Merlin oder Das wüste Land

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Merlin oder Das wüste Land ist ein Theaterstück von Tankred Dorst, das in der Zeit von 1978 bis 1980[1] nach Vorbildern aus der Artusepik entstand und am 24. Oktober 1981 unter der Regie von Jaroslav Chundela im Schauspielhaus Düsseldorf uraufgeführt wurde.[2]

Tankred Dorst schreibt: „Merlin ist eine Geschichte aus unserer Welt: das Scheitern von Utopien.“[3] Am Ende des Monumentaldramas[4] kehren die heidnischen Gottheiten in das zerfallende Reich des Königs Artus zurück.[5] „Das wüste Land“ um Camelot ist „mit Kadavern“ übersät.[6] Der nachgeborene Zuschauer sieht den Untergang[7] dieses Reiches in Themse-Nähe[8] bereits zu Anfang des Stücks kommen. War doch der verzagte König von drei übermächtigen Helfern auf den Thron lanciert worden. Erstens hatte Christus jene heidnischen Götter aus Südengland vertrieben.[9] Zweitens hatte Merlin, der Sohn des Teufels, Artus mit Zauberkraft gestützt sowie dem Herrscher Utopien eingeblasen – zum Beispiel die vom Runden Tisch. Schließlich hatte drittens der Franzose Sir Lancelot angelsächsische Ritter auf dem Schlachtfeld unschädlich gemacht.

Merlin (Illustration der Buchausgabe, 1903: Howard Pyle: König Arthur und die Ritter der Tafelrunde.)

Inhalt[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Kurz nach seiner Geburt sieht Merlin, der Zauberer, sein Ende voraus. Zunächst aber geht er Zauberer an die Arbeit. Im Auftrag seines teuflischen Vaters macht er dem jungen Artus Mut. Als Sohn des Königs Uther Pendragon und der Herzogin Igraine von Gorlois soll Artus Herrscher werden. König wird, wer das Schwert Excalibur aus einem Stein zieht. Engel und Geister helfen Artus. Als 14-jähriger König geworden, tritt Arthur immer noch wie ein dummer Schuljunge auf.

Ginevra und Artus werden als einander liebendes Königspaar vorgeführt. Mordred, der Sohn von Artus und Königin Morgause, meint, der Vater hasse ihn. Als Ginevra später Lancelot von Herzen liebt, schickt die treue Ehefrau in Kenntnis der eigenen Schwäche den Franzosen vorsichtshalber fort. Auch fernab von Camelot kann es Lancelot nicht lassen. Aus einem Briefwechsel mit Isolde erfährt Ginevra von dem Gerücht einer Liaison Lancelots mit Elaine. Als dann Lancelot nach Camelot zurückkehrt, wird der Ritter von Ginevra mit offenen Armen empfangen. Die Königin – auch ermutigt durch Isoldes Briefe – gibt alle Zurückhaltung auf und wird dem König untreu.

Elaine erscheint auf Camelot mit Sir Galahad im Steckkissen. Die junge Mutter wähnt, das gemeinsame Kind brächte ihr den jungen Vater Lancelot zurück. Fehlanzeige. Sosehr Elaine ein frauliches Register nach dem andern zieht – der Ritter liebt die Mutter seines Sohnes nicht mehr. Allerdings verliert Lancelot in der Szene, die ihm seine beiden Bettgenossinnen Ginevra und Elaine machen, den Verstand.

Der Ritter irrt fortan im Walde umher. Erneut wird er von einer Elaine – dieses Mal heißt sie Elaine von Astolat – errettet und anschließend heiß geliebt. Als Lancelot bei Troste ist, verlässt er die Schöne. Elaine verliert nun ihrerseits den Verstand und bringt sich bestialisch um. Lancelot – wieder auf Camelot – findet ohne Umwege in Ginevras Bett zurück.

Sir Galahad, inzwischen aufgewachsen, weist bei Hofe Mordreds Provokationen brüsk zurück. Mordred hatte auf den Rabenvater Lancelot angespielt. Sir Mordred sowie seine Brüder Sir Gaheris und Sir Agrawain erweisen sich als gnadenlose Schlächter. Im Lotterbett der inzwischen 70-jährigen Mutter Morgause bringen sie diese und ihren Galan Sir Lamorak in flagranti um.

