Glutamat-Unverträglichkeit

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Bei einer sogenannten Glutamat-Unverträglichkeit, umgangssprachlich auch Chinarestaurant-Syndrom genannt, nicht zu verwechseln mit Gluten-Unverträglichkeit, handelt es sich um eine kurzzeitige Symptomatik, die nach Schilderung einiger Personen bei ihnen nach Einnahme von Glutamaten auftritt.

Glutaminsäure kommt in allen Lebewesen natürlicherweise als Baustein von Proteinen vor und hat zusätzlich die Funktion eines exzitatorischen (erregenden) Neurotransmitters im zentralen Nervensystem. Sie ist in erheblicher Konzentration natürlicher Bestandteil in zahlreichen Lebensmitteln. Glutamate werden der Speise aber auch als Geschmacksverstärker in Zubereitungen besonders der asiatischen Küche oder Convenience-Food-Produkten künstlich zugesetzt. Wissenschaftliche Untersuchungen sprechen dafür, dass nicht Glutamate oder Glutaminsäure, sondern andere Nahrungsbestandteile oder situative Einflüsse die Ursache der geschilderten Beschwerden sind. Sicher handelt es sich bei ihnen weder um Folgen einer Intoxikation noch einer Intoleranz oder einer Allergie.[1]

Vorkommen von Glutamaten[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1866 wurde Glutamat von dem Chemiker Heinrich Ritthausen erstmals als Reinsubstanz aus Naturstoffen isoliert. Es kommt in fast allen Lebensmitteln an Proteine und Peptide gebunden vor. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung schätzt, dass die übliche europäische Mischkost täglich etwa 8 bis 12 g Glutamat enthält.[2] In europäischer Kost enthalten Hefeextrakt, Brühwürfel, Würzmischungen, Käse (insbesondere Parmesan), Sardellen und reife, konzentrierte oder getrocknete Tomaten besonders viel natürliche Glutamate. Noch mehr natürliche Glutamate sind in asiatischer Kost enthalten, vor allem in Sojasauce und Fischsauce. Diese Glutamatquellen werden als Aromen oder Lebensmittel nicht als Lebensmittelzusatzstoff klassifiziert und erhalten keine E-Nummer (siehe Lebensmittelrecht).

1907 entwickelte Ikeda Kikunae von der Universität Tokio erstmals ein Synthese-Verfahren für Natriumglutamat. Er patentierte auch ein Verfahren zur Massenproduktion.[3] Heutzutage wird Mononatriumglutamat durch Fermentation durch Corynebacterium glutamicum aus stärkehaltigen pflanzlichen Produkten hergestellt. Seitdem werden Glutamate in großen Mengen als Nahrungszusatzstoff besonders in der asiatischen Küche und in fast allen Fertig- oder Halbfertigprodukten der Lebensmittelindustrie verwendet, auch in Kartoffelchips und Tütensuppen.

Chinarestaurant-Syndrom[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1968 wurde erstmals im Brief eines Lesers an das New England Journal of Medicine eine Reihe akuter Beschwerden genannt, die er regelmäßig nach dem Besuch von China-Restaurants empfinde; es bekam den Namen Chinarestaurant-Syndrom.[4][3] Der Brief war mit “Robert Ho Man Kwok, MD, Senior Research Investigator, National Biomedical Research Foundation, Silver Spring, Md.” unterzeichnet. 2018 gab der orthopädische Chirurg Howard Steel öffentlich bekannt, der Autor des Briefs gewesen zu sein, und erklärte, dass es sich hierbei um einen Hoax infolge einer Wette mit einem Kollegen gehandelt habe.[5] Seine Versuche, im NEJM eine Richtigstellung zu veröffentlichen, sollen vom Magazin abgeblockt worden sein. Der Name des vermeintlichen Arztes sei laut Steel die Verballhornung von „Dr. Human Crock“ gewesen, das seinerseits die Kurzform eines Schimpfworts „a human crock of you-know-what“ („Ein Pott voller Du-weißt-schon-was“). Ein weiterer Hinweis sei der frei erfundene Name des angeblichen Instituts: ein „National Biomedical Research Foundation, Silver Spring“ existiere nicht. Jedoch steht Steels Aussage der Tatsache gegenüber, dass es sowohl das besagte Institut gibt, als auch dass es einen Robert Ho Man Kwok gegeben hat, der dort gearbeitet hatte.[6] Zudem haben Kwoks Kinder und ein Kollege am Institut bestätigt, dass Kwok 2014 verstorben sei.[6] Damit ist es wahrscheinlich, dass Steels Behauptung selbst der Hoax war.

