Bergentrückung
Das literarisch-mythologische Motiv der Bergentrückung findet sich in unterschiedlicher Ausprägung in verschiedenen europäischen Kulturen. Gemeinsam ist allen diesen Vorstellungen, dass Personen aus der Welt der Menschen verschwinden, ohne zu sterben und sie in einer Unterwelt weiterleben; deshalb handelt es sich hier um eine besondere Form der Entrückung.
Die Verbreitung des Bergentrückungsmotivs[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Im skandinavischen Kulturraum ist die Bergentrückung als bergtagning (dänisch bjaergtagning „Berg-Nehmung“) bekannt und findet sich beispielsweise schon in der Ynglingasaga. In dieser Erzählung wird der schwedische König Sveigdir von einem Zwerg in einen Stein gelockt und bleibt für immer verschwunden.[1]
Bergtagning ist eine zentrale Vorstellung im nordischen Troll-Glauben. Hierbei werden erwachsene Menschen beiderlei Geschlechts entführt, während beim verwandten Glauben an Wechselbälge Säuglinge und Kinder in die Gewalt übernatürlicher Wesen gelangen. Häufig wird ein Mensch an einem abgelegenen Ort in ein Haus gelockt, wo er Essen erhält. Wer die Gefahr rechtzeitig erkennt und das Essen ablehnt, dem kann die Flucht gelingen.[2]
In irisch-keltischen Sagen und Märchen spielen Feen eine große Rolle bei der Bergentrückung. Feen sind in dieser Vorstellungswelt keine guten Wesen, sondern wahrscheinlich Lebewesen einer den Menschen unterlegenen Art, die nun in der Unterwelt versteckt leben.[3] Diese Feenwesen nehmen nun Menschen zu sich in ihre unterirdische Welt, wobei die Ursachen dieser Entrückung dabei im irischen und skandinavischen Kulturraum sowohl selbstverschuldet, wie auch unverschuldet sein können und das Schicksal sowohl eine gute, als auch eine schlechte Wendung für die betreffende Person nehmen kann.[4]
Die Bergentrückung bezeichnet im deutschen Sprachraum ein Sagenmotiv, dem zufolge besonders Helden oder Herrscher nicht sterben, sondern in einen Berg entrückt werden, bis sie zurückkehren, um das Land von seinen Feinden oder vom Antichristen zu befreien.[5] Besonders der lange vorherrschende Volksglaube an die Rückkehr eines Friedenskaisers manifestiert sich in diesem Sagenmotiv. Die Entrückung stellt man sich oft als langen Schlaf vor.[6] Hintergrund ist die alte Vorstellung, wonach die Toten im Berg (außerhalb der irdischen Zeit) weiter fortleben.[7] Dass gerade Herrscher in einem Berg weiterleben, ist dabei ein speziell deutsches Motiv, im irisch/keltisch/angelsächsischen Kulturraum befinden sich Herrscher, wie etwa König Artus oder König Dunmail, bis zu ihrer Rückkehr an anderen Orten, aber nicht in Bergen.
Bergentrückungen in der deutschen Überlieferung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Karl der Große – Desenberg, auch im Donnersberg, Odenberg und Untersberg
- Heinrich der Vogler – Südemer Berg bei Goslar
- Friedrich II. – Kyffhäuser, auch im Untersberg
- Friedrich I. Barbarossa – Friedrich II. ersetzend im Kyffhäuser; Karl den Großen ersetzend im Untersberg
- Die Kinder im Märchen vom Rattenfänger von Hameln
Bergentrückung als literarisches Motiv in Europa[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Bekannt ist die literarische Umsetzung durch Friedrich Rückert im Gedicht Barbarossa, wo es heißt, dass Friedrich I., dessen Bart durch den Tisch gewachsen ist, wiederkehren und „des Reiches Herrlichkeit“ zurückbringen werde, wenn die Raben nicht mehr den Berg umkreisen. Ironisch wird der Gegenstand von Carl Amery (An den Feuern der Leyermark) behandelt, indem er Ludwig II. von Bayern unter dem Einfluss von Richard Wagner an Stelle der Abdankung „Kyffhäuserisieren“ lässt.
Der irischen Schriftstellerin Isabella Augusta Gregory und ihrem Buch Gods and Fighting Men zufolge soll der irische Krieger und Jäger Fionn mac Cumhaill mit weiteren Kriegern in einer Höhle irgendwo unter Irland schlafen und zurückkehren, wenn sein Jagdhorn dreimal ertönt. In dem Kinderbuch Weirdstone of Brisingamen lässt Alan Garner König Artus in Alderley Edge in Cheshire schlafen.
Die Bergentrückung bei anderen Völkern[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Auch andere Völker und Kulturkreise kennen Personen und Berge, die mit schlafenden Helden verbunden sind. Zum Beispiel:
- Bernardo Carpio, philippinischer Volksheld
- Ein unbekannter Krieger im Berg Giewont in der polnischen Tatra
- Königssohn Marko, ein serbischer König
- Montezuma, ein Gottkönig der Indianer in einem Berg in Arizona
- Wenzel von Böhmen soll der Legende nach mit seinen Kriegern im Berg Blaník schlafen
- Nach einer slowenischen Sage wartet König Matthias Corvinus im Berg Petzen mit seinen Mannen auf eine Weltschlacht
- Sieben Schläfer von Ephesus, Heiligenlegende im Christentum und im Islam (dort als „Gefährten der Höhle“, arabisch أصحاب الكهف, DMG aṣḥāb al-kahf)
- Ghaiba, ein ähnliches Konzept aus dem schiitischen Islam
Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Wolfgang Stammler: Bergentrückt. In: Hanns Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. (HWA), 9 Bände, 1927–1942, digitale Ausgabe des Nachdrucks von 1986. Directmedia, Berlin 2006, ISBN 3-89853-545-2, Sp. 2302–2326 (Original: HWA. Band 1. Walter de Gruyter, Berlin/Leipzig 1927, Sp. 1056–1071).
Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- ↑ Katrin Alas: Von Schneewittchen bis zum Sohn des Pilzkönigs. Märchen- und Mythenstrukturen in den Werken Marie Hermansons. Dissertation. Universität Wien, Wien 2009, S. 77 (PDF; 1,3 MB).
- ↑ Elisabeth Hartmann: Die Trollvorstellungen in den Sagen und Märchen der skandinavischen Völker. Kohlhammer, Stuttgart/Berlin 1936, S. 86, 101 f.
- ↑ C. S. Lewis: The Discarded Image: An Introduction to Medieval and Renaissance Literature. Cambridge University Press, Cambridge 1994, ISBN 0-521-47735-2, S. 122; Carole B. Silver: Strange and Secret Peoples: Fairies and Victorian Consciousness. Oxford University Press, New York 1999, ISBN 0-19-512199-6, S. 47.
- ↑ Katrin Alas: Von Schneewittchen bis zum Sohn des Pilzkönigs. Märchen- und Mythenstrukturen in den Werken Marie Hermansons. Dissertation. Universität Wien, Wien 2009, S. 77–79.
- ↑ Wolfgang Stammler: Bergentrückt. In: HWA. 2006, Sp. 2320 (= HWA. 1927. Band 1. Sp. 1068).
- ↑ Wolfgang Stammler: Bergentrückt. In: HWA. 2006, Sp. 2314 (= HWA. 1927. Band 1. Sp. 1064).
- ↑ Wolfgang Stammler: Bergentrückt. In: HWA. 2006, Sp. 2322 f. (= HWA. 1927. Band 1. Sp. 1069).