Irmgard F.

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Irmgard F. (* 29. Mai 1925 als Irmgard D. in Kalthof bei Danzig) ist eine deutsche ehemalige Sekretärin und Stenotypistin, die während der NS-Herrschaft im Konzentrationslager Stutthof tätig war. Sie wurde deshalb im Februar 2021 im Alter von 95 Jahren wegen Beihilfe zum Mord in über 11.412 Fällen und wegen Beihilfe zum versuchten Mord in 18 weiteren Fällen angeklagt. Im Dezember 2022 im Alter von 97 Jahren wurde sie zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt, das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig, da Revision zum Bundesgerichtshof eingelegt wurde.

Leben[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eingang zum KZ Stutthof

F. besuchte von 1931 bis 1939 die Volksschule und absolvierte anschließend das sogenannte Landjahr. Anschließend machte sie eine kaufmännische Lehre. Eine erste Anstellung fand sie als Stenotypistin der Dresdner Bank in Marienburg.[1]

Vom 1. Juni 1943 bis zum 1. April 1945 arbeitete sie als Schreibkraft im KZ Stutthof. 1954 sagte sie als Zeugin in einem Prozess aus, dass sie als Stenotypistin dem KZ-Kommandanten Paul Werner Hoppe unterstellt war und der gesamte Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt durch ihre Hände gegangen sei. In Stutthof lernte sie den SS-Oberscharführer Heinz F. kennen, den sie 1954 heiratete.[1][2] Von 1960 bis 2014 lebte sie in einem Mehrfamilienhaus in Schleswig und arbeitete bis zu ihrer Verrentung als Verwaltungsangestellte. Anschließend zog sie in ein Seniorenheim. Ihr Mann starb 1972.[1][3]

Prozess[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nach fünfjähriger Ermittlungsarbeit erhob die Staatsanwaltschaft Itzehoe im Februar 2021 Anklage gegen Irmgard F. Die Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen von der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen übergeben bekommen.[4] Der Prozess fand vor einer Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe statt, da F. zum Zeitpunkt der ihr vorgeworfenen Taten erst 18 und 19 Jahre alt war.[5] Vor der Prozesseröffnung hatte sie mitgeteilt, nicht vor Gericht erscheinen zu wollen, und den Richter ersucht, ihr dies nicht zuzumuten. Die Strafprozessordnung sieht vor, dass die Hauptverhandlung bei einem derartigen Verfahren nicht in Abwesenheit der Angeklagten begonnen werden darf. Mit Irmgard F. stand zum ersten Mal eine Zivilangestellte eines deutschen Konzentrationslagers vor Gericht.[6]

Ende September 2021 flüchtete F. am frühen Morgen des ersten Verhandlungstages aus dem Seniorenheim in Quickborn-Heide, in dem sie wohnt, und begab sich mit einem Taxi zum U-Bahnhof Norderstedt Mitte. Das Gericht erließ Haftbefehl; F. wurde rasch gefasst und verhaftet.[7][8][9][10] Fünf Tage später wurde F. unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen.[11] Sie trug seitdem eine elektronische Fußfessel.[6]

Am 19. Oktober 2021 begann der Prozess gegen F. mit dreiwöchiger Verspätung. Die Beschuldigte habe aufgrund ihrer Tätigkeit für den Kommandanten des Lagers Kenntnis über alle Vorgänge gehabt und sei „bis ins Detail“ über alle dort systematisch praktizierten Mordmethoden informiert gewesen, sagte Staatsanwältin Maxi Wantzen bei der Verlesung der Anklageschrift. Sie habe durch ihre Arbeit „die reibungslose Funktionsfähigkeit des Lagers“ gesichert.[12][13] Über ihren Anwalt bestritt F., „persönlich eine strafrechtliche Schuld auf sich geladen zu haben“.[6] Erst am Ende des Prozesses brach sie ihr Schweigen und erklärte: „Es tut mir leid, was geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.“[14][15] Das Landgericht Itzehoe sprach die inzwischen 97-jährige Irmgard F. am 20. Dezember 2022 der Beihilfe zum Mord in mehr als 10.500 Fällen schuldig. Sie wurde zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.[16][17]

Das Urteil ist nicht rechtskräftig, da F. Revision einlegte.[18] Der Bundesgerichtshof (BGH) wird das Urteil auf Verfahrensfehler prüfen.[19]

Am 1. Februar 2024 gab der BGH bekannt, dass die Revision beim 5. Strafsenat des BGH in Leipzig stattfindet. Zur Revision äußerte der BGH: „Der Generalbundesanwalt sehe grundsätzliche Fragen zur Strafbarkeit wegen Beihilfe zum Mord durch den Dienst in einem Konzentrationslager, das nicht zugleich ein reines sogenanntes Vernichtungslager gewesen sei“.[20]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Christopher F. Schuetze: German Police Arrest 96-Year-Old Nazi Suspect Who Tried to Skip Court. In: nytimes.com. 30. September 2021, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 8. Juni 2022; (englisch).

