Europäisches Archiv der Stimmen

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Das Europäische Archiv der Stimmen (engl.: European Archive of Voices) ist ein Projekt, das vom Verein „Arbeit an Europa“ initiiert wurde. Im Archiv wurden persönliche und zeitgeschichtliche Erinnerungen von Persönlichkeiten[1] aus über 30 europäischen Ländern gesammelt.[2] Ziel ist, Geschichten jener Generation zugänglich zu machen, die Europa nach 1945 wieder aufgebaut hat.[3] Europa bezieht sich in diesem Projekt nicht nur auf die Länder der Europäischen Union, sondern auf Länder, die geographisch und geschichtlich zu Europa gehören.[2] Das Projekt verfolgt kein politisches Ziel.[4]

Hintergrund[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach einer Geschichte stetiger europäischer Kriege, entwickelte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Wunsch nach einem vereinten Europa.[2] Stefan Zweig postulierte um 1930, dass eine emotionale Bindung zu Europa nur über die Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Geschichte erreicht werden könnte.[5] Zeitzeugen, die den Prozess der europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg miterlebt haben,[6] werden immer weniger.[2]

„Die Frage nach Europa, wie es jetzt ist, wie es werden könnte, […] kann man nicht ohne einen Blick in die Vergangenheit und das, was geschehen ist, stellen.“

Nora Bossong: Deutschlandfunk Kultur[5]

In Osteuropa folgte nach dem Regime der Nationalsozialisten die Herrschaft Russlands. Durch diesen geschichtlichen Unterschied nahm die Erinnerungskultur in Ost und West unterschiedliche Wege. Der Historikerstreit von 1986/87 um die Rolle des Holocaust brachte weitere Differenzen auf.[1] Kuratorin Aleida Assmann verfasste dazu „Das gespaltene Gedächtnis Europas und das Konzept des dialogischen Erinnerns“.[7] Diesen Erinnerungsdialog möchte das Projekt widerspiegeln.[1]

Die europäische Idee wird heutzutage von verschiedenen Seiten in Frage gestellt,[8] wie es beispielsweise am „Brexit“ zu sehen ist.[2] Die Ergebnisse der Europawahl 2019 zeigen Differenzen zwischen Süd und Nord, zwischen Ost und West auf. Es gilt eine einheitliche Ebene zu finden. Im Allgemeinen wird über Europa aus dem Blickwinkel einzelner Länder gesprochen.[9] Kultur vermag Ländergrenzen zu überschreiten,[9] weshalb in diesem Projekt Europa nicht wirtschaftlich oder politisch, sondern kulturhistorisch verstanden werden soll.[8] Durch die persönlichen Geschichten wird Europa im kleinen Maßstab erfahren, um dadurch einen Zugang zum großen Maßstab zu erhalten.[9] Ein einiges Europa erzählt erleben.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Initiator ist der deutsche Verein „Arbeit an Europa“, bestehend aus Schriftstellern, Journalisten und Wissenschaftlern. Das Projekt ist Teil der Deutschen Digitalen Bibliothek. Die EU hatte eine finanzielle Förderung abgelehnt. Das Projekt wird von der Gerda Henkel Stiftung und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung unterstützt.[1][6]

Die Auftaktveranstaltung des Projekts mit 45 Interviewern fand im Januar 2020 statt.[2] Interviews sollen bis Ende 2020 geführt werden.[6] Im Herbst 2020 wird begonnen, die Interviews mit schriftlicher englischer Übersetzung auf einer Webseite zu veröffentlichen,[1][6] um sie der Öffentlichkeit kostenlos zugänglich zu machen.[2] Zeitlich passend zum deutschen Vorsitz im Rat der Europäischen Union ab 1. Juli 2020, wird das Europäische Archiv der Stimmen als eines von sechs Kulturprojekten vom Auswärtigen Amt unterstützt.[1][6] Es sind Veröffentlichungen und Veranstaltungen in mehreren europäischen Städten geplant.[1][2] Planung und Durchführung übernimmt das Goethe-Institut.[6]

