Zum Inhalt springen

Krieg-in-Sicht-Krise

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Die Krieg-in-Sicht-Krise von 1875 war eine brisante diplomatische Krise zwischen dem Deutschen Reich, Frankreich, Russland, Großbritannien und Österreich-Ungarn sowie anderen Mächten in Europa, die Europa nach Meinung von Zeitgenossen und manchen Historikern an den Rand eines Krieges brachte. Sie markierte eine der ersten großen internationalen Spannungen nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) und offenbarte die fragile Machtbalance in Europa nach den Einigungskriegen und der Gründung des Kaiserreiches. Die Krise wurde oft als größte diplomatische Niederlage Bismarcks interpretiert. Es war ein Schlüsselmoment seiner Außenpolitik, insofern die Krise erstmals die diplomatische Isolation des halb-hegemonialen Deutschen Reiches offenbarte. Die deutlich gewordene Gefahrensituation einer möglichen feindlichen Koalition seiner Nachbarn und eines Zweifrontenkriegs war Ausgangspunkt der späteren Bündnispolitik (Zweibund, Dreibund). In der historischen Forschung wird häufig die Auffassung vertreten, dass Bismarck die Krise bewusst auslöste, um an den Reaktionen der europäischen Länder ihre Stellung zum Deutschen Reich zu erkennen.

Frankreich beglich die Kriegsentschädigung von 5 Milliarden Francs bis September 1873 – zwei Jahre früher als vereinbart. Dies gelang durch Staatsanleihen, die vor allem von französischen Bürgern und internationalen Investoren (u. a. Londoner Banken) gezeichnet wurden. Die frühe Rückzahlung ermöglichte den Abzug der deutschen Besatzungstruppen.

Frankreich war nach dem Abzug der Besatzungstruppen 1873 schnell wieder erstarkt und begann mit der Wiederaufrüstung. Unter Präsident Patrice de Mac-Mahon wurde 1872 die Wehrpflicht eingeführt („Loi Cissey“). 1875 folgte das Loi Cadet, das die Armeestärke von 400.000 auf 600.000 Mann erhöhte und moderne Artillerie beschaffte. Dies weckte bei Otto von Bismarck und dem deutschen Generalstab Befürchtungen vor einer Revanche für die Annexion von Elsaß-Lothringen, konkret vor einem „Zweifrontenkrieg“, falls Frankreich Bündnispartner wie Russland gewänne. Bismarck sah Frankreichs Wiederaufstieg als existenzielle Bedrohung des Deutschen Reiches. Er erwog zeitweise, durch gezielte Provokationen Frankreich zu einem voreiligen Angriff zu verleiten, um es erneut zu besiegen. Diese Strategie hatte er bereits 1870 erfolgreich gegen Napoleon III. genutzt.

Zeitleiste 1875

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Anfang Januar: Deutschland verlangt von Belgien Maßnahmen gegen Propaganda katholischer Kreise gegen Deutschland.

12. März: Cadre-Gesetz zur Reform des Militärs in Frankreich.

18. März: Im dt. Generalstab wird die frz. Maßnahme für bedrohlich gehalten.

Ende März: Gespräch Bismarcks mit dem Botschafter in Paris, Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst, über feindliche Allianzen

4. April: Ludwig Aegidi schickt einen Artikel an die Kölnische Zeitung

5. April: Der Artikel Neue Allianzen erscheint in der Kölnischen Zeitung zur Gefahr einer katholischen Liga gegen Deutschland.

8. April: Die Berliner Zeitung Die Post (nah an Bismarcks Regierungskreisen) veröffentlicht den Artikel „Ist der Krieg in Sicht?“.

11. April: Der Militärattaché der Deutschen Botschaft in Paris beurteilt Frankreich als zurückhaltend, in der Antwort an den Botschafter wird das Problem in der ausländischen Presse lokalisiert.

15. April: Außenminister Louis Decazes schreibt ein dramatisches Telegramm an den Botschafter in London.

Mitte April: Missverständliche Mitteilung an Belgien zum Charakter seiner Neutralität

20. April: Besorgter Brief Oubrils nach Petersburg zu Überlegungen des deutschen Generalstabs

21. April: Botschafter Gontaut-Biron spricht mit Radowitz.

27. April: Gemäßigter Artikel in Die Post über mögliche Allianzen Frankreichs

29. April: Duc Decazes sendet das Protokoll des Gesprächs von Gontaut-Biron an frz. Botschafter und beschreibt eine aktuelle Präventivkriegsgefahr.

Ende April: Äußerungen Moltkes gegenüber Odo Russel in der englischen Botschaft zur politischen Lage

Anfang Mai: Gespräch Moltkes mit Nothomb über die Haltung Belgiens

4. Mai: Rücktrittsgesuch Bismarcks

5. bis 12. Mai: Der britische Außenminister Derby und Alexander Gortschakow treffen in Berlin ein.

