Heinrich Reiser (Gestapo)

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Heinrich Josef Reiser[1] (* 17. Oktober 1899 in Ehingen; † nach 1963) war ein deutscher SS-Offizier sowie Mitarbeiter der Geheimen Staatspolizei und des SD. Von 1950 an war er Geheimdienstmitarbeiter der Organisation Gehlen und des daraus entstandenen Bundesnachrichtendienstes.

Heinrich Reiser 1955

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ausbildung und Tätigkeiten bis 1930[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Reiser war Sohn eines Maurers. Er wurde katholisch erzogen und besuchte zunächst die örtliche Volksschule. Da die Familie unter finanziell beschränkten Bedingungen lebte, wurde der als begabt geltende Reiser im Mai 1913 zur weiteren Ausbildung in eine italienische Dependance des Männerordens der Fratelli delle Scuole Cristiane in Favria bei Turin geschickt.[2] Dort lernte er neben Italienisch auch Französisch und Englisch. Nachdem Italien auf Seiten der Entente in den Ersten Weltkrieg eingetreten war, wurde Reiser aber als unerwünschter Ausländer des Landes verwiesen. In Deutschland arbeitete er zunächst für den Vaterländischen Hilfsdienst. 1917 wurde er Soldat und geriet in englische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1919 krank entlassen wurde. Bis 1920 lag er in einem Militärhospital.[3][4]

Nach Besuch der Handelsschule erlernte Reiser in Stuttgart den Beruf des Elektromonteurs. Danach lebte und arbeitete er als Techniker sowie Kaufmann mehrere Jahre im Ausland, ab 1927 in Brasilien. Durch die Weltwirtschaftskrise arbeitslos geworden, kehrte Reiser 1931 mittellos nach Deutschland zurück. Der Versuch, sich selbständig zu machen, scheiterte, Reiser konnte seine Arbeitslosigkeit nur gelegentlich durch Aushilfstätigkeiten unterbrechen.[3]

SS-Mann und Gestapo-Beamter 1931–1945[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1931 wurde Reiser Mitglied der SS (SS-Nr. 21.844) und am 1. Februar 1932 der NSDAP (Mitgliedsnummer 887.100). Aus der Kirche trat er aus.[3] Am 20. September 1933 wurde er als arbeitsloser SS-Mann der Politischen Polizei, der späteren Gestapo, in Stuttgart als Hilfspolizist zugeteilt.[5] Damit begann Reisers „eigentliche Karriere“, so der Historiker Michael Stolle, da „er es rechtzeitig verstanden hatte, im krisengeschüttelten Deutschland auf das richtige Pferd zu setzen“:[6]

Dem Sozialhistoriker Christoph Rass zufolge war Heinrich Reiser in den folgenden Jahren trotz seines relativ niedrigen SS-Ranges „an wichtigen Stellen des NS-Machtapparates“ tätig.[4] Im Juli 1935 wurde er als SS-Untersturmführer stellvertretender Leiter der Dienststelle Württemberg beim Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, 1936 SS-Obersturmführer und am 1. März 1939 Kriminalkommissar. Vom März bis September 1939 war Reiser dann stellvertretender Leiter des Judenreferats der Gestapo Karlsruhe.[3] 1939 wurde Reiser zum Einsatzkommando „Stossberg“ im tschechischen Tábor abgestellt. Bis Oktober 1940 übernahm er dort die Leitung der Gestapo-Außenstelle. Danach wurde er ins besetzte Paris versetzt, wo er bis 1942 als SS-Hauptsturmführer das Referat „Abwehr-Kommunismus-Marxismus“ beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD leitete.[4][7]