Am 11. September 2021 wurde das letzte Interview hochgeladen und damit das Projekt mit einer Veranstaltung in Rom feierlich beschlossen.[10] Kurz darauf, am 30. September des Jahres, wurde das Projekt in Aachen mit dem europäischen Jugendkarlspreis für das Jahr 2020 ausgezeichnet.[11]

Ziel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Projekt möchte mithilfe von Zeitzeugen unterschiedliche Blicke auf Europa vermitteln.[5] Es werden die Erinnerungen von Menschen bewahrt, die die Anfangsphase der Europäischen Union bewusst miterlebt haben.[4] Die Interviewten sprechen im Rahmen ihrer Lebensgeschichte[5] über die Vergangenheit und Zukunft des Kontinents.[2] Die Interviews sollen herausarbeiten, welche Bedeutung Europa in den einzelnen Lebensgeschichten hatte und was wir daraus für die Zukunft Europas lernen können.[4] Die gemeinsamen Erinnerungen sollen als europäische Bildung für zukünftige Generationen fungieren.[1][5]

„Das entscheidende Ziel ist, dass wir, als eine jüngere Generation, am Ende wirklich etwas anderes über Europa erzählen können, als nur das, was die Politiker meinen, was die EU ist.“

Simon Strauß: Deutschlandfunk Kultur[12]

Vorgehensweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Projekt wird von freiwilligen Mitarbeitern des „Arbeit an Europa e.V.“ umgesetzt.[13] Das internationale Interviewer-Team umfasst 50 Frauen und Männer im Alter von 20 bis 40 Jahren.[6] Die Interviewer sprechen mit den Zeitzeugen in ihrer Muttersprache[2] und in den jeweiligen Heimatländern.[1] Interviewte und Interviewer stammen aus über 30 Ländern, die geographisch und geschichtlich zu Europa gehören: Albanien, Belgien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Georgien, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, der Republik Moldau, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Schweden, Serbien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Republik, Ukraine, Ungarn[2]

„Europa hat keine natürlichen Grenzen. […] Das Wesen Europas machen die gemeinsamen Werte aus trotz all seiner Unterschiede.“

Zeitzeuge Adriano Moreira (*1922): Berliner Zeitung[8]

Beratung und Qualitätssicherung bietet ein Kuratorium, bestehend aus Aleida Assmann, Heinz Bude, Peter Raue, Michael Krüger, Juliane von Herz, André Schmitz und Angelo Bolaffi.[6] Gemeinsam mit dem Soziologen Heinz Bude wurde als Leitfaden ein Fragenkatalog entwickelt,[5][14] der die Vergleichbarkeit der Gespräche sichert.[6] Die Fragen behandeln Themen von Herkunft, Bildung und Arbeit über politisches und kulturelles Bewusstsein bis hin zum Bild Europas in 50 Jahren.

„Die größte Schwierigkeit ist darin, die Verbindung zwischen persönlichen Geschichten und kollektiven Belangen hinzukriegen. […] ich hoffe, dass Ihnen das gelingt, dass die Frage von Europa am Ende auch immer eine Frage einer persönlichen Involvierung in Europa ist.“

Heinz Bude: Deutschlandfunk Kultur[5]

Die Gespräche werden mit einer einheitlichen Aufnahmetechnik aufgezeichnet.[6]

Zeitzeugen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Interviewt werden Menschen, die vor 1945 geboren wurden. So haben die Interviewten noch Krieg, Unterdrückung und Flucht erfahren.[6]

Die Interviewpartner werden von Interviewern ihres Landes vorgeschlagen und von einer Jury ausgewählt. Ziel des Projektes ist, eine große Bandbreite an Menschen zu Wort kommen zu lassen. Die Interviewpartner sind vorwiegend Journalisten, Politiker, Künstler, Intellektuelle, Wissenschaftler, Diplomaten, Religiöse. Weitere Kriterien sind unter anderem die Ethnie, Geschlecht oder die soziale Herkunft.[6] Bei der Auswahl ist zudem wichtig, dass es sich nicht um Personen handelt, die schon mehrfach zu europäischen Themen befragt wurden.[4]

