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Liste der Fluchttunnel in Berlin während der deutschen Teilung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Übersichtskarte der Fluchttunnel nach Detjens,[1] einige in der Liste aufgeführte Tunnel sind hier nicht markiert

Die unten stehende, von Marion Detjen zusammengestellte Liste der Fluchttunnel in Berlin während der deutschen Teilung enthält 39 Tunnelprojekte.[1] Eine weitere bekannte Liste mit 70 Tunnelprojekten stammt von Dietmar Arnold und Sven Felix Kellerhoff.[2]

Mindestens 254 Personen konnten laut Detjen auf diesem Weg aus der DDR fliehen. Während der Tunnelfluchten kam es zu mindestens vier Todesfällen und über 200 Verhaftungen. Etwa die Hälfte der Projekte konnte keine erfolgreichen Fluchten ermöglichen.

Die Tunnel wurden von beiden Richtungen unter der Grenze hindurch gegraben. Dabei gab es neun Tunnel aus Richtung Osten und 30 aus Richtung Westen. Die aus dem Osten gegrabenen Tunnel waren erfolgreicher: Nur durch einen dieser neun Tunnel gelang keine Flucht. Im Schnitt flohen neun Flüchtlinge pro aus dem Osten gegrabenen Tunnel, während die Anzahl der Flüchtlinge pro Tunnel aus dem Westen bei unter sechs lag. Bei Tunneln aus dem Osten kam es im Schnitt zu mindestens 4,3 Verhaftungen und bei West-Tunneln mindestens 4,9. Die tatsächliche Anzahl der Verhaftungen wird höher liegen, da die Akten der Staatssicherheit (Stasi) nicht vollständig sind.

Unter den Erbauern bildeten sich mehrere Gruppen heraus, die mehrfach Tunnel gruben. Dazu gehörten die Gruppen um Hasso Herschel, um Harry Seidel und Fritz Wagner, um Wolfgang Fuchs und um Detlef Girrmann. Unter den Gruppen gab es Kooperationen.

Die meisten Tunnel wurden unter der Bernauer Straße und unter der Heidelberger Straße hindurch gegraben. Der 1970/1971 von der Gruppe um Hasso Herschel unter der Bernauer Straße gegrabene und vor der Benutzung an die Stasi verratene und von dieser dann zugeschüttete Tunnel (Nr. 37 in der unten stehenden Liste), wurde vom Verein Berliner Unterwelten zu einem kleinen Teil wieder freigelegt: Dieses Stück wird von einem neu angelegten Besuchertunnel geschnitten und ist von diesem aus in beide Richtungen einsehbar.[3]

Angegeben sind das Datum des Durchbruchs oder der Aufgabe, der Startort, die Richtung Ost oder West, der Name der Initiatoren und Erbauer und die Anzahl der gelungenen Fluchten. Verhaftungen und Todesfälle sind im Feld Bemerkungen angegeben.

Nr.     Datum     Ort Startpunkt Erbauer Flüchtlinge Bemerkungen
01 Sep. 1961 Friedhof Pankow West-Berlin 2 junge West-Berliner 20 Mutmaßlich Friedhof Pankow III. Angelegt, um die Freundinnen der Erbauer aus der DDR zu holen.
02 12. Okt. 1961 nahe Bahnhof Düppel Kleinmachnow (DDR) 14 Jugendliche 05 9 Fluchtwillige wurden verhaftet.
03 7. Dez. 1961 genauer Ort unbekannt West-Berlin unbekannt 05
04 19. Dez. 1961 Friedhof Pankow West-Berlin unbekannt 04 Mutmaßlich Friedhof Pankow III. Frisch verheirateter West-Berliner Ehemann beauftragte Fluchthelfer, seiner Ost-Berliner Ehefrau die Flucht zu ermöglichen. Ein befreundetes Paar nutzte die Gelegenheit, ebenfalls zu fliehen. Kurz darauf wurde der auf dem Friedhof liegende Tunneleingang von Grenzsoldaten entdeckt und beobachtet. 2 weitere Fluchtwillige wurden dort wenige Tage später festgenommen.[4]
05 24. Jan. 1962 Von Glienicke/Nordbahn nach Berlin-Frohnau Glienicke/Nordbahn (DDR) Familie Becker 28 „Becker-Tunnel“,[5] ausgehend von Oranienburger Chaussee 13[6][7]
06 Jan. 1962 S-Bahnhof Wollankstraße West-Berlin Studenten der TU Berlin, Gebrüder Franzke 0