Als die Ritter der Tafelrunde zur Suche nach dem Gral aufbrechen, bleibt Artus bei Ginevra auf Camelot. Ginevra glaubt, Lancelot wird den Gral niemals finden. In der Tat, Lancelot trifft unterwegs auf Galahad, wird von dem Jungen im Kampfe besiegt und erkennt den Sohn erst nach der Niederlage. Beim anschließenden gemeinsamen Gebet in einer nahen Kapelle erblickt nur Galahad den Gral. Deprimiert kehrt Lancelot nach Camelot zurück.

Lancelot schläft mit Ginevra. Mordred und dessen Brüder ertappen das Liebespaar. Lancelot gelingt die Flucht, nachdem er Sir Agrawain erschlagen hat. Artus befiehlt, Ginevra soll verbrannt werden. Als der Henker den Scheiterhaufen ansteckt, springt Lancelot herzu, tötet Sir Gaheris sowie Sir Gareth und entführt die Verurteilte auf die französische Burg Joyeuse Garde. In der Fremde später dann sehnt sich Ginevra nach Artus. Lancelot bringt die Geliebte nach Camelot zurück. Artus vergibt dem Liebespaar. Mordred kann seiner drei toten Brüder Agrawain, Gaheris und Gareth wegen nicht verzeihen. Lancelot geht unbewaffnet nach Frankreich. Wider Willen zieht Artus in den Krieg nach Frankreich und setzt zuvor Mordred auf den Thron. In Artus' Gefolge will Sir Gawain den Tod seines kleinen Bruders Gareth rächen. Lancelot spaltet Gawain nach mehrtägigem Zweikampfe den Kopf. Artus wird nach England zurückgerufen. Er muss gegen den Sohn um sein Königreich kämpfen. Mordred hatte Artus' Tod erfunden, sich zum Herrscher ausgerufen und Ginevra vergeblich zum Weibe begehrt. Artus' und Mordreds Ritterheere metzeln sich nieder. Artus erschlägt Mordred. Lancelot eilt Artus zu Hilfe, kommt jedoch zu spät. Ginevra – in Klausur – erhört ihren zurückgekehrten Franzosen nicht mehr und stirbt.

Artus, tödlich verwundet, übergibt Excalibur an Sir Kay. Letzterer soll das Schwert ins Meer werfen. Nach mehreren Anläufen tut Sir Kay es widerstrebend und lässt sich von seinem sterbenden Herrn nicht wegschicken. Drei Königinnen – Morgane le Fay, Morgause und Ginevra – geleiten Artus in einer Barke nach Avalon.

Merlin sitzt als Gefangener der Fee Viviane in oben genannter Weißdornhecke fest.

Form[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Tankred Dorst hat sein Schauspiel in den Prolog, Merlins Geburt, Die Tafelrunde, Der Gral und Untergang gegliedert.

Eigentlich sei das Stück mit seinen etwa fünfzehn Stunden Spielzeit[10] – ein „Manifest für das Drama“[11] der 1980er Jahre – unaufführbar. Jaroslav Chundela und Dieter Dorn, die Regisseure der ersten beiden Inszenierungen 1981 in Düsseldorf und 1982 in München, brachten immerhin Ausschnitte zu je insgesamt sieben Stunden auf die Bühne.[12] Das Stück ist wohlgeformt-vollständig in dem Sinne: Die Erwartungen des artusepisch gebildeten Zuschauers gehen sämtlich in Erfüllung. Zum Beispiel der Stuhl an der runden Tafel, auf dem ein nicht Erwählter verbrennt, sobald er sich daraufsetzt, kommt vor (Sir Galahad nimmt ohne Schaden darauf Platz). Oder im Turm mitten im Sumpf spricht Artus staatsmännisch mit seiner Halbschwester Morgane le Fay.

Oben nicht aufgeführte Geschichten gibt es etliche in dem 96 Szenen umfassenden Stück. Die breit angelegte Grals- und Gottsuche Parzivals hat Tankred Dorst noch einmal sechs Jahre später im gleichnamigen Theaterstück wiederholt.

Die erzählte Zeit erstreckt sich über ein paar Jahrzehnte. Zum Beispiel wird Sir Galahad gezeugt, geboren und steht dann als fast Erwachsener auf der Bühne. Oder König Artus tritt anfangs als 14-Jähriger auf und bringt zum Schluss den Sohn Sir Mordred um.