Zeitzeugen des Europäischen Archivs der Stimmen (sortierbar)
Land Name Jahrgang Beruf
Albanien Maks Velo 1935 Künstler und politischer Aktivist
Belarus Stanislau Schuschkewitsch 1934 Physiker und ehemaliger Präsident
Belgien Mark Eyskens 1933 Politiker
Bosnien Jovan Divjak 1937 General
Bulgarien Axinia Dzurova 1942 Philologin und Kunsthistorikerin
Dänemark Bodil Nyboe Andersen 1940 Wirtschaftswissenschaftlerin und ehem. Nationalbankdirektorin
Dänemark Niels Barfoed 1931 Intellektueller
Deutschland Christian Meier 1929 Althistoriker
Estland Talvi Märja 1935 Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin
Finnland Caj Bremer 1929 Fotograf
Finnland Leena Orvilahti 1935 Übersetzerin
Frankreich Jean-Claude Carrière 1931 Drehbuchautor
Georgien Besik Kharanauli 1939 Schriftsteller und Dichter
Georgien Eldar Shengelaia 1933 Filmproduzent und Politiker
Griechenland Vassilis Vassilikos 1934 Schriftsteller und Diplomat
Großbritannien Mary Goudie 1946 Politikerin
Irland Mícheál Ó Muircheartaigh 1930 Sportkommentator
Island Vigdís Finnbogadóttir 1930 Politikerin und ehem. Präsidentin
Italien Bartolomeo Sorge 1929 Journalist und Anti-Mafia-Aktivist
Italien Biancamaria Frabotta 1946 Dichterin
Italien Elsa Montessori 1931 Fotografin
Kosovo Rexhep Qosja 1936 Schriftsteller
Kroatien Irena Vrkljan 1930 Schriftstellerin
Lettland Ausma Ziedone-Kantāne 1941 Politikerin
Litauen Irena Veisaitė 1928 Theaterwissenschaftlerin
Luxemburg Erna Hennicot-Schoepges 1941 Politikerin
Niederlande Cees Nooteboom 1933 Schriftsteller
Niederlande Neelie Kroes 1941 Politikerin
Nordmazedonien Dimitar Belchev 1946 Elektroingenieur und Diplomat
Norwegen Karin Krog 1937 Jazzsängerin
Österreich Hanna Molden 1941 Schriftstellerin
Polen Henryk Wujec 1940 Politiker
Portugal Adriano Moreira 1922 Politiker
Rumänien Nora Iuga 1931 Schriftstellerin
Russland Ljudmila Ulizkaja 1943 Schriftstellerin
Schweden Sven-Eric Liedman 1939 Ideenhistoriker
Schweiz Cornelio Sommaruga 1932 Diplomat und ehem. Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz
Serbien Dragoslav Mihailović 1930 Schriftsteller
Slowakei Egon Gal 1940 Soziologe
Slowakei Eva Mosnakova 1929 Holocaust-Überlebende und Zeitzeugin
Spanien Lidia Falcón 1935 Schriftstellerin und Politikerin
Spanien Rosa Regàs 1933 Schriftstellerin, Verlegerin, ehem. Direktorin der Nationalbibliothek
Tschechien Alena Wagnerová 1936 Publizistin und Soziologin
Ukraine Oleh Pantschuk 1932 Chemiker
Ungarn Iván Szelényi 1938 Soziologe
Ungarn Vera Szekeres Varsa 1933 Philologin
Vatikanstadt Walter Brandmüller 1929 Kardinal
Zypern Kyriakos Charalambides 1940 Schriftsteller und ehemaliger Direktor des Kulturressorts des zyprischen Rundfunks