Der Tunnel stürzte während der Arbeiten ein, was zu einer Absenkung des Bahnsteigs über ihm führte.

07 Jan. 1962 Kiefholzstraße West-Berlin Harry Seidel 0
08 22. Feb. 1962 Heidelberger Straße 28/29 West-Berlin Gebrüder Franzke 0 Drei Kuriere und ein Flüchtling wurden festgenommen.
09 März 1962 Heidelberger Straße 75 West-Berlin Harry Seidel, Fritz Wagner, u. a. 35–57 Der Tunnel wurde von IM „Naumann“ (wohnhaft: Heidelberger Straße 75) verraten.[8] Beim Versuch einer Einsatzgruppe des MfS, die Tunnelorganisatoren festzunehmen, wurde Heinz Jercha tödlich getroffen.
10 5. Mai 1962 Von Glienicke/Nordbahn nach Berlin-Frohnau Glienicke/Nordbahn (DDR) Familie Thomas 12 „Thomas-Tunnel“[9] oder „Rentner-Tunnel“, ausgehend von Oranienburger Chaussee 22[6][7][10]
11 Mai 1962 Heidelberger Straße 28/29 West-Berlin Harry Seidel, Fritz Wagner u. a. 0
12 Juni 1962 Heidelberger Straße 75 West-Berlin Harry Seidel u. a. 18–55
13 18. Juni 1962 Baustelle des Axel-Springer-Hochhauses, Zimmerstraße 56 West-Berlin Rudolf Müller u. a. 04 Ein Kurier wurde verhaftet und der Grenzsoldat Reinhold Huhn von Rudolf Müller erschossen.
14 28. Juni 1962 Heinrich-Heine-Straße West-Berlin Siegfried Noffke u. a. 0 Der Tunnel wurde entdeckt und Siegfried Noffke beim Zugriff erschossen. Ein weiterer Fluchthelfer wurde schwer verletzt und festgenommen.
15 13. Juli 1962 Schwedter Straße Ost-Berlin Eine Familie 07
16 7. Aug. 1962 Kiefholzstraße 388 West-Berlin Harry Seidel, Fritz Wagner, später Hasso Herschel, die Girrmann-Gruppe u. a. 0 Der Tunnel wurde durch IM „Hardy“ (Siegfried Uhse)[11] verraten, und über 50 Fluchtwillige und fünf Kuriere wurden verhaftet.
17 Sep. 1962 Neukölln West-Berlin unbekannt 0
18 14. Sep. 1962 Bernauer Straße 79 West-Berlin Domenico Sesta, Luigi Spina, Hasso Herschel 29

Aufgabe wegen Wassereinbruch
Vorlage für Fernsehfilm Der Tunnel (2001)
keine Verhaftungen