An manchen Stellen wird der Zuschauer oder auch des Leser des Textbuches verunsichert mit Passagen, die aus fremder Feder stamme.. Handfeste Irritationen sind nichts Ungewöhnliches. Morgause tritt in der Ermordungsszene als Schwarze auf.[13]

In dem Stück geht es hoch her. Zum Beispiel gibt der Clown – das ist der Bruder der Riesin Hanne (das ist die Mutter Merlins) – einem von der Theaterleitung bestellten „Zuschauer eine gewaltige Ohrfeige“[14]. Hanne gebiert Merlin auf der Bühne gleich als fertigen Erwachsenen mit Bart und Brille. Spaß wird anfangs großgeschrieben. So gibt der Teufel der Mutter seines Sohnes einen Tritt in den Hintern. Der Clown ermahnt den Teufel: Das tue man erst nach der Hochzeit.

Zur Erheiterung des Zuschauers werden die Zeitalter vermischt. Das Stück spielt etwa zu Anfang des Frühmittelalters. König Uther hat kurz vor der Zeugung des Artus am Nachtlager der Mutter in spe durch Merlins Zauberkraft „die Stimme eines Filmhelden“ bekommen.

Selbstzeugnisse[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Tankred Dorst gliedert seinen Vortrag „Sich im Irdischen zu üben. Frankfurter Poetikvorlesungen“ (siehe unter Sekundärliteratur, Eintrag anno 2008) in vier Abschnitte. Im zweiten – Merlins Zauber – stellt er klar, das Stück handele ebenso von einer Utopie wie sein Toller und führt zum Motiv aus: Merlin, des Teufels Sohn, wolle „die Menschen zum Bösen führen“ und somit auf neue Art erlösen. Das Stück zirkuliere um vier Kreise. Über das ganze Stück hinweg kämpfe Merlin erstens vergeblich gegen seinen Vater. Der Runde Tisch, also die Tafelrunde, symbolisiere zweitens das oben genannte Utopische, die verzweifelte Suche der am Tisch sitzenden Ritter nach „einer friedlichen Gesellschaft“. Schwarzweißmalerei: Drittens habe Tankred Dorst das Gute dem tapferen, phantasielosen Artus und das Böse dem weit in die Zukunft blickenden Merlin beigegeben. Und viertens kreisten drei Vater-Sohn-Geschichten (Teufel/Merlin, Artus/Mordred, Lancelot/Galahad) um den Generationenkonflikt.
  • Wolfgang Hirsch interviewt Tankred Dorst am 29. Januar 2012 zur Weimarer Inszenierung.[15]

Weitere Inszenierungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Hörspiel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Von Becker[28] stellt das Schauspiel mit seinem Gipfel- und Endpunkt, der Schlacht von Camlann (im Stück ist von der „Schlacht bei Salisbury[29]“ die Rede) zwischen Artus und Mordred, als Verweis beziehungsweise sozusagen als Analogon auf gescheiterte utopische Staatsgründungen des 20. Jahrhunderts hin. Der Bearbeiter in Barners Literaturgeschichte[30] zitiert – vermutlich in Anlehnung an Rüdiger Krohn und Peter Bekes aus der kleinen Weltuntergangs-Dokumentation, die Tankred Dorst nahtlos auf die Szene vom Tode der Königin Ginevra folgen lässt[31] und meint die im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts drohende wahnwitzige atomare „Selbstvernichtung“ der Menschheit.
  • Im Artikelkopf wurden Ursachen für den Untergang des Artusreiches aufgezählt. Frenzel[32] führt zwei weitere Ursachen an. Gemeint sind der nicht lösbare Generationenkonflikt Artus/Mordred und eine utopische Absicht der Tafelrunde: die „Besserung der Menschheit“. Frenzel erwähnt die letztere Ursache im Zusammenhang mit Tankred Dorsts Nebenfigur Mark Twain, dem Verfasser von Ein Yankee am Hofe des König Artus.[33] Bekes spricht, als es um die postapokalyptische Warnutopie geht, als Untergangs-Ursache des Reiches die Individualität an. Die Suche der Ritter nach dem Gral arte zu einem Umherirren in dieser Welt aus.[34]
  • Birkhan soll das Werk „Konglomerat“ genannt haben.
  • Günther Erken[35] nennt Arbeiten von Walter Haug (1983), Rüdiger Krohn (1984 und Göttingen 1987), Jürgen Kühnel (Köln 1987), Gerhard P. Knapp (Amsterdam 1988), Friedhelm Rickert (Göppingen 1992), Markus Huber (Pécs 1993) und Heinz Juergen Schueler (Frankfurt am Main 1996).