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Kay Wolfinger: An Europa arbeiten. Über ein flamboyantes Projekt junger Intellektueller. Gespräch mit Robert Eberhardt (Berlin) und Simon Strauß (Frankfurt am Main). In: Michaela Nicole Raß/Kay Wolfinger (Hgg.): Europa im Umbruch. Identität in Literatur, Film und Politik. Metzler Verlag, Berlin 2020, S. 77–87.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c d e f g h i Charlotte von Bernstorff: Was diesen Kontinent zusammenhält. Das Europäische Archiv der Stimmen. In: deutschlandfunkkultur.de. Deutschlandfunk Kultur, 24. Juni 2020, abgerufen am 26. Juni 2020.
  2. a b c d e f g h i j k European Archive of Voices. In: archiveofvoices.eu. Arbeit an Europa e.V., 2020, archiviert vom Original am 22. November 2019; abgerufen am 27. Juni 2020 (englisch).  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/archiveofvoices.eu
  3. European Archive of Voices. In: arbeitaneuropa.com. Arbeit an Europa e.V., 2020, abgerufen am 10. Juli 2020 (englisch).
  4. a b c d Stefan Meetschen: Simon Strauss: Religion wird wieder eine stärkere Instanz werden. Die Tagespost – Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, 27. Februar 2019, abgerufen am 8. Juli 2020.
  5. a b c d e f g Charlotte von Bernstorff: Ein kollektives Gedächtnis für Europa. Das Europäische Archiv der Stimmen. In: deutschlandfunkkultur.de. Deutschlandfunk Kultur, 20. November 2019, abgerufen am 26. Juni 2020.
  6. a b c d e f g h i j k l Arbeit an Europa e.V. (Hrsg.): Projektvorstellung „European Archive of Voices“. Oberuckersee 2020.
  7. Bernd Rill, et al u.a. Aleida Assmann: Nationales Gedächtnis in Deutschland und Polen. Das gespaltene Gedächtnis Europas und das Konzept des dialogischen Erinnerns. Hrsg.: Hanns-Seidel-Stiftung e.V. München 2011, ISBN 978-3-88795-381-2, S. 18 (hss.de [PDF]).
  8. a b c Livia Gerster: Nicht mit Wirtschaft beginnen, sondern mit Kultur. Europa anders denken: Eine Initiative sammelt die Stimmen älterer Zeitzeugen, denen die Einheit des Kontinents wichtig ist. So soll ein Archiv der Ideen entstehen. In: Michael Maier (Hrsg.): Berliner Zeitung. Tageszeitung. Nr. 119. Berliner Verlag, 24. Mai 2019, ISSN 0947-174X, S. 4.
  9. a b c u.a. Simon Strauß: Frankfurter Buchmesse; News and Information. Simon Strauß: Working on Europe. Band 46, 2019, S. 16, 17 (englisch).
  10. Arbeit an Europa in der Öffentlichkeit. In: arbeitaneuropa.com. Arbeit an Europa e.V., abgerufen am 16. November 2021.
  11. Jugendkarlspreis: die Gewinner 2021 und 2020. In: europarl.europa.eu. Europäisches Parlament, 30. September 2021, abgerufen am 16. November 2021.
  12. Charlotte von Bernstorff: Ein kollektives Gedächtnis für Europa. Das Europäische Archiv der Stimmen. In: deutschlandfunkkultur.de. Deutschlandfunk Kultur, 20. November 2019, abgerufen am 26. Juni 2020 (Wortstellung zum besseren Verständnis leicht verändert. Original: „Das ist das entscheidende Ziel, dass wir am Ende wirklich etwas anderes erzählen können als eine jüngere Generation über Europa, als nur das, was die Politiker meinen, was die EU ist.“).
  13. European Archive of Voices. In: archiveofvoices.eu. Arbeit an Europa e.V., 2020, archiviert vom Original am 22. November 2019; abgerufen am 27. Juni 2020 (englisch).  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/archiveofvoices.eu
  14. Questionnaire. (PDF) European Archive of Voices – A Project by Arbeit an Europa e.V. In: archiveofvoices.eu. Arbeit an Europa e.V., 2020, archiviert vom Original am 22. November 2019; abgerufen am 27. Juni 2020 (englisch).  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/archiveofvoices.eu