Liste der Fluchttunnel in Berlin während der deutschen Teilung
Die unten stehende, von Marion Detjen zusammengestellte Liste der Fluchttunnel in Berlin während der deutschen Teilung enthält 39 Tunnelprojekte.[1] Eine weitere bekannte Liste mit 70 Tunnelprojekten stammt von Dietmar Arnold und Sven Felix Kellerhoff.[2]
Mindestens 254 Personen konnten laut Detjen auf diesem Weg aus der DDR fliehen. Während der Tunnelfluchten kam es zu mindestens vier Todesfällen und über 200 Verhaftungen. Etwa die Hälfte der Projekte konnte keine erfolgreichen Fluchten ermöglichen.
Statistik
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Tunnel wurden von beiden Richtungen unter der Grenze hindurch gegraben. Dabei gab es neun Tunnel aus Richtung Osten und 30 aus Richtung Westen. Die aus dem Osten gegrabenen Tunnel waren erfolgreicher: Nur durch einen dieser neun Tunnel gelang keine Flucht. Im Schnitt flohen neun Flüchtlinge pro aus dem Osten gegrabenen Tunnel, während die Anzahl der Flüchtlinge pro Tunnel aus dem Westen bei unter sechs lag. Bei Tunneln aus dem Osten kam es im Schnitt zu mindestens 4,3 Verhaftungen und bei West-Tunneln mindestens 4,9. Die tatsächliche Anzahl der Verhaftungen wird höher liegen, da die Akten der Staatssicherheit nicht vollständig sind.
Unter den Erbauern bildeten sich mehrere Gruppen heraus, die mehrfach Tunnel gruben. Dazu gehörten die Gruppen um Hasso Herschel, um Harry Seidel und Fritz Wagner, um Wolfgang Fuchs und um Detlef Girrmann. Unter den Gruppen gab es Kooperationen.
Das Umfeld der Bernauer Straße wurde am häufigsten für die Tunnel ausgesucht. Auch die Heidelberger Straße war häufiger Ausgangspunkt der Tunnel.
Liste
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Angegeben sind das Datum des Durchbruchs oder der Aufgabe, der Startort, die Richtung Ost oder West, der Name der Initiatoren und Erbauer und die Anzahl der gelungenen Fluchten. Verhaftungen und Todesfälle sind im Feld Bemerkungen angegeben.
Nummer | Datum | Ort | Startpunkt | Erbauer | Flüchtlinge | Bemerkungen |
---|---|---|---|---|---|---|
1 | Sep. 1961 | Friedhof Pankow | West-Berlin | 2 junge West-Berliner | 20 | Mutmaßlich Friedhof Pankow III. Angelegt, um die Freundinnen der Erbauer aus der DDR zu holen. |
2 | 12. Okt. 1961 | nahe Bahnhof Düppel | Kleinmachnow (DDR) | 14 Jugendliche | 5 | 9 Fluchtwillige wurden verhaftet. |
3 | 7. Dez. 1961 | genauer Ort unbekannt | West-Berlin | unbekannt | 5 | |
4 | 19. Dez. 1961 | Friedhof Pankow | West-Berlin | unbekannt | 4 | Mutmaßlich Friedhof Pankow III. Frisch verheirateter West-Berliner Ehemann beauftragte Fluchthelfer, seiner Ost-Berliner Ehefrau die Flucht zu ermöglichen. Ein befreundetes Paar nutzte die Gelegenheit, ebenfalls zu fliehen. Kurz darauf wurde der auf dem Friedhof liegende Tunneleingang von Grenzsoldaten entdeckt und beobachtet. 2 weitere Fluchtwillige wurden dort wenige Tage später festgenommen.[3] |
5 | 24. Jan. 1962 | Von Glienicke/Nordbahn nach Berlin-Frohnau | Glienicke/Nordbahn (DDR) | Familie Becker | 28 | „Becker-Tunnel“[4], ausgehend von Oranienburger Chaussee 13[5][6] |