6. Mai: "Pariser Brief"-Artikel in der London Times mit Kommentar

9. Mai: Artikel im belgischen Nord mit Anspielungen des russischen Außenministeriums.

10.–13. Mai: Alexander II und Gortschakow in Berlin

11. Mai: Artikel in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung

13. Mai: Telegramm Gortschakows an russische Botschafter

14. Mai: Artikel in der Provinzial-Correspondenz

31. Mai: Derbys Rede im House of Lords ergreift Partei für Frankreich und behauptet Kriegspläne Deutschlands.

1. Juni: Klarstellung im Reichsanzeiger

Ablauf der Krise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Deutschland: «Wir verabschieden uns, Madame und wenn…».
Frankreich: «Ha! Wir treffen uns wieder!»
Karikatur in Punch 1874

Bismarck lancierte nach Darstellung von Ernst Engelberg zunächst am 5. April 1875 den Artikel "Neue Allianzen" in der Kölnischen Zeitung. Der Artikel enthielt eine angebliche Zuschrift aus Wien vom 31. März, die in Wirklichkeit von dem Pressereferenten im Auswärtigen Amt, Ludwig Karl Aegidi verfasst war.

...Die Lage der Dinge in Europa scheint mir, was die Erhaltung des Weltfriedens anlangt, weniger Zuversicht zu verdienen, als man im Allgemeinen hegt, für jetzt verbürgt ihn das Einvernehmen der drei Kaiser. (...) Aber dem europäischen Frieden droht doch immer noch Eine Gefahr. Nur von einer Seite, von Frankreich. Aber die Gefahr ist vielleicht näher, als man gewöhnlich glaubt. Ich verfolge die Arbeit der Reorganisation der französischen Armee mit gespannter Aufmerksamkeit und habe, wie Sie wissen, Gelegenheit, mir darüber ein ziemlich sicheres Urtheil zu bilden. (...) Wenn Frankreich den Sieg, sei es in ungewisser Zukunft, sei es den baldmöglichen, ins Auge faßt, so denkt es sich nie alleinstehend: es schaut aus nach Allianzen. (...) Es ist der Gedanke der Solidarität der katholischen Mächte gegenüber dem protestantischen, dem preußischen Deutschland: Österreich-Ungarn und Italien... (...) An beide Mächte schlösse sich Frankreich mit seinem friegslustigen, starken Heer. Die Seele der "Liga" aber wäre, wie die Voce della Verita ausplaudert, der mit Italien ausgesöhnte Vatikan. (...)[1]

Am 8. April 1875 erschien in der Berliner Zeitung Die Post ein Artikel mit der Überschrift Ist der Krieg in Sicht? Autor war der Publizist Constantin Rößler, jedoch wird hinter diesem und zahlreichen weiteren Artikeln in den nächsten Wochen Otto von Bismarck vermutet. Eine entscheidende Passage war:

„Seit einigen Wochen hat sich der politische Horizont mit dunklem Gewölk bezogen. Zuerst kamen die starken Pferdeankäufe für französische Rechnung, welchen die deutsche Regierung ein Ausfuhrverbot entgegenzusetzen wußte. Dann wurde man aufmerksam auf die starke Vermehrung der Cadres des französischen Heeres, welche die Nationalversammlung zu Versailles, wie absichtlich versteckt zwischen die Verhandlungen zur Begründung der neuen Verfassung, beschloß.“

Der Kauf von Pferden wurde als Zeichen von Kriegsplanungen interpretiert.[2]

In diesen Artikeln drohte er Frankreich mit einem Präventivkrieg für den Fall der weiteren Aufrüstung. Der Artikel nahm in aufheizendem Ton Bezug auf das französische Kammergesetz, das Frankreichs militärische Schlagkraft erhöhte. Die Zeitung, in der er erschien, war ein regierungsnahes Blatt und wurde häufig für offiziöse Zwecke benutzt. Daher provozierte und alarmierte der Artikel die europäischen Großmächte.

Der Hintergrund war die prekäre Lage des Deutschen Reiches nach der Reichsgründung. Das Deutsche Reich war zwar eine Großmacht, jedoch nicht stark genug, seine Einigung, die es von 1864 bis 1871 in Reichseinigungskriegen mit jeweils isolierten Feinden erreicht hatte, gegen eine Koalition unter Führung Frankreichs verteidigen zu können. In Berlin drängte das Militär unter Helmuth Karl Bernhard von Moltke tatsächlich darauf, die französische Gefahr mit Hilfe eines Präventivkrieges zu beseitigen. In einem solchen Krieg konnte das erst 1871 gegründete Reich nicht mit Russlands Neutralität rechnen. Das Ziel der Pressekampagne war es, herauszufinden, wie sich die anderen europäischen Mächte im Falle eines erneuten deutsch-französischen Konfliktes verhalten würden.

