Ingerenz

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Ingerenz (lateinisch ingerere „sich einmischen“) ist ein terminus technicus des Strafrechts und bezeichnet gefährdendes Vorverhalten im Kontext des rechtlichen Instituts der Garantenstellung.[1] Ist dieses Vorverhalten objektiv pflichtwidrig, so wird der Gefährder (nach herrschender Meinung) Garant des Gefährdeten.[2] Diese Stellung begründet eine besondere Rechtspflicht (sog. Garantenpflicht) gegenüber dem Gefährdeten: Der Gefährder muss dafür einstehen, dass sich das geschaffene Risiko der Rechtsgutsverletzung nicht realisiert.[3][4] Kommt er dieser Pflicht nicht nach, kann dies gem. § 13 StGB zur Strafbarkeit wegen eines unechten Unterlassungsdelikts führen.[5][6]

Anforderungen an die Garantenstellung aus Ingerenz[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Qualität des vorausgegangenen Verhaltens[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eine Mindermeinung in der Literatur geht davon aus, dass das Vorverhalten nur riskant sein muss und zur Strafbarkeit führt, auch wenn es erlaubt ist.[7] Weil diese Ansicht jedoch schon die bloße Risikosetzung unter Strafe stellt, wird sie größtenteils abgelehnt.

Nach herrschender Meinung muss das vorausgegangene gefährliche Tun ein unerlaubtes Risiko schaffen bzw. rechtswidrig sein, um eine Garantenstellung aus Ingerenz zu begründen. So macht sich ein Gastwirt für die Folgen des Alkoholausschanks an erkennbar Betrunkene strafbar, § 20 Gaststättengesetz (GastG).[8] Wer sich hingegen zulässig in Notwehr eines Angriffs erwehrt, wird nicht zum Garanten des Angreifers.[9][10][11]

Kausalzusammenhang[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zur Strafbarkeit führt die Ingerenz jedoch nur, wenn sich die rechtswidrig gesetzte Gefahr auch tatsächlich verwirklicht und der Täter dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte verhindern können, wenn er gehandelt hätte.[12] Eine Mindermeinung lässt in entsprechender Anwendung der Risikoerhöhungslehre bereits die Möglichkeit, die Gefahr abzuwenden oder zu vermindern, ausreichen. Weil damit die Erfolgsdelikte in reine Gefährdungsdelikte umgedeutet würden, lehnt die h. M. diese Ansicht ab.

Beispiel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auf dem Heimweg nachts um 3 Uhr wird A von B, der mit einem Messer bewaffnet ist und ihm seine Wertgegenstände wegnehmen will, überfallen. A gelingt es, den B mit einem herumliegenden Stein niederzuschlagen. Anschließend lässt er den am Kopf schwer verletzten B liegen, ohne sich um medizinische Hilfe zu kümmern. Wenig später kommt C vorbei, der die Schwere der Verletzung erkennt; er bemüht sich jedoch ebenfalls nicht um Hilfe. B stirbt, hätte aber bei sofortiger Hilfe durch A oder C gerettet werden können.

A hat mit seiner Notwehrhandlung den B zwar verletzt, was jedoch durch den rechtswidrigen Angriff des B herausgefordert und ausgelöst worden war. Den A mit der Garantenstellung für den B zu belasten, widerspräche dem Sinn des Notwehrrechts. Ein durch Unterlassen begangenes Tötungsdelikt gem. § 212 StGB in Verbindung mit § 13 StGB scheidet somit aus.

C hat für den B schon keine Gefahr gesetzt, die sich im Tod des B hätte realisieren können. Ein durch Unterlassen begangenes Tötungsdelikt scheidet somit auch hier aus.

Der durch § 323c Abs. 1 StGB strafbewehrte allgemeine Anspruch auf Hilfeleistung des B greift jedoch auch dann, wenn der Betroffene die Notlage selbst hervorgerufen hat.[13] Sowohl A als auch C könnten sich daher wegen unterlassener Hilfeleistung zum Nachteil des B strafbar gemacht haben.[14]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. BGH NJW 2017, S. 2052 ff. (2054); Ulrich Sieber, in: Sieber Handbuch Multimedia-Recht, Teil 19. 1, Rn. 37.
  2. Nikolaus Bosch, in: Schönke/Schröder Strafgesetzbuch (Kommentar), § 13 Rn. 35; Georg Freund, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 13 Rn. 118.
  3. Grundlegend RG, Urteil vom 20. Oktober 1893 - Rep. 2727/93, RGSt 24, 339, 340; BGH, Urteil vom 22. Januar 1953 - 4 StR 417/52, BGHSt 4, 20, 22; Fischer, StGB, 64. Aufl., § 13 Rn. 47 ff. sowie Andreas Ransiek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5., neu bearbeitete Auflage 2019.
  4. BGH, Beschluss vom 13. November 1963 - 4 StR 267/63, BGHSt 19, 152, 154 und Urteile vom 26. Juni 1990 - 2 StR 549/89, BGHSt 37, 106, 115 sowie vom 19. Dezember 1997 - 5 StR 569/96, BGHSt 43, 381, 397.
  5. BGH, Urteil vom 6. Juli 1990 - 2 StR 549/89
  6. BGH, Urteil vom 9. Mai 2017 – 1 StR 265/16 Rdnr. 81 ff.
  7. Arzt JA 1980, 712 ff.; Freund, JuS 1990, 213, 216; Herzberg JZ 1986, 986 ff.; Seelmann GA 1989, 241, 255.
  8. BGH, Urteil vom 5. Dezember 1974 - G.S. 4 StR 529//74 = BGHSt 26, 35.
  9. BGH, Urteil vom 29. Juli 1970 - g. E. 2 StR 221/70
  10. Welzel, Deutsches Strafrecht § 28 A I 4; Dreher, StGB 31. Aufl. vor § 1 Anm. D I 4; Schönke/Schröder, StGB 15. Aufl. Vorbem. Rdn. 120 d; Mezger, Strafrecht 13. Aufl. § 29 III 2 c; Eb. Schmidt, Niederschriften Gr. Str-Komm. Bd. 2 S. 269; Henkel MSchrKrim. 1961 S. 183, Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte S. 180 ff.
  11. Jakobs 29/39 ff.; Maiwald JuS 1981, 473, 482 f.; Otto NJW 1974, 528 ff.
  12. BGHSt 7, 211, 214; 37, 106, 126; BGH NStZ 1987, 505; Christian Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 18 Rdnr. 36.
  13. BGHSt 6, 147, 152.
  14. Vgl. Urs Kindhäuser: Unechte Unterlassungsdelikte Universität Bonn, ohne Jahr, S. 3 f.