Begriffsgeschichte

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Begriffsgeschichte bezeichnet einen Zweig der Geisteswissenschaft, besonders der Geschichts- und Kulturwissenschaften, der sich mit der historischen Semantik von Begriffen auseinandersetzt. Dabei werden die Herkunft und der Bedeutungswandel der Begriffe als eine entscheidende Grundlage unseres heutigen Kultur-, Begriffs- und Sprachverständnisses verstanden.

Genese und Gegenwart[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Herkunft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Wort taucht zuerst in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte auf. Nicht geklärt ist, ob dieser Ausdruck von Hegel selbst geprägt wurde oder beim Verfassen der Vorlesungsnachschrift entstanden ist. Danach bezeichnete Hegel so einen Typ der so genannten „reflektierten Geschichte“, die als Geschichte der Kunst, des Rechts und der Religion in die Geschichte der Philosophie übergeht. Dieses Verständnis blieb ein Einzelfall und hat sich nicht durchgesetzt.

Medien und Vertreter[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Besonderen Auftrieb bekam die Begriffsgeschichte im 20. Jahrhundert durch die Herausgabe des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, der Geschichtlichen Grundbegriffe und der Zeitschrift Archiv für Begriffsgeschichte. Die Begriffsgeschichte wird als Methodik in den Geisteswissenschaften interdisziplinär eingesetzt; so sind z. B. der Philosoph Joachim Ritter, der Historiker Reinhart Koselleck und der Soziologe Erich Rothacker bedeutende Vertreter dieser Disziplin. Auch Hans-Georg Gadamer hat seine Philosophische Hermeneutik im Rahmen des begriffsgeschichtlichen Paradigmas artikuliert.[1] Die historische Semantik reagierte auf Vorwürfe an die traditionelle Ideengeschichte, historische Diskontinuitäten, soziale Kontexte und sprachliche Konstituenten allgemeiner „Ideen“ zu vernachlässigen.[2]

Kritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Ansatz der Begriffsgeschichte wurde jedoch auch kritisch betrachtet, wie die unten stehenden Zitate belegen: Begriffe seien an und für sich nicht geschichtlich, und daher könne es keine Begriffsgeschichte geben (Frege); historische Betrachtungen seien kein Ersatz für inhaltliche Analyse (Röhl).

Zitate[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Kierkegaard
„Die Begriffe haben nämlich ebenso wie die Individuen ihre Geschichte und vermögen ebensowenig wie diese, der Gewalt der Zeit zu widerstehen.“[3]
Gottlob Frege
„Die geschichtliche Betrachtungsweise, die das Werden der Dinge zu belauschen und aus dem Werden ihr Wesen zu erkennen sucht, hat gewiss eine große Berechtigung; aber sie hat auch ihre Grenzen. Wenn in dem beständigen Flusse aller Dinge nichts Festes, Ewiges beharrte, würde die Erkennbarkeit der Welt aufhören und Alles in Verwirrung stürzen. Man denkt sich, wie es scheint, dass die Begriffe in der einzelnen Seele so entstehen, wie die Blätter an den Bäumen und meint ihr Wesen dadurch erkennen zu können, dass man ihrer Entstehung nachforscht und sie aus der Natur der menschlichen Seele psychologisch zu erklären sucht. Aber diese Auffassung zieht Alles ins Subjective und hebt, bis ans Ende verfolgt, die Wahrheit auf. Was man Geschichte nennt, ist wohl entweder eine Geschichte unserer Erkenntniss der Begriffe oder der Bedeutungen der Wörter.“[4]
Hans Christian Röhl
„Wo klare Begriffe fehlen, dient die Geschichte der Begriffe und Ideen als Ersatz.“[5]

Literatur (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Begriffsgeschichtliche Handbücher:

  • Historisches Wörterbuch der Philosophie
  • Geschichtliche Grundbegriffe
  • Rolf Reichardt / Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, Oldenbourg, München 1985 ff.
  • K. Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart/Weimar 2000–2005.