6 | Jan. 1962 | S-Bahnhof Wollankstraße | West-Berlin | Studenten der TU Berlin, Gebrüder Franzke | – |
Der Tunnel stürzte während der Arbeiten ein, was zu einer Absenkung des Bahnsteigs über ihm führte. |
7 | Jan. 1962 | Kiefholzstraße | West-Berlin | Harry Seidel | – | |
8 | 22. Feb. 1962 | Heidelberger Straße 28/29 | West-Berlin | Gebrüder Franzke | – | Drei Kuriere und ein Flüchtling wurden festgenommen. |
9 | März 1962 | Heidelberger Straße 75 | West-Berlin | Harry Seidel, Fritz Wagner, u. a. | 35 bis 57 | Der Tunnel wurde von IM „Naumann“ (wohnhaft: Heidelberger Straße 75) verraten.[7] Beim Versuch einer Einsatzgruppe des MfS, die Tunnelorganisatoren festzunehmen, wurde Heinz Jercha tödlich getroffen. |
10 | 5. Mai 1962 | Von Glienicke/Nordbahn nach Berlin-Frohnau | Glienicke/Nordbahn (DDR) | Familie Thomas | 12 | „Thomas-Tunnel“[8] oder „Rentner-Tunnel“, ausgehend von Oranienburger Chaussee 22[5][6][9] |
11 | Mai 1962 | Heidelberger Straße 28/29 | West-Berlin | Harry Seidel, Fritz Wagner u. a. | – | |
12 | Juni 1962 | Heidelberger Straße 75 | West-Berlin | Harry Seidel u. a. | 18 bis 55 | |
13 | 18. Juni 1962 | Baustelle des Springer-Verlags, Zimmerstraße 56 | West-Berlin | Rudolf Müller u. a. | 4 | Ein Kurier wurde verhaftet und der Grenzsoldat Reinhold Huhn von Rudolf Müller erschossen. |
14 | 28. Juni 1962 | Heinrich-Heine-Straße | West-Berlin | Siegfried Noffke u. a. | – | Der Tunnel wurde entdeckt und Siegfried Noffke beim Zugriff erschossen. Ein weiterer Fluchthelfer wurde schwer verletzt und festgenommen. |
15 | 13. Juli 1962 | Schwedter Straße | Ost-Berlin | Eine Familie | 7 | |
16 | 7. Aug. 1962 | Kiefholzstraße 388 | West-Berlin | Harry Seidel, Fritz Wagner, später Hasso Herschel, die Girrmann-Gruppe u. a. | – | Der Tunnel wurde durch IM „Hardy“ (Siegfried Uhse)[10] verraten, und über 50 Fluchtwillige und fünf Kuriere wurden verhaftet. |
17 | Sep. 1962 | Neukölln | West-Berlin | unbekannt | – | |
18 | 14. Sep. 1962 | Bernauer Straße 79 | West-Berlin | Domenico Sesta, Luigi Spina, Hasso Herschel | 29 |
Der Tunnel war Vorlage für den 2001 veröffentlichten Fernsehfilm Der Tunnel. Es kam zu keiner Verhaftung. |
20 | Herbst 1962 | Bernauer Straße | West-Berlin | Girrmann-Gruppe | – | |
21 | Herbst 1962 | Bethaniendamm 57 | West-Berlin | Wolfgang Fuchs u. a. | – | Die Staatssicherheit entdeckte den Tunnel nach Hinweisen durch GM „Uschi“. Vorzeitige Aufgabe.[11] |
22 | Okt. 1962 | Heidelberger Straße | West-Berlin | Harry Seidel u. a., später auch die Girrmann-Gruppe | 2 | Der Tunnel wurde von IM „Hardy“ (Siegfried Uhse)[12] verraten. Mehrere Fluchtwillige und ein von der Stasi angeschossener und schwerverletzter Fluchthelfer[13] wurden verhaftet. |
23 | Nov. 1962 | Kleinmachnow | West-Berlin | Harry Seidel, Gebrüder Franzke u. a. | – | 13 Flüchtlinge wurden vor dem Durchbruch (Tunnel war vorzeitig verraten), Harry Seidel beim Durchbruch und später mehr als 25 Menschen (davon 2 Kuriere) festgenommen.[14] |