Als zahlreiche weitere Fälle von Unverträglichkeitsreaktionen nach dem Essen in solchen Restaurants bekannt wurden, folgte 1969 eine Publikation, in der andere Autoren erstmals die Hypothese aufstellten, es bestehe ein ursächlicher Zusammenhang der Beschwerden mit künstlich den Speisen zugesetzten Glutamaten.[7] Bereits 10 bis 20 Minuten nach Aufnahme der als Auslöser angesehenen Stoffe soll es zu Mundtrockenheit, Kribbeln oder Taubheitsgefühl in der Mundhöhle, Juckreiz im Hals, geröteten Hautpartien (z. B. Wangen) mit Hitzeempfindung, Herzklopfen, (Schläfen)-Kopfschmerzen, Gesichtsmuskelstarre, Nackensteifheit, Gliederschmerzen und Übelkeit kommen.

Der Begriff Chinarestaurant-Syndrom wird von Ajinomoto als unwissenschaftlich und rassistisch gewertet,[8] wie auch von Anthony Bourdain:

“You know what causes Chinese Restaurant Syndrome? – Racism.”

„Wissen Sie, was der Auslöser für das Chinarestaurant-Syndrom ist? – Rassismus.“

Anthony Bourdain: Parts Unknown[9]

Kritik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Es gibt in der medizinischen Literatur zahlreiche Fallberichte. Allerdings lassen sich bei solchen Berichten grundlegende methodische Fehler nicht kontrollieren, und daher sind Fallberichte nach den Regeln der evidenzbasierten Medizin nicht beweiskräftig. Ohnehin war es nicht überzeugend, dass eine Substanzgruppe, die mit der „normalen“ Nahrung in Mengen von täglich etwa zehn Gramm ohne Beschwerden aufgenommen wird, bei zusätzlicher Aufnahme als Geschmacksverstärker zu Beschwerden führen soll. In den bisher zu dieser Frage veröffentlichten kontrollierten Studien, insbesondere in den am meisten aussagekräftigen Blindstudien, konnte nicht nachgewiesen werden, dass mit der Nahrung zusätzlich zugeführte Glutamate Symptome wie beim „Chinarestaurant-Syndrom“ auslösen. Dies gilt auch für solche Versuchspersonen, die sich selbst für Glutamat-empfindlich hielten.[3] Bei ihnen ließ sich dagegen vermehrt ein Nocebo-Effekt nachweisen: Allein die Befürchtung, dass sie Glutamate zu sich nehmen, führt bei ihnen, selbst wenn dies in den Versuchen nicht der Fall ist, zu vermeintlich Glutamat-spezifischen Beschwerden.[10][11][12] In einem weiteren Forschungsbericht wird die Studienlage wie folgt zusammengefasst:

“[…] studies indicate that the symptoms observed in some experiments are not specific to MSG ingestion and can also be elicited by other foods. Studies in which MSG was administered in food rather than in pure form have generally shown a lack of symptoms altogether. Thus, a causal relationship between MSG and acute, temporary and ‚self-limiting‘ adverse reactions is far from established.”