Von November 1942 an war Reiser beim Pariser Sonderkommando Rote Kapelle, das vom SS-Hauptsturmführer und Kriminalrat Karl Giering geleitet wurde und nach sowjetischen Spionen suchte. Die bei der Fahndung verhafteten Verdächtigen wurden dabei vom Sonderkommando misshandelt.[8] Reiser selbst will bei den Ermittlungen nur „mit polizeilichen Angelegenheiten“ befasst gewesen sein. Als der krebskranke Giering im Sommer 1943 seinen Posten aufgeben musste, übernahm Reiser kurzzeitig die Führung des Pariser Sonderkommandos, bis im August 1943 der aus der Berliner Zentrale kommende Heinz Pannwitz die Leitung übernahm.[9]

Ab Mitte 1943 bis 1945 war Reiser nach Rückkehr zur Gestapo Karlsruhe Leiter des Sonderkommissariats Reiser, mit dem er gegen eine Widerstandsorganisation von sowjetischen Zwangsarbeitern vorging. Dabei kam es zu „brutalsten Folterungen“[10] und „Sonderbehandlungen“, also der Ermordung von Zwangsarbeitern.[5] Kurz vor Kriegsende war er noch wenige Monate in einer Volksgrenadier-Division, mit der er 1945 in französische Kriegsgefangenschaft geriet.[4]

Nachkriegszeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Heinrich Reiser wurde nach seiner Gefangennahme nach Frankreich überstellt, wo er vom Geheimdienst befragt wurde. Im Juli 1949 wurde er aber ohne Verfahren nach Deutschland entlassen. Aufgrund eines von der Staatsanwaltschaft Karlsruhe begonnenen Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts auf Misshandlung und Mord an Zwangsarbeitern wurde Reiser wenig später inhaftiert, aber im Frühjahr 1950 wegen unzureichender Beweislage aus der Untersuchungshaft entlassen.[5][11] 1951 durchlief er ohne Probleme sein Entnazifizierungsverfahren.[4]

Direkt nach seiner Freilassung wurde Reiser Anfang April 1950 von Alfred Benzinger für die Organisation Gehlen (OG) angeworben (als V-2629,[12] Decknamen Hans Reiher, Hans Roesner, Hugo Reger, Hugo Hoss, Hans Reichardt).[5] Nach Außen hin trat er als Industriekaufmann und Elektriker auf.[7] Innerhalb der OG war Reiser bei der Karlsruher Generalvertretung L beschäftigt. Zunächst Ermittler, wurde er später stellvertretender Leiter einer Zweigstelle und leitete ab Februar 1957 eine eigene Ermittlergruppe in Stuttgart.[4][5]

Bereits in französischer Haft hatte Reiser 1948 das Gerücht gestreut, die Rote Kapelle sei nur „scheintot“ und könne von der Sowjetunion jederzeit wieder aktiviert werden. Der britische Geheimdienst und das amerikanische Counter Intelligence Corps (CIC) hatten daraufhin vergeblich versucht, Reiser als „Spezialisten“ anzuwerben. Reiser gelang es, auch den OG-Chef Reinhard Gehlen von der Weiterexistenz dieser Spionageorganisation zu überzeugen und führte in den 1950er Jahren Ermittlungen gegen ehemalige Angehörige der „Roten Kapelle“ durch. Dazu warb er weitere ehemalige Gestapo-Mitarbeiter an.[5][13]