24 | Nov. 1962 | unbekannt | West-Berlin | Bodo Posorski | – | Nach der Entdeckung durch die Staatssicherheit wurden mehrere Fluchtwillige und Kuriere festgenommen. |
25 | Feb. 1963 | Bernauer Straße 79[15] | West-Berlin | Hasso Herschel u. a. | – | Nach der Entdeckung durch die Staatssicherheit wurden mindestens 20 Fluchtwillige und drei Kuriere festgenommen. |
26 | 10. März 1963 | Von Glienicke/Nordbahn nach Hermsdorf | Glienicke/Nordbahn (DDR) | Familie Aagard u. a. | 13 | „Aagard-Tunnel“[16], ausgehend von Ottostraße 7. Der Tunnel wurde im Frühjahr 2011 archäologisch rekonstruiert.[5][17] |
27 | März 1963 | Schwedter Straße/ Kopenhagener Str. 36/37 | West-Berlin | Wolfgang Fuchs u. a. | – | Der Tunnel wurde kurz vor dem Durchbruch verraten (IM „Jürgen“); mehrere Fluchtwillige wurden verhaftet.[11] |
19 | 2. Mai 1963 | Boyenstraße | West-Berlin | Wolfgang Fuchs u. a. | – | Grabung nach Bedrohung durch Westberliner Bürger in einer frühen Phase abgebrochen.[11] |
28 | 23. Mai 1963 | Kremmener Straße 15 | Ost-Berlin | Jugendliche | – | Etwa 30 Personen wurden von der Staatssicherheit festgenommen. |
29 | Juli 1963 | Bernauer Straße | West-Berlin | Helmut Karger | – | |
30 | Jan. 1964 | Bernauer Straße 97 | West-Berlin | Wolfgang Fuchs u. a. | 3 bis 4 | Nachdem drei Mädchen durch den Tunnel geflohen waren, entdeckten die Grenztruppen den Tunnel und machten ihn durch Handgranaten unbrauchbar.[18][11] |
31 | Feb. 1964 | Treptow | West-Berlin | unbekannt | – | Nach der Entdeckung durch die Staatssicherheit wurden mehrere Fluchtwillige und ein Kurier festgenommen. |
32 | Sep. 1964 | unbekannt | West-Berlin | unbekannt | – | |
33 | 3. Okt. 1964 | Bernauer Straße 97 | West-Berlin | Wolfgang Fuchs, Reinhard Furrer u. a. | 57 |
Der tiefste und teuerste bekannte Fluchttunnel wurde nach einem Tag der erfolgreichen Nutzung von der Staatssicherheit entdeckt. Bei einem Feuergefecht wurde der Grenzsoldat Egon Schultz versehentlich von einem Kameraden erschossen.[11][19] |
34 | Dez. 1964 | unbekannt | West-Berlin | unbekannt | – | |
35 | 1. Mai 1965 | Bernauer Straße | West-Berlin | unbekannt | – | |
36 | 1970 | Bernauer Straße 78 | West-Berlin | unbekannt | – | |
37 | 25. Feb. 1971 | Bernauer Straße | West-Berlin | Hasso Herschel | – | Mindestens 40 Personen wurden festgenommen. |
38 | 9. Jan. 1972 | Checkpoint Charlie | Ost-Berlin | 3 Flüchtlinge | 3 | |
39 | 26. Juli 1973 | Von Potsdam-Klein Glienicke nach Berlin-Wannsee | Potsdam-Klein Glienicke (DDR) | 2 Familien | 9 | Ausgehend von der Waldmüllerstraße. In einem Gebiet mit eigentlich sehr hohem Grundwasserstand wurde zum Graben eine Hitzeperiode ausgenutzt.[20][21] |
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Dietmar Arnold, Sven Felix Kellerhoff: Die Fluchttunnel von Berlin. 2. Auflage. List, Berlin 2011, ISBN 978-3-548-60934-8 (Erstausgabe: 2009).[22]
- Marion Detjen: Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961–1989. Siedler, München 2005, ISBN 3-88680-834-3.
