik andererseits zögen „eine teils linksnationalistische teils antikapitalistische Aufladung des ökonomischen Euroskeptizismus“ nach sich, sodass die bereits vorhandenen Übergänge zwischen EU-skeptischen und EU-feindlichen Kräften sowie zwischen linken und rechten Gruppierungen innerhalb der EU-skeptischen Spektren noch fließender würden.[9]

Literatur

Siehe auch

Weblinks

Commons: EU-Skepsis – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Anmerkungen

  1. Lazaros Miliopoulos: Europäischer Euroskeptizismus? Eine theoretische Annäherung. In: Jürgen Rüttgers, Frank Decker (Hrsg.) 2017, S. 59.
  2. Bertelsmann Stiftung, 21. Oktober 2015: EU-Bürger vertrauen weiter auf die Europäische Union und den Euro
  3. „In Polen sind 72 Prozent der Bürger der EU gegenüber positiv eingestellt, in Ungarn 61 Prozent. Zwischen den Regierungen der beiden Länder kommt es im Austausch mit Brüssel seit Monaten, im Fall Ungarns gar seit Jahren, immer wieder zu Konflikten. Diese führen aber wohl nicht dazu, dass die Bürger die EU insgesamt ablehnen.“ In:Wirtschaftswoche, 8. Juni 2016 (abgerufen am 19. Januar 2018)
  4. Klaus-Peter Schmid: Zuviel des Guten. In: Zeit Online vom 3. Mai 1996.
  5. Florian Diekmann, Philipp Wittrock: Privilegien für EU-Beamte: Brüssels Bürokraten kassieren in der Krise. In: Spiegel Online vom 2. August 2012.
  6. Daniel Hannan: Die EU und das Geld: Korrupt, teuer, verschwenderisch, ineffizient. In: Spiegel Online vom 19. März 2007.
  7. „Orbán sprach unter anderem davon, dass »keine Freiheit mehr im gemeinsamen Hause Europas« mehr herrsche, es »verboten sei zu sagen«, dass »die Migration für Europa eine Bedrohung« und eine schleichende Landnahme darstelle, »die Menschenmassen, die aus anderen Zivilisationen« einträfen, »unsere Lebensweisen, unsere Kultur, unsere Sitten und unsere christlichen Traditionen gefährden«, »Brüssel« das aus ideologischen Gründen beflügele und damit den »jahrtausendalten Aufbau Europas zerbrechen« lasse.“ (Lazaros Miliopoulos: Europäischer Euroskeptizismus? Eine theoretische Annäherung. In: Jürgen Rüttgers, Frank Decker (Hrsg.) 2017, S. 65.)
  8. Claus Offe: Europa in der Falle. Berlin 2016, S. 85 und 121.
  9. Lazaros Miliopoulos: Europäischer Euroskeptizismus? Eine theoretische Annäherung. In: Jürgen Rüttgers, Frank Decker (Hrsg.) 2017, S. 73.