1963 wurde Reiser als einer von 146 BND-Angehörigen durch die eigens dafür gegründete Organisationseinheit 85 auf seine NS-Vergangenheit hin überprüft.[14] Reiser gestand seine Beteiligung an Hinrichtungen von Zwangsarbeitern während seiner Zeit bei der Gestapo Karlsruhe ein. Dennoch wurde er nicht sofort entlassen, sondern im Sommer 1964 bis zum Erreichen des gesetzlichen Pensionsalters im Oktober 1964 beurlaubt.[5] Reiser wurde nie für seine Rolle im „Dritten Reich“ zur Rechenschaft gezogen.[4]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Christoph Rass: Leben und Legende. Das Sozialprofil eines Geheimdienstes. In: Jost Dülffer et al. (Hg.): Die Geschichte der Organisation Gehlen und des BND 1945–1968. Umrisse und Einblicke. Dokumentation der Tagung am 2. Dezember 2013. (UHK-BND, Studien; 2). Marburg 2014, S. 26–41 ISBN 978-3-9816000-1-8 (PDF, 2,2 MB).
  • Michael Stolle: Die Geheime Staatspolizei in Baden. Personal, Organisation, Wirkung und Nachwirken einer regionalen Verfolgungsbehörde im Dritten Reich. UVK Universitätsverlag, Konstanz 2001, ISBN 978-3-89669-820-9.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Vorname auch als Josef Reiser sowie Josef Heinrich Reiser, Spitzname „Heini“ lt. Norman J. W. Goda: Tracking the Red Orchestra. Allied Intelligence, Soviet Spies, Nazi Criminals. In: Richard Breitman et al.: U.S. Intelligence and the Nazis. Cambridge 2005, S. 293–316, hier S. 207.
  2. Laut Christoph Rass wanderte die Familie nach Italien aus (Leben und Legende. Das Sozialprofil eines Geheimdienstes. In: Jost Dülffer et al. (Hg.): Die Geschichte der Organisation Gehlen und des BND 1945–1968. Umrisse und Einblicke. Marburg 2014, S. 26–41, hier: S. 27 f.)
  3. a b c d Michael Stolle: Die Geheime Staatspolizei in Baden. Konstanz 2001, S. 166, 361.
  4. a b c d e f g Christoph Rass: Leben und Legende. Das Sozialprofil eines Geheimdienstes. In: Jost Dülffer et al. (Hg.): Die Geschichte der Organisation Gehlen und des BND 1945–1968. Umrisse und Einblicke. Marburg 2014, S. 26–41, hier: S. 27 f.
  5. a b c d e f g Völlige Reintegration? Die ehemaligen Gestapo-Mitarbeiter ab 1950, auf geschichtsort-hotel-silber.de (Haus der Geschichte Baden-Württemberg) (abgerufen am 20. September 2014).
  6. Zitate aus: Michael Stolle: Die Geheime Staatspolizei in Baden. Konstanz 2001, S. 166.
  7. a b Michael Stolle: Die Geheime Staatspolizei in Baden. Konstanz 2001, S. 361.
  8. Donal O'Sullivan: Dealing with the Devil. Anglo-Soviet Intelligence Cooperation During the Second World War. New York u. a. 2010, S. 255.
  9. Leopold Trepper: Die Wahrheit. München 1975, passim, Zitat S. 409; Heinz Höhne: ‚ptx ruft moskau‘. Die Geschichte des Spionageringes „Rote Kapelle“. 3. Fortsetzung. In: Der Spiegel Nr. 24 v. 10. Juni 1968, S. 98–110, insb. S. 109; Johannes Tuchel: Die Gestapo-Sonderkommission „Rote Kapelle“. In: Hans Coppi, Jürgen Danyel, Johannes Tuchel: Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Berlin 1994, S. 145–159.
  10. Michael Stolle: Die Geheime Staatspolizei in Baden. Konstanz 2001, S. 361 & S. 207 (dort auch das Zitat).
  11. Laut Michael Stolle lebte Reiser dagegen 1945–1947 „unter falscher Berufsbezeichnung in Ravensburg“ (Die Geheime Staatspolizei in Baden. Konstanz 2001, S. 361).
  12. Research Aid: Cryptonyms and Terms in Declassified CIA Files Nazi War Crimes and Japanese Imperial Government Records Disclosure Acts (IWG, Juni 2007), S. 50. (PDF 412 kB; abgerufen am 2. September 2013).
  13. Norman J. W. Goda: Tracking the Red Orchestra. Allied Intelligence, Soviet Spies, Nazi Criminals. In: Richard Breitman et al.: U.S. Intelligence and the Nazis. Cambridge 2005, S. 293–316, hier S. 206 f.
  14. vgl. Peter Carstens: NS-Verbrecher im BND: Eine „zweite Entnazifizierung“. In: FAZ v. 18. März 2010 (abgerufen am 12. September 2014).