Grundrechtsverwirkung

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Unter Grundrechtsverwirkung versteht man in Deutschland den Verlust einzelner Grundrechte in einem bestimmten Verfahren gemäß Art. 18 Grundgesetz (GG). In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht noch nie die Grundrechtsverwirkung ausgesprochen, obwohl solche Anträge gestellt wurden.

Wortlaut[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.

Erläuterungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Grundrechtsverwirkung ist ein Teil des Konzepts der wehrhaften Demokratie im Grundgesetz.[1] Sie ist als Reaktion auf die Erfahrungen in der Weimarer Republik zu sehen, dass die Grundrechte dort missbraucht wurden, um die freiheitliche demokratische Grundordnung zu untergraben.[2]

Nur die in Art. 18 GG abschließend genannten Grundrechte können verwirkt werden. Aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich daher, dass das allgemeine Menschenrecht nach Art. 1 GG, die Würde des Menschen, weiter unantastbar bleibt. Auch die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG ist ausgenommen, was ihren hohen Stellenwert im Verfassungsgefüge verdeutlicht.

Die Grundrechtsverwirkung kann zeitlich beschränkt und nach § 40 BVerfGG auch wieder aufgehoben werden.

Das Tatbestandsmerkmal des „Kampfes“ setzt ein aggressives, zielgerechtetes Handeln gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung voraus. Da der Artikel Art. 18 vorrangig Grundrechte von kommunikativer Natur einschränkt, geht man davon aus, dass physische Gewalt nicht erforderlich sein muss.[3] „Missbrauch“ selbst ist kein eigenständiges Tatbestandsmerkmal; ein Missbrauch lässt sich stets bejahen, wenn die Grundrechte im Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gebraucht werden.[4]

Da das Bundesverfassungsgericht die Grundrechtsverwirkung aussprechen muss, kommt es zu sehr langen Verfahrensdauern. Zudem stellt das Gericht strenge Anforderungen. Da Art. 18 GG der Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) diene, bedürfe es einer Prognose, nach der vom Antragsgegner weiterhin eine Gefahr für die verfassungsmäßige Ordnung ausgehe. Diese Gefahr war in den bisherigen Fällen nicht bewiesen oder wegen der bis zur Entscheidung bereits ergangenen strafrechtlichen Sanktionen gar nicht mehr vorhanden. Dies hat dazu geführt, dass dieses Instrument der sogenannten wehrhaften Demokratie in der Praxis bedeutungslos blieb.

Das Grundrechtsverwirkungsverfahren nimmt unter den übrigen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht einen geringen Stellenwert ein. Die Verfahrensvorschriften sind in § 36 bis § 42 BVerfGG festgelegt.

Ein Antrag für eine Grundrechtsverwirkung kann nur vom Deutschen Bundestag, der Bundesregierung oder einer Landesregierung gestellt werden (§ 36 BVerfGG). Zunächst wird in einem Vorverfahren geprüft, ob der Antrag zulässig und hinreichend begründet ist. Danach ergeht der Beschluss, ob eine mündliche Verhandlung (das Hauptverfahren) durchzuführen ist. Das Bundesverfassungsgericht ist befugt, Ermittlungen einzuleiten und auch Zwangsmaßnahmen wie Hausdurchsuchungen oder Beschlagnahmen anzuordnen. Das Grundrechtsverwirkungsverfahren kann sich gegen jeden Grundrechtsträger (natürliche oder juristische Personen) richten. Bei juristischen Personen dürften in vielen Fällen aber das Vereinsverbot oder Parteiverbot als Spezialregelung Vorrang haben.[5] Zu der Einleitung eines Verfahrens gegen einen Abgeordneten bedarf es der Genehmigung des Deutschen Bundestages (Art. 46 Abs. 3 GG). Diese Bestimmung belegt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts,[6] dass ein Verfahren zur Grundrechtsverwirkung auch gegen Abgeordnete möglich ist.

Das Bundesverfassungsgericht untersucht in einer mündlichen Verhandlung, ob eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung vorgelegen hat bzw. in Zukunft fortbestehen wird. Entsprechen die Tatsachen dem Antrag, so stellt das Gericht fest, welche Grundrechte verwirkt wurden. Die Verwirkung der Grundrechte erfolgt mit dem Zeitpunkt der Entscheidung. Nach vorherrschender Meinung bedeutet dies nicht ein Verlust des Grundrechtes, sondern ein Verbot, sich bei staatlichen Maßnahmen darauf zu berufen.[7]

Handelt die Person, deren Grundrechtsverwirkung festgestellt wurde, der Entscheidung zuwider, wird sie mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft (§ 84 Absatz 3 StGB).

Kritik an der Verwirkungsklausel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Unter Rechtsexperten wird vereinzelt Kritik an der gesetzlichen Möglichkeit der Grundrechtsverwirkung geäußert.