Interpretation[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Den Titel gebenden Zauberer Merlin empfindet der Zuschauer als anfangs auftrumpfende, doch dann zunehmend verblassende Nebenfigur. Der Kampf gegen seinen väterlichen Teufel wirkt aufgesetzt. Merlin schreitet zumeist ein, wenn Artus dringend Rat, Zauberkraft beziehungsweise einfach einen Dialogpartner benötigt oder er narrt die Gralsucher mit absurden Zaubereien. Allerdings hilft Merlin dem Zuschauer mit Blicken in die Zukunft; genauer mit einem Blick auf das Ende des Stücks. Bereits in der 43. Szene (in der Mitte des Stücks) posaunt er den Namen des Zerstörers des Artus-Reichs aus: Mordred.

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Textausgaben

  • Tankred Dorst: Merlin oder Das wüste Land. Mitarbeit Ursula Ehler. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981. ISBN 3-518-02647-X
  • Tankred Dorst. Merlin oder Das wüste Land. Mitarbeit Ursula Ehler. Mit einem Nachwort von Peter von Becker. Werkausgabe 2. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1985.

Sekundärliteratur

  • Peter Bekes: Vom Scheitern der Utopien: Merlin. S. 59–66 in ders.: Tankred Dorst. Bilder und Dokumente. edition spangenberg, München 1991, ISBN 3-89409-059-6.
  • Hans-Joachim Ruckhäberle: Die Erde ist ein wüstes Land. S. 89–90 in Peter Bekes: Tankred Dorst. Bilder und Dokumente. edition spangenberg, München 1991, ISBN 3-89409-059-6.
  • Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): text + kritik Heft 145: Tankred Dorst. Richard Boorberg Verlag, München im Januar 2000, ISBN 3-88377-626-2.
  • Elisabeth Frenzel, Sybille Grammetbauer: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte 10., überarbeitete und erweiterte Auflage. Kröner, Stuttgart 2005. ( Kröners Taschenausgabe. 300.) ISBN 3-520-30010-9
  • Tankred Dorst: Sich im Irdischen zu üben. Frankfurter Poetikvorlesungen. Merlins Zauber. S. 368–381 in: Prosperos Insel. Szenen, Bilder und Dialoge um eine Geschichte zu erzählen. S. 289–341 in Tankred Dorst. Prosperos Insel und andere Stücke. Mitarbeit Ursula Ehler. Werkausgabe 8. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008. ISBN 978-3-518-42039-3

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. von Becker im Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 305, 6. Z.v.u.
  2. Merlin oder Das Wüste Land, d:kult online, abgerufen am 29. Januar 2023
  3. Tankred Dorst, zitiert bei Bekes, S. 59, 4. Z.v.u.
  4. Frenzel, S. 83, 17. Z.v.o.
  5. Verwendete Ausgabe, S. 284, 6. Z.v.u.
  6. Verwendete Ausgabe, S. 205, 11. Z.v.o.
  7. Verwendete Ausgabe, S. 219
  8. Verwendete Ausgabe, S. 150, 3. Z.v.o
  9. Verwendete Ausgabe, S. 17.
  10. Barner, S. 865, 6. Z.v.o.
  11. Barner, S. 865, 9. Z.v.o.
  12. Bekes, S. 61 unten
  13. Verwendete Ausgabe, S. 158, 19. Z.v.o.
  14. Verwendete Ausgabe, S. 22, 7. Z.v.u.
  15. Weimarer Inszenierung. auf tlz.de
  16. C.M. Meier: Zurück zur Archaik?
  17. Premiere Thalia Theater
  18. Michael Laages: Die Clowns sind vor allem laut
  19. 4. September 2011, online focus: Thalia Theater beginnt neue Spielzeit mit „Merlin“
  20. 4. September 2011, Hannoversche Allgemeine: Thalia Theater startet mit „Merlin“ in die Spielzeit
  21. Besprechung bei livekritik.de
  22. Michael Laages: Wer hat die Kokosnuss geklaut?
  23. Bettina Schulte am 29. November 2011: Dorst in Zürich: Ritterspiele im Urwald
  24. artCore zur Zürcher Inszenierung
  25. Nationaltheater Weimar bei YouTube
  26. Merlin auf schauspielhaus-graz.com
  27. Hörspiel in der HörDat
  28. von Becker im Nachwort der verwendeten Ausgabe, S. 309, 14. Z.v.o.
  29. Verwendete Ausgabe, S. 280, 4. Z.v.o.
  30. Barner, S. 864 unten
  31. Verwendete Ausgabe, S. 283
  32. Frenzel, S. 83, 22. Z.v.o.
  33. Frenzel, S. 82 oben
  34. Bekes, S. 64 oben
  35. Erken bei Arnold, S. 95 rechte Spalte bis S. 96 linke Spalte