Talentabwanderung

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Die Talentabwanderung, auch Talentflucht oder Talentschwund, englisch human capital flight (wörtlich übersetzt Flucht des Humankapitals) oder brain drain (wörtlich übersetzt Intellektabfluss, im Deutschen oft in der Übertragung Braindrain, Brain Drain oder Brain-Drain verwendet) ist die teilweise Abwanderung des Humankapitals (beispielsweise Wissenschaftler und allgemeiner Akademiker, Unternehmer, Erfinder oder Facharbeiter) einer Gesellschaft oder Volkswirtschaft. Die Emigration besonders ausgebildeter oder talentierter Menschen aus einem Land bedeutet für das gebende Land volkswirtschaftliche Verluste, wogegen das aufnehmende Land von der Talentzuwanderung (englisch brain gain) profitiert.

Viele (nicht alle) wirtschaftliche und technologische Blütezeiten gehen auf Einwanderungswellen zurück, viele Niedergänge auf Auswanderung insbesondere der talentierteren Köpfe verfolgter Minderheiten. Daher gibt es weltweit einen gewissen Wettbewerb um die klügsten Köpfe, mit erheblichen Nachteilen für die Länder, die nicht die Mittel haben, ihre Talente zu halten, und erheblichen Vorteilen für die anderen Länder und für die betroffenen Personen.

Historische Talentabwanderungen

Immer wieder vorkommende Vertreibungen von Juden haben in daran teilnehmenden Ländern erhebliche Nachteile gehabt: Spanien dürfte unter anderem der Wegfall jüdischer Bankiers seine Großmachtstellung des 16. Jahrhunderts gekostet haben; Deutschland und Österreich haben durch die erzwungene Emigration von Juden und Nazigegnern nach Adolf Hitlers Machtergreifung, durch den Holocaust und nochmals nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs viele hochkarätige Wissenschaftler, Künstler und Unternehmer insbesondere an die USA und Großbritannien verloren.

Die Emigration von Hugenotten (verfolgte Protestanten aus Frankreich) nach Preußen brachte Nachteile für Frankreich mit sich. Mit den Hugenotten und anderen in einigen Teilen Europas verfolgten Gruppen ging unter anderem viel handwerkliches Wissen nach Preußen.

Als innerdeutsche Problematik stellte sich während der deutschen Teilung die Talentabwanderung von der DDR in die BRD dar. Zahlreiche Akademiker, u. a. viele Ärzte, verließen die DDR vor und auch noch nach dem Mauerbau 1961. Dies stellte ein wirtschaftliches Problem für die DDR dar, weil sich die Rekrutierung neuer Eliten (in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik) immer schwieriger vollzog, während die westdeutsche Wirtschaft von den gut ausgebildeten Kräften aus der DDR profitierte. In ähnlicher Form trat dieses Problem im gesamten ehemaligen Ostblock auf.

Talentabwanderung heute

In Europa wird durch die Absicht der Schaffung eines europäischen Bildungsraumes (abgekürzt EHEA von englisch European higher education area, „Bologna-Prozess“) und europäischen Forschungsraumes (abgekürzt ERA von englisch European research area) eine Diskussion um Talentwanderungen ausgelöst. Man kann folgende aktuellen Talentwanderungsbewegungen festmachen:

Laut DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) studierten im Jahre 2005 ungefähr 10.000 Studierende deutscher Schulbildung in den USA.

Der TASD-Studie zufolge findet eine Talentabwanderung ausgebildeter türkischstämmiger Personen von Deutschland in die Türkei statt.

Rückwerbung

Allgemein

Um zu erreichen, dass Studenten und Forscher nach erwünschten Auslandserfahrungen wieder in ihr Heimatland zurückkehren, haben mehrere Länder eigene Aktionen und Netzwerke gestartet.

Durch die zeitliche Abfolge von Abwanderung und Rückkehr der Fachkräfte und Akademiker wird ein „Talentkreislauf“ (englisch brain circulation), eine Zirkulation von Menschen und deren Wissen postuliert. Durch diese Zirkulation sei es möglich, ins Heimatland viel Wissen zurückzubringen, das für die Entwicklung des Landes von Bedeutung ist. Kritiker dieser These weisen daraufhin, dass das Wissen der einzelnen Auswanderer in technologisch entwickelteren Ländern auf viel höherem Niveau kombinierbar ist (Effekte der Synergie und Emergenz), während bei Rückkehr in ein weniger entwickeltes Land dieses Kombinationsniveau nicht mehr gegeben ist. Dadurch ist der Nutzen für die weniger entwickelten Länder deutlich geringer und der Entwicklungsabstand zu den entwickelteren Ländern verringert sich nicht bzw. vergrößert sich weiterhin.

Deutschland

Derzeit kehrt nur jede vierte Fachkraft nach Deutschland zurück. Gründe dafür sind laut German Scholars Organization die schlechte Bezahlung und das schwer nachzuvollziehende Berufungsverfahren für Professorenstellen in Deutschland sowie die bessere Betreuung von Forschung im Ausland. Dies führt zum Beispiel in der Wirtschaftswissenschaft dazu, dass von den 100 forschungsstärksten deutschen Volkswirten unter 45 Jahren jeder zweite außerhalb Deutschlands arbeitet, wie eine Studie vom April 2007 ergab.[1]

Warum deutsche Akademiker auswandern und oftmals nicht nach Deutschland zurückkehren, ist empirisch bisher nicht untersucht. Ein möglicher, oft genannter Grund für den dauerhaften Verbleib im Ausland ist der, dass viele Akademiker zum Zeitpunkt des Wegzuges einer Altersgruppe angehören, bei der sich die sozialen und wirtschaftlichen Lebensverhältnisse schnell festigen (Heirat, Familiengründung, Integration der Kinder in ein anderssprachiges Schulsystem, Immobilienerwerb, Geldanlagen in der Fremdwährung). Diese Migranten und ihre Kinder finden im Ausland nicht nur starke neue Bindungen, sondern oftmals eine vollwertige Heimat, sodass für einen Wunsch, in das Geburtsland zurückzukehren, eventuell gar keine Grundlage besteht.

Zum anderen berichten Akademiker, auch solche, die bereits eine Familie in Deutschland haben oder planen, in bestimmten Ländern (insbesondere skandinavischen, teilweise aber auch z. B. Frankreich und Spanien) bessere Bedingungen für ihre Wünsche vorzufinden, Arbeit, Karriere und Familie bei Beibehaltung eines hohen Lebensstandards und beruflicher wie persönlicher Selbstverwirklichung, Vermeidung eines „Karriereknicks“ uvm. vereinbaren zu können, was diese Länder zu attraktiveren Arbeits- und Lebensstandorten macht. Zuletzt werden auch – z. T. deutlich – höhere (Netto-) Akademikereinkommen (auch nach Bereinigung der Kaufkraftunterschiede) diskutiert, die sich vor allem auch außerhalb des Wissenschaftsbetriebes manifestieren. Generell wird zudem die prekäre Situation am deutschen Arbeitsmarkt als weiterer Grund für Abwanderung gesehen. Denn nicht nur Medizinern, Ingenieuren und Naturwissenschaftlern bieten sich deutlich bessere berufliche und einkommensbezogene Chancen und Lebensperspektiven im Ausland, sondern auch Sozial- und Geisteswissenschaftlern, die beim derzeitigen Arbeitsmarkt in Deutschland als „Sorgenkinder des Arbeitsmarktes“[2], als nicht fachbezogen vermittelbar bis unerwünscht oder gar quasi als überflüssig angesehen werden.[3]

Zudem führen viele Länder gezielt Anwerbeaktionen in Deutschland für bestimmte Absolventen durch, zum Beispiel Großbritannien für Sozialpädagogen und Sozialarbeiter.[4] Umgekehrt fördern einzelne Bundesländer die Rückkehr Hochqualifizierter nach Deutschland.

Österreich

Das „Network for Researchers“ des Office of Science & Technology der österreichischen Botschaft in den USA dient der Rückwerbung abgewanderter österreichischer Talente.

Talentvergeudung

Als „Talentvergeudung“ (englisch brain waste) wird die verwehrte oder verzögerte Anerkennung der Qualifikationen von Migranten aus deren Ursprungsland sowie das damit einhergehende Verbot der Ausübung des erlernten Berufs kritisiert.[5][6][7] Im Einwanderungsland werden die Fähigkeiten der Migranten nicht so genutzt, wie es möglich wäre.[6] Auf Seiten des Zuwanderers bleiben Hoffnungen oder Erwartungen unerfüllt, und es kommt gegebenenfalls zu einer Dequalifikation. Man spricht so auch von einer „lose-lose-Situation“ für alle Beteiligten.[8]

Literatur

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Handelsblatt (Memento vom 20. Mai 2007 im Internet Archive) abgerufen 5. Dezember 2008.
  2. „Arbeitsmarktbericht Akademiker“, Bundesagentur für Arbeit, 2004.
  3. Am Leben vorbei. In: Der Spiegel. Nr. 50, 2006 (online).
  4. z. B. Jacaranda recruitment
  5. Urs Güney: «Brain Waste» schadet allen Beteiligten, NZZ-Campus, vom 19. November 2012
  6. a b Florian Rötzer: Brain Drain und Brain Waste, Telepolis, 26. Oktober 2005
  7. Bettina Englmann, Martina Müller: Brain Waste – Die Anerkennung von ausländischen Qualifikationen in Deutschland, Tür an Tür Integrationsprojekte, Augsburg 2007
  8. Bettina Englmann, Martina Müller, unter Mitarbeit von Tanja Gerschewske, Felix König, Dilek Tunay: Brain Waste. Die Anerkennung von ausländischen Qualifikationen in Deutschland. In: Tür an Tür Integrationsprojekte gGmbH, Entwicklungspartnerschaft Integra.net. 2007, abgerufen am 8. Mai 2018. S. 18.