„Studien zeigen, dass die in einigen Experimenten beobachteten Symptome nicht für MSG-Einnahme spezifisch sind und auch von anderen Nahrungsmitteln hervorgerufen werden können. Studien, in denen MSG in Nahrungsmitteln statt pur verabreicht wurde, zeigen allesamt generell ein Fehlen von Symptomen. Folglich ist ein kausaler Zusammenhang zwischen MSG und akuten, temporären und ‚selbstbegrenzenden‘ Nebenwirkungen weit davon entfernt, nachgewiesen zu sein.“[13]

Diese und andere Studien zeigen also, dass die bei einigen Experimenten beobachteten Symptome nicht spezifisch für die Aufnahme von Glutamaten sind, sondern auch durch andere Speisen wie Garnelen, Erdnüsse, Fisch- und Sojasauce oder spezielle Kräuter und Zusatzstoffe ausgelöst werden können. Insbesondere hatten Studien, in denen Glutamate dem Essen zugesetzt, also nicht pur verabreicht wurden, keine eindeutigen Hinweise auf glutamatbedingte Beschwerden ergeben. Selbst bei Personen, die angaben, das Chinarestaurant-Syndrom trete bei ihnen auf, ergaben Doppelblindversuche keine Hinweise auf Glutamat als Ursache ihrer Beschwerden, urteilte 1987 das Expertengremium der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Gemeinsame FAO/WHO-Sachverständigenausschuss für Lebensmittelzusatzstoffe (JECFA).[14][15] Ein Zusammenhang zwischen Glutamaten und akuten oder zeitweiligen Beschwerden gilt daher als nicht erwiesen.

Die recht eindeutige wissenschaftliche Datenlage hat allerdings nicht dazu geführt, dass einschlägige Selbsthilfegruppen, Internetforen, Anbieter von Nahrungsergänzungsstoffen, Massenmedien, Heilpraktiker, Vertreter der Paramedizin und andere die überkommene Vorstellung einer Glutamatintoleranz grundsätzlich hinterfragen. So überschrieb das Wochenmagazin Focus 2009 einen Artikel mit der Feststellung „Glutamatintoleranz – krank durch chinesisches Essen“ und verwies am Schluss zur weiteren Beratung an eine namentlich genannte Oecotrophologin des Deutschen Allergie- und Asthmabunds.[16]

Vorschriften[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Glutamate sind, aufgrund der vorgenannten Studien, von den Gesundheitsbehörden der USA und den meisten Ländern Europas als gesundheitlich unbedenklich eingestuft.[3] 1991 wurde daher vom wissenschaftlichen Ausschuss für Lebensmittel (SCF) der Europäischen Union keine erlaubte Tagesdosis für Glutamat festgelegt. In Deutschland ist Natriumglutamat als Zusatz lediglich in Babynahrung verboten. Ansonsten sind für die Verwendung in Lebensmitteln sechs Glutaminsäureverbindungen als Zusatzstoffe zugelassen. Gemäß Lebensmittelkennzeichnungsverordnung (LMKV) § 6 ist der Klassenname (Geschmacksverstärker) gefolgt von der Verkehrsbezeichnung (Name der betreffenden Glutaminsäureverbindung oder entsprechende E-Nummer) anzugeben. Die „E-Nummern“ E 620 bis E 625 auf der Liste der Lebensmittelzusatzstoffe stehen für die zugelassenen Glutamate. Auch Lebensmittel ohne Zutatenliste (z. B. lose Ware) müssen durch die Angabe „mit Geschmacksverstärker“ an oder bei der Ware oder als Aushang gekennzeichnet sein. Die höchstzulässige Konzentration der Glutamat-Zusätze ist in Fleisch- und Fischkonserven und Fertiggerichten 1 %, in Saucen 2 % und in Würzmitteln 50 %. Lebensmittel mit den Inhaltsstoffen Hefeextrakt oder Würze enthalten zwar keine synthetischen Glutamate und dürfen daher die Aufschrift „ohne Geschmacksverstärker“ haben, enthalten aber vermehrt natürliche Glutamate.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Ian Mosby: ‘That Won-Ton Soup Headache’: The Chinese Restaurant Syndrome, MSG and the Making of American Food, 1968–1980. In: Social History of Medicine. Band 22, Nr.