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b Marion Detjen: Ein Loch in der Mauer – Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961–1989. Siedler, München 2005, ISBN 3-88680-834-3, S. 442–448.
- ↑ Dietmar Arnold, Sven Felix Kellerhoff: Die Fluchttunnel von Berlin. Propyläen, 2008, ISBN 978-3-549-07341-4.
- ↑ Gelungene Tunnelflucht unter einer Friedhofsmauer von Pankow nach Schönholz, 19. Dezember 1961. In: Chronik der Mauer. Abgerufen am 10. November 2015.
- ↑ Der Becker-Tunnel: „Im Januar 1962 graben die Glienicker Zwillinge Bruno und Günther Becker an der Oranienburger Chaussee einen der ersten Tunnel.“
- ↑ a b c Informationen über die Tunnel in Glienicke/Nordbahn: Fluchttunnel Glienicke. Abgerufen am 3. November 2015.
- ↑ a b Karte mit Becker- und Thomas-Tunnel. In: Fluchttunnel Glienicke. Abgerufen am 3. November 2015.
- ↑ Burkhart Veigel: Wege durch die Mauer. 4. Auflage. S. 248
- ↑ Der Thomas-Tunnel„Nur etwa hundert Meter von der ersten Fluchtstelle der Beckers entfernt, eine weitere spektakuläre Tunnelflucht der Glienicker Familie Thomas im Mai 1962.“
- ↑ Der „Senioren-Tunnel“: Gelungene Tunnelflucht von Glienicke/Nordbahn nach Berlin-Frohnau, 5. Mai 1962. In: Chronik der Mauer. Abgerufen am 10. November 2015.
- ↑ Burkhart Veigel: Wege durch die Mauer. 4. Auflage. S. 265–268
- ↑ a b c d e Klaus-M. v. Keussler, Peter Schulenburg: Fluchthelfer – Die Gruppe um Wolfgang Fuchs. Berlin Story Verlag, 2011, ISBN 978-3-86368-001-5, S. 72–98.
- ↑ Burkhart Veigel: Wege durch die Mauer. 4. Auflage. S. 278
- ↑ Burkhart Veigel: Wege durch die Mauer. 4. Auflage. S. 279 f.
- ↑ Burkhart Veigel: Wege durch die Mauer. 4. Auflage. S. 476
- ↑ Maria Nooke: Der verratene Tunnel: Geschichte einer verhinderten Flucht im geteilten Berlin. Edition Temmen, Bremen 2002, ISBN 3-86108-370-1; eigenes Buch über diesen Tunnel
- ↑ Der Aagaard-Tunnel- fluchttunnel-glienicke.de; „Die Spirale der Drangsalierung [der Bewohner im Entenschnabel] endet […] mit der erneuten Flucht von 13 Personen durch den Aagaard-Tunnel in der Ottostraße im März 1963.“
- ↑ Aagaard-Tunnel. In: Fluchttunnel Glienicke. Abgerufen am 3. November 2015. Siehe auch Lageplan unter Archäologie, ebenfalls abgerufen am 3. November 2015.
- ↑ Bodo Müller 2000: Faszination Freiheit: die spektakulärsten Fluchtgeschichten, Ch. Links Verlag, S. 211.
- ↑ Flucht durch den „Tunnel 57“, 3./4. Oktober 1964. In: Chronik der Mauer. Abgerufen am 10. November 2015.
- ↑ Gelungene Tunnelflucht von Klein Glienicke nach Berlin-Zehlendorf, 26. Juli 1973. In: Chronik der Mauer. Abgerufen am 10. November 2015.
- ↑ Uwe Rada: Berliner Mauer: Der Osten mitten im Westen. Die Tageszeitung, 9. November 2007, abgerufen am 10. November 2015.
- ↑ Rezension ( vom 5. Juni 2016 im Internet Archive)