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. a b c Hans-Wilhelm Saure, Dino Schröder: Die furchtbare Frau Furchner. In: Bild.de. 22. August 2021, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 18. August 2021; abgerufen am 21. Dezember 2022.
  2. Christopher F. Schuetze: German Police Arrest 96-Year-Old Nazi Suspect Who Tried to Skip Court. In: nytimes.com. 30. September 2021, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 8. Juni 2022; abgerufen am 22. Dezember 2022 (englisch).
  3. Klaus Hillenbrand: Prozess zum Konzentrationslager Stutthof: Die Schuld der Sekretärin. In: taz.de. 26. September 2021, abgerufen am 20. Dezember 2022.
  4. Fabian Hillebrand: (S+) NS-Verbrechen: Wie Staatsanwalt Thomas Will die letzten Nazis vor Gericht stellt. In: Der Spiegel. 21. Dezember 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 25. Januar 2023]).
  5. Fabian Hillebrand: (S+) KZ-Stutthof-Prozess: Verteidigung fordert Freispruch. In: Der Spiegel. 6. Dezember 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 25. Januar 2023]).
  6. a b c Julia Jüttner: Prozess gegen KZ-Stutthof-Sekretärin Irmgard Furchner: Die Angeklagte schweigt. In: Der Spiegel. 19. Oktober 2021, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 20. Dezember 2022]).
  7. Julia Jüttner: Itzehoe: Ehemalige KZ-Sekretärin vor Prozessbeginn geflohen. In: Der Spiegel. 30. September 2021, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 20. Dezember 2022] kostenpflichtig).
  8. Prozess gegen Ex-KZ-Sekretärin: 96-Jährige nach Flucht verhaftet. In: Der Spiegel. 30. September 2021, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 20. Dezember 2022]).
  9. Frühere KZ-Sekretärin nach Flucht vor Prozess gefasst. In: Kurier. 30. September 2021, abgerufen am 20. Dezember 2022.
  10. Nazi Stutthof camp secretary flees as German trial starts. In: BBC News. 30. September 2021 (britisches Englisch, bbc.com [abgerufen am 30. September 2021]).
  11. 96-year-old German woman released after going on the run to skip Nazi war crimes trial. In: NBC News. Abgerufen am 6. Oktober 2021 (englisch).
  12. Anklage gegen Ex-Sekretärin des Konzentrationslagers Stutthof verlesen. In: Die Zeit. 19. Oktober 2021, abgerufen am 20. Dezember 2022.
  13. Stutthof-Prozess: Beihilfe zu Mord in mehr als elftausend Fällen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 20. Dezember 2022]).
  14. Klaus Hillenbrand: Angeklagte bricht ihr Schweigen. In: Die Tageszeitung. 6. Dezember 2022, abgerufen am 21. Dezember 2022.
  15. Fabian Hillebrand: (S+) KZ-Stutthof-Prozess: Verteidigung fordert Freispruch. In: Der Spiegel. 6. Dezember 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 25. Januar 2023]).
  16. Prozess gegen 95-jährige KZ-Sekretärin in Stutthof kann platzen, RedaktionsNetzwerk Deutschland, 7. Mai 2021.
  17. Frühere KZ-Sekretärin bekommt Bewährungsstrafe. In: tagesschau.de. Abgerufen am 20. Dezember 2022.
  18. Stutthof-Prozess: 97-jährige KZ-Sekretärin ficht Verurteilung an. Spiegel online, 28. Dezember 2022
  19. Nach Urteil des LG Itzehoe: Ehemalige KZ-Sekretärin legt Revision ein. lto.de, 28. Dezember 2022.
  20. Beihilfe zum Mord in Zehntausenden Fällen: BGH verhandelt über Revision von KZ-Sekretärin (98). tag24.de, 1. Februar 2024.