Nerven (Film)

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Film
Titel Nerven
Produktionsland Deutschland
Originalsprache Deutsch
Erscheinungsjahr 1919
Länge 2637 Meter, nach Zensur 2054 Meter, 110 Minuten
Stab
Regie Robert Reinert
Drehbuch Robert Reinert
Produktion Robert Reinert Monumental-Film-Werk GmbH, Berlin
Musik neue Kinomusik von Joachim Bärenz, Essen
Kamera Helmar Lerski
Besetzung

Nerven ist der Titel eines Stummfilmdramas, das Robert Reinert im Jahre 1919 nach einem eigenen Drehbuch realisierte und auch in seiner eigenen Firma Robert Reinert Monumental-Film-Werk GmbH, Berlin produzierte. Die Studioaufnahmen fanden im Atelier der Transatlantic-Film-Comp., München-Nymphenburg, die Außenaufnahmen im Schloß Nymphenburg und in der Vorstadt Au in München, im Allgäu und am Königssee statt. An der Kamera stand Helmar Lerski. Unter den Darstellern waren Erna Morena und Eduard von Winterstein.

Handlung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges: „Der Zündstoff, den Krieg und Not im Menschen erzeugt“ haben, wird als „nervöse Epidemie“ dargestellt, „die die Menschen befallen hat und zu allerhand Taten und Schuld treibt“.[1]

Geschildert werden die Schicksale verschiedener Personen aus unterschiedlichen sozialen Schichten: der Fabrikant Roloff, der