Das Ergebnis war das klare Signal Großbritanniens und Russlands, Frankreich zu unterstützen. Sie waren nicht gewillt, einen weiteren Machtzuwachs des Deutschen Reiches zu akzeptieren, der eine Gefährdung ihrer eigenen Position bedeutet hätte. Decazes gelang es, die Krise als „deutsche Aggression“ zu framen. Sein Botschafter in London, Harcourt, überzeugte die britische Presse (u. a. The Times), antisemitische Klischees zu bedienen.

Bismarck schloss aus diesem Verlauf der „Krieg-in-Sicht“-Krise, dass Deutschland die Diplomatie des Gleichgewichtes betreiben und alternative Optionen wie die Politik der territorialen Kompensation oder die des diplomatisch unterstützten Präventivkrieges zurückstellen müsse. Jeder Versuch, das Reich territorial zu erweitern und die Machtstellung des Reiches auszubauen, barg unkalkulierbare Risiken für das frisch gegründete Reich. Es galt, Deutschland als saturierte Macht darzustellen und mit den Mitteln der Diplomatie Frankreich möglichst isoliert zu halten, um nicht zu einem Zweifrontenkrieg gezwungen zu werden. Diese Konzeption beschreibt er im Kissinger Diktat.

In der Folge zeigte es sich jedoch, dass das den Nachfolgern Bismarcks nicht gelang und sich letztendlich Frankreich, das Russische Kaiserreich und das Vereinigte Königreich zur Entente gegen die Mittelmächte zusammenschlossen.

Nach Sebastian Haffner zeigte die Krise zum ersten Mal einen „Vorschatten des Ersten Weltkriegs“: „jene mögliche Koalition zwischen Frankreich, England und Russland, der das Deutsche Reich ...nicht gewachsen sein konnte und der es sich aussetzte, wenn es über das 1871 Erreichte hinausging.“[3]

Forschungsstand

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Viele Historiker, wie Klaus Hildebrand und Volker Ullrich, vermuten Otto von Bismarck als treibende Kraft hinter der Veröffentlichung des Artikels Ist der Krieg in Sicht? und sehen die Krise als ein politisches Kalkül Bismarcks in Folge der gescheiterten Mission Radowitz.[4][5]

Dagegen vertritt Johannes Janorschke die These, dass der Artikel auf den eigenmächtig handelnden Pressechef des Auswärtigen Amts, Ludwig Aegidi, zurückgeführt werden kann. Dieser handelte entgegen der damaligen Strategie des Reichskanzlers.[6] Folglich lehnt Janorschke es ab, die Krieg-in-Sicht-Krise als eine von Bismarck gezogene Konsequenz der Mission Radowitz zu interpretieren.[7]

  • Andreas Hillgruber: Die „Krieg-in-Sicht-Krise“ 1875 – Wegscheide der Politik der europäischen Großmächte in der späten Bismarckzeit, in: Schulin, Ernst (Hrsg.): Studien zur europäischen Geschichte. Gedenkschrift für Martin Göhring. Wiesbaden 1968 S. 239–253.
  • Johannes Janorschke: Die „Krieg-in-Sicht“-Krise von 1875. Eine Neubetrachtung, in: Historische Mitteilungen, 20 (2007), S. 116–139.
  • Johannes Janorschke: Bismarck, Europa und die „Krieg-in-Sicht“-Krise von 1875, Paderborn [u. a.] 2010, ISBN 978-3-506-76708-0.[8]
  • James Stone: The War Scare of 1875: Bismarck and Europe in the Mid-1870s, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010, 385 S., ISBN 978-3-515-09634-8

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Kölnische Zeitung. 1803-1945 - Deutsches Zeitungsportal. Abgerufen am 11. Mai 2025.
  2. Krieg-in-Sicht-Krise Archive. In: Otto-von-Bismarck-Stiftung. 12. November 2020, abgerufen am 9. Mai 2025.
  3. Sebastian Haffner: Von Bismarck zu Hitler. Ein Rückblick. Kindler 1987, S. 64.
  4. Klaus Hildebrand: Deutsche Aussenpolitik 1871–1918. 3. Auflage. De Gruyter, München 2008.
  5. Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht 1871–1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs. 1. Auflage. Fischer, Frankfurt a. M. 2013.
  6. Johannes Janorschke: Bismarck, Europa und die "Krieg-in-Sicht"-Krise von 1875. Hrsg.: Otto-von-Bismarck-Stiftung. Schöningh, Paderborn 2010.
  7. Stephen Schröder: Johannes Janorschke: Bismarck, Europa und die "Krieg-in-Sicht"-Krise von 1875. In: Recensio. 2011, abgerufen am 4. März 2020.
  8. Angelow, Jürgen: Rezension zu: J. Janorschke: Bismarck, Europa und die "Krieg-in-Sicht"-Krise. Archiviert vom Original am 22. Februar 2025; abgerufen am 9. Mai 2025.