Sekundärliteratur zur Begriffsgeschichte:

  • Terence Ball: Transforming Political Discourse. Political Theory and Critical Conceptual History, Oxford & New York 1988.
  • Mark Bevir / Hans Erich Bödeker (Hrsg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen, Wallstein-Verlag 2002.
  • Carsten Dutt: Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Heidelberg, Winter 2003.
  • Carsten Dutt: Historische Semantik als Begriffsgeschichte: Theoretische Grundlagen und paradigmatische Anwendungsfelder, in: Jörg Riecke (Hrsg.): Historische Semantik, Berlin/Boston, De Gruyter 2011, S. 37–50.
  • Timothy Goering: Concepts, History and the Game of Giving and Asking for Reasons: A Defense of Conceptual History, in: Journal of the Philosophy of History 7.3 (2013), S. 426–452.
  • Hans Ulrich Gumbrecht: Dimension und Grenzen der Begriffsgeschichte, Paderborn, Wilhelm Fink 2006.
  • Hannes Kerber: Der Begriff der Problemgeschichte und das Problem der Begriffsgeschichte. Gadamers vergessene Kritik am Historismus Nicolai Hartmanns, in: International Yearbook for Hermeneutics 15 (2016), S. 294–314.
  • Clemens Knobloch: Überlegungen zur Theorie der Begriffsgeschichte aus sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht, in: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), S. 7–24.
  • Reinhart Koselleck (Hrsg.): Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart, Klett-Cotta 1979.
  • Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten, Frankfurt am Main, Suhrkamp 2006.
  • Harald Meyer (Hrsg.): Begriffsgeschichten aus den Ostasienwissenschaften: Fallstudien zur Begriffsprägung im Japanischen, Chinesischen und Koreanischen. (= ERGA. Reihe zur Geschichte Asiens. Band 12). Iudicium, München 2014, ISBN 978-3-86205-212-7.
  • Ernst Müller, Falko Schmieder: Begriffsgeschichte zur Einführung, Hamburg, Junius 2020.
  • Ernst Müller, Falko Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin, Suhrkamp 2016.
  • Ernst Müller, Falko Schmieder (Hrsg.): Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften: Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, Berlin, De Gruyter 2008.
  • Ernst Müller (Hrsg.): Begriffsgeschichte im Umbruch?, Hamburg, Meiner 2004.
  • Melvin Richter: The History of Political and Social Concepts. A Critical Introduction, New York & Oxford 1995.
  • Falko Schmieder, Georg Toepfer (Hrsg.): Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte, Berlin, Kadmos 2018.
  • Falko Schmieder: Begriffsgeschichte’s History. Between Historicization of Concepts and Conceptual Politics. Interview auf dem Blog des Journal of the History of Ideas, 2019. (online)
  • Dieter Teichert: Die Geltung der Geschichte: Begriffsgeschichte als Philosophie?, in: C. Schildknecht, D. Teichert, T. van Zantwijk (Hrsg.): Genese und Geltung, Paderborn, Mentis 2008, S. 107–126.
  • Werner Zillig: Lexikologie und Begriffsgeschichte, in: Lexikologie. Ein Internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. Bd. 2, Berlin & New York 2005 (HSK 21.2), S. 1829–1837.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wiktionary: Begriffsgeschichte – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Vgl. Hannes Kerber: Der Begriff der Problemgeschichte und das Problem der Begriffsgeschichte. Gadamers vergessene Kritik am Historismus Nicolai Hartmanns, in: International Yearbook for Hermeneutics 15 (2016), 294–314.
  2. Vgl. etwa Bevir / Bödeker 2002, 9ff. K. Palonen: Begriffsgeschichte und/als Politikwissenschaft, in: Archiv für Begriffsgeschichte 44 (2002), 221–234.
  3. zitiert nach Bernd Rüthers; Christian Fischer: Rechtstheorie. – 5. überarb. Aufl. - Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60126-2, Rn. 171 (ohne Nachweis).
  4. Frege, Gottlob: Die Grundlagen der Arithmetik: eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl. – Centenarausgabe. - Meiner: Hamburg 1986, S. VII (7 f.).
  5. Röhl, Klaus F.; Hans Christian Röhl: Allgemeine Rechtslehre. 3. Auflage. C. Heymanns, Köln u. a. 2008, § 1 IV, S. 10.
  6. Margrit Pernau: Editorial. In: Berghahn (Hrsg.): Contributions to the History of Concepts. Band 12, Nr. 1. Berghahn, New York 2017, S. v-vi.