20 Herbst 1962 Bernauer Straße West-Berlin Girrmann-Gruppe 0
21 Herbst 1962 Bethaniendamm 57 West-Berlin Wolfgang Fuchs u. a. 0 Die Stasi entdeckte den Tunnel nach Hinweisen durch GM „Uschi“. Vorzeitige Aufgabe.[12]
22 Okt. 1962 Heidelberger Straße West-Berlin Harry Seidel u. a., später auch die Girrmann-Gruppe 02 Der Tunnel wurde von IM „Hardy“ (Siegfried Uhse)[13] verraten. Mehrere Fluchtwillige und ein von der Stasi angeschossener und schwerverletzter Fluchthelfer[14] wurden verhaftet.
23 Nov. 1962 Kleinmachnow West-Berlin Harry Seidel, Gebrüder Franzke u. a. 0 13 Flüchtlinge wurden vor dem Durchbruch (Tunnel war vorzeitig verraten), Harry Seidel beim Durchbruch und später mehr als 25 Menschen (davon 2 Kuriere) festgenommen.[15]
24 Nov. 1962 unbekannt West-Berlin Bodo Posorski 0 Nach der Entdeckung durch die Stasi wurden mehrere Fluchtwillige und Kuriere festgenommen.
25 Feb. 1963 Bernauer Straße 79[16] West-Berlin Hasso Herschel u. a. 0 Nach der Entdeckung durch die Stasi wurden mindestens 20 Fluchtwillige und drei Kuriere festgenommen.
26 10. März 1963 Von Glienicke/Nordbahn nach Hermsdorf Glienicke/Nordbahn (DDR) Familie Aagard u. a. 13 „Aagard-Tunnel“,[17] ausgehend von Ottostraße 7. Der Tunnel wurde im Frühjahr 2011 archäologisch rekonstruiert.[6][18]
27 März 1963 Schwedter Straße / Kopenhagener Straße 36/37 West-Berlin Wolfgang Fuchs u. a. 0 Der Tunnel wurde kurz vor dem Durchbruch verraten (IM „Jürgen“); mehrere Fluchtwillige wurden verhaftet.[12]
19 2. Mai 1963 Boyenstraße West-Berlin Wolfgang Fuchs u. a. 0 Grabung nach Bedrohung durch West-Berliner Bürger in einer frühen Phase abgebrochen.[12]
28 23. Mai 1963 Kremmener Straße 15 Ost-Berlin Jugendliche 0 Etwa 30 Personen wurden von der Stasi festgenommen.
29 Juli 1963 Bernauer Straße West-Berlin Helmut Karger 0
30 Jan. 1964 Bernauer Straße 97 West-Berlin Wolfgang Fuchs u. a. 03–4 Nachdem drei Mädchen durch den Tunnel geflohen waren, entdeckten die Grenztruppen den Tunnel und machten ihn durch Handgranaten unbrauchbar.[19][12]
31 Feb. 1964 Treptow West-Berlin unbekannt 0 Nach der Entdeckung durch die Stasi wurden mehrere Fluchtwillige und ein Kurier festgenommen.
32 Sep. 1964 unbekannt West-Berlin unbekannt 0
33 3. Okt. 1964 Bernauer Straße 97 West-Berlin Wolfgang Fuchs, Reinhard Furrer u. a. 57

Der tiefste und teuerste bekannte Fluchttunnel wurde nach einem Tag der erfolgreichen Nutzung von der Stasi entdeckt. Bei einem Feuergefecht wurde der Grenzsoldat Egon Schultz versehentlich von einem Kameraden erschossen.[12][20]