1, 2009, S. 133–151. doi:10.1093/shm/hkn098

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Universität Jena 2011: Übersicht zu Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten und ihre Diagnostik Grundlagen der Ernährungsphysiologie – BE 2.2 (BEBW 7) (Memento vom 1. Februar 2014 im Internet Archive)
  2. DGE: Ist der Geschmacksverstärker Glutamat gesundheitsschädlich? 2003. dge.de
  3. a b c d Alex Denton: If MSG is so bad for you, why doesn’t everyone in Asia have a headache?, The Guardian vom 10. Juli 2005, abgerufen am 1. Dezember 2015 (englisch).
  4. Robert Ho Man Kwok: Chinese-Restaurant Syndrome. In: New England Journal of Medicine. Band 278, Nr. 14, 4. April 1968, S. 796–796, doi:10.1056/NEJM196804042781419.
  5. The Strange Case of Dr. Ho Man Kwok. In: Colgate Magazine. 6. Februar 2019, abgerufen am 18. Mai 2021 (englisch).
  6. a b 668: The Long Fuse. In: This American Life. 16. Februar 2019, abgerufen am 18. Mai 2021 (englisch).
  7. H. H. Schaumburg, R. Byck, R. Gerstl, J. H. Mashman: Monosodium L-glutamate: its pharmacology and role in the Chinese restaurant syndrome. In: Science. Band 163, Nummer 3869, Februar 1969, S. 826–828, ISSN 0036-8075. PMID 5764480.
  8. 'Chinese Restaurant Syndrome' – what is it and is it racist? In: BBC News. 16. Januar 2020, abgerufen am 13. September 2020 (englisch).
  9. Helen Rosner: An MSG Convert Visits the High Church of Umami. In: New Yorker. Condé Nast, 27. April 2018, abgerufen am 13. September 2020 (englisch).
  10. Prawirohardjono u. a.: The administration to Indonesians of monosodium L-glutamate in Indonesian foods: an assessment of adverse reactions in a randomized double-blind, crossover, placebo-controlled study. 2000. jn.nutrition.org (Memento des Originals vom 31. Januar 2017 im Internet Archive; PDF)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/jn.nutrition.org
  11. Simon: Additive-induced urticaria: experience with monosodium glutamate (MSG). 2000. jn.nutrition.org (Memento des Originals vom 27. Mai 2016 im Internet Archive; PDF)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/jn.nutrition.org
  12. Glutamat kein Risiko für die Gesundheit? Chinarestaurant-Syndrom: Fakten oder Fiktion. Heilpraxisnet.de, 2011. heilpraxisnet.de
  13. R. S. Geha, A. Beiser, C. Ren, R. Patterson, P. A. Greenberger, L. C. Grammer, A. M. Ditto, K. E. Harris, M. A. Shaughnessy, P. R. Yarnold, J. Corren, A. Saxon: Review of alleged reaction to monosodium glutamate and outcome of a multicenter double-blind placebo-controlled study. In: The Journal of nutrition. Band 130, Nummer 4S Suppl, April 2000, S. 1058S–1062S, ISSN 0022-3166. PMID 10736382. (Review).
  14. Deutsche Gesellschaft für Ernährung DGE-aktuell 08/2003 vom 10. Juni 2003 Ist der Geschmacksverstärker Glutamat gesundheitsschädlich?
  15. R. Walker, J. R. Lupien: The safety evaluation of monosodium glutamate. In: J Nutr. 130 (4S Suppl), 2000, S. 1049S–1052S. PMID 10736380; jn.nutrition.org (Memento des Originals vom 13. Januar 2012 im Internet Archive; PDF)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/jn.nutrition.org (englisch)
  16. Glutamatintoleranz – krank durch chinesisches Essen. In: Focus. 2. April 2009.