So argumentiert der Jurist und Publizist Sebastian Cobler, Artikel 18 GG liege der eigentümliche Gedanke der Verfassungsstörung durch legalen Gebrauch der Freiheit zugrunde: Grundrechte würden zu Waffen im „Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“. Mithilfe einer Verwirkungsklausel ließe sich der „an sich“ legale Gebrauch der Freiheit in einen funktionswidrigen Missbrauch uminterpretieren: Was zunächst legal sei, werde unter Berufung auf den Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Nachhinein für illegitim erklärt.[8]

Claus Leggewie und Horst Meier stellten die These auf, dem herkömmlichen Verständnis des demokratischen Verfassungsstaates sei solch ein Verwirkungsdenken fremd; die Verfassung der USA zum Beispiel kenne keine dem Grundgesetz entsprechende Klausel. Politische Betätigung, die den Schutz der Grundrechte genießt, sei legal und bleibe das normalerweise auch – selbst wenn Extremisten und Radikale, welcher Couleur auch immer, als Grundrechtssubjekte handeln. Art. 18 GG statuiere dagegen eine Verfassungstreuepflicht für jedermann. Damit bekämen Staatsorgane die Macht in die Hand, zwischen dem „richtigen“, verantwortungsbewussten, staatstragenden Gebrauch der Grundrechte und ihrem „falschen“, unverantwortlichen, staatsgefährdenden Missbrauch zu unterscheiden. Aus Sicht der Bürgerrechte sei es daher als positiv zu bewerten, dass das Verfassungsgericht bislang noch keine einzige Grundrechteverwirkung ausgesprochen hat.[9]

Anträge auf Grundrechtsverwirkung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Stand 2022 wurden vier Verfahren beim Bundesverfassungsgericht angestrengt. Die Anträge wurden sämtlich zurückgewiesen. Antragsgegner waren jeweils Deutsche, die in besonderer Weise nationalsozialistisches Gedankengut verbreitet hatten:

  • In BVerfGE 11, 282 (1960)[10] der zweite Vorsitzende der (vom BVerfG 1952 verbotenen) Sozialistischen Reichspartei, Otto Ernst Remer.[11] In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hieß es, es seien keine Tatsachen bekanntgeworden, die für eine „Fortsetzung der staatsfeindlichen politischen Betätigung des Antragsgegners“ sprachen.
  • In BVerfGE 38, 23 (1974)[12] der Herausgeber der Deutschen National-Zeitung, Gerhard Frey.[11] Das Bundesverfassungsgericht begründete seinen Beschluss damit, dass die Bundesregierung als Antragsstellerin keine neuen Tatsachen vorgetragen habe, aus denen die Gefährlichkeit des Antragsgegners im Blick auf die Zukunft geschlossen werden könne.
  • In den kurz nach dem Mordanschlag von Mölln Ende 1992 eröffneten Verfahren[13][14] gegen Thomas Dienel[15] und Heinz Reisz[16] hielt das Gericht 1996 die Anträge für unbegründet, nachdem die jeweiligen Freiheitsstrafen der Antragsgegner wegen positiver Prognose zur Bewährung ausgesetzt worden waren. Es sah nicht, dass die Antragsgegner in Zukunft noch eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung darstellen würden.

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Andreas Voßkuhle, Anna-Bettina Kaiser: Grundwissen – Öffentliches Recht: Wehrhafte Demokratie. JuS 2019, S. 1154.
  2. Sué González Hauck: Grundrechte: Klausur- und Examenswissen. Hrsg.: Lisa Hahn, Maximilian Petras, Dana Valentiner and Nora Wienfort. De Gruyter, 2022, S. 25.
  3. Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 54; Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 33.
  4. Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 33.
  5. Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 18 Rn. 36; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 28.
  6. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2013 – 2 BvE 6/08, 2 BvR 2436/10, Rn. 115.
  7. Pagenkopf, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 13; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 41. Edition Stand: 15. Mai 2019, Art. 18 Rn. 17; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 18 Rn. 52; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 49.
  8. Vgl. Sebastian Cobler: Grundrechtsterror, in: Kursbuch 56 (Juni 1979).
  9. Zur Kritik und zu den bisherigen Verfahren gegen Remer, Frey, Dienel und Reisz, die vom Verfassungsgericht allesamt eingestellt wurden, vgl. Claus Leggewie/Horst Meier, Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie. Rowohlt, Reinbek 1995.
  10. BVerfG, Beschluss vom 25. Juli 1960, Az. 2 BvA 1/56, BVerfGE 11, 282 – Zweiter Vorsitzender der SRP.
  11. a b Eckhard Jesse, Roland Sturm: Demokratien des 21. Jahrhunderts im Vergleich. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2003, S. 462.
  12. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1974, Az. 2 BvA 1/69, BVerfGE 38, 23 – Herausgeber der Deutschen National-Zeitung.
  13. BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 1997, Az. 2 BvA 1/92 und 2 BvA 2/92, Volltext (Memento vom 1. Februar 2015 im Internet Archive).
  14. Die Anträge der Bundesregierung, die Verwirkung von Grundrechten auszusprechen, sind nicht hinreichend begründet. BVerfG, Mitteilung vom 30. Juli 1996 – 43/96. In: lexetius.com. Abgerufen am 18. Januar 2024.
  15. Thomas Dienel: Von der FDJ in den braunen Sumpf. In: Mitteldeutscher Rundfunk, 5. Januar 2016.
  16. Rechtsextremisten behalten Grundrechte. In: Die Welt, 31. Juli 1996.