34 Dez. 1964 unbekannt West-Berlin unbekannt 0
35 1. Mai 1965 Bernauer Straße West-Berlin unbekannt 0
36 1970 Bernauer Straße 78 West-Berlin unbekannt 0
37 25. Feb. 1971 Bernauer Straße West-Berlin Hasso Herschel 0 Tunnel wurde verraten und von der DDR-Grenzwache zugeschüttet,
mehrere Verhaftungen,
teilweise wiederhergestellt und seit 2019 einsehbar[21][22]
38 9. Jan. 1972 Checkpoint Charlie Ost-Berlin 3 Flüchtlinge 03
39 26. Juli 1973 Von Potsdam-Klein Glienicke nach Wannsee Potsdam/Klein Glienicke (DDR) 2 Familien 09 Ausgehend von der Waldmüllerstraße. In einem Gebiet mit eigentlich sehr hohem Grundwasserstand wurde zum Graben eine Hitzeperiode ausgenutzt.[23][24]
Commons: Fluchttunnels in Berlin – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. a b Marion Detjen: Ein Loch in der Mauer – Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961–1989. Siedler, München 2005, ISBN 3-88680-834-3, S. 442–448.
  2. Dietmar Arnold, Sven Felix Kellerhoff: Die Fluchttunnel von Berlin. Propyläen, 2008, ISBN 978-3-549-07341-4.
  3. Berliner Unterwelten: Unterirdisch in die Freiheit
  4. Gelungene Tunnelflucht unter einer Friedhofsmauer von Pankow nach Schönholz, 19. Dezember 1961. In: Chronik der Mauer. Abgerufen am 10. November 2015.
  5. Der Becker-Tunnel: „Im Januar 1962 graben die Glienicker Zwillinge Bruno und Günther Becker an der Oranienburger Chaussee einen der ersten Tunnel.“
  6. a b c Informationen über die Tunnel in Glienicke/Nordbahn: Fluchttunnel Glienicke. Abgerufen am 3. November 2015.
  7. a b Karte mit Becker- und Thomas-Tunnel. In: Fluchttunnel Glienicke. Abgerufen am 3. November 2015.
  8. Burkhart Veigel: Wege durch die Mauer. 4. Auflage. S. 248
  9. Der Thomas-Tunnel „Nur etwa hundert Meter von der ersten Fluchtstelle der Beckers entfernt, eine weitere spektakuläre Tunnelflucht der Glienicker Familie Thomas im Mai 1962.“
  10. Der „Senioren-Tunnel“: Gelungene Tunnelflucht von Glienicke/Nordbahn nach Berlin-Frohnau, 5. Mai 1962. In: Chronik der Mauer. Abgerufen am 10. November 2015.
  11. Burkhart Veigel: Wege durch die Mauer. 4. Auflage. S. 265–268
  12. a b c d e Klaus-M. v. Keussler, Peter Schulenburg: Fluchthelfer – Die Gruppe um Wolfgang Fuchs. Berlin Story Verlag, 2011, ISBN 978-3-86368-001-5, S. 72–98.
  13. Burkhart Veigel: Wege durch die Mauer. 4. Auflage. S. 278
  14. Burkhart Veigel: Wege durch die Mauer. 4. Auflage. S. 279 f.
  15. Burkhart Veigel: Wege durch die Mauer. 4. Auflage. S. 476
  16. Maria Nooke: Der verratene Tunnel: Geschichte einer verhinderten Flucht im geteilten Berlin. Edition Temmen, Bremen 2002, ISBN 3-86108-370-1; eigenes Buch über diesen Tunnel
  17. Der Aagaard-Tunnel- fluchttunnel-glienicke.de; „Die Spirale der Drangsalierung [der Bewohner im Entenschnabel] endet […] mit der erneuten Flucht von 13 Personen durch den Aagaard-Tunnel in der Ottostraße im März 1963.“
  18. Aagaard-Tunnel. In: Fluchttunnel Glienicke. Abgerufen am 3. November 2015. Siehe auch Lageplan unter Archäologie, ebenfalls abgerufen am 3. November 2015.
  19. Bodo Müller 2000: Faszination Freiheit: die spektakulärsten Fluchtgeschichten, Ch. Links Verlag, S. 211.
  20. Flucht durch den „Tunnel 57“, 3./4. Oktober 1964. In: Chronik der Mauer. Abgerufen am 10. November 2015.
  21. Berliner Zeitung:Letzter DDR-Fluchttunnel nach einem Jahr Buddeln freigelegt
  22. Berliner Unterwelten e. V.: Tour M – Unterirdisch in die Freiheit
  23. Gelungene Tunnelflucht von Klein Glienicke nach Berlin-Zehlendorf, 26. Juli 1973. In: Chronik der Mauer. Abgerufen am 10. November 2015.
  24. Uwe Rada: Berliner Mauer: Der Osten mitten im Westen. In: Die Tageszeitung. 9. November 2007, abgerufen am 10. November 2015.
  25. Rezension (Memento vom 5. Juni 2016 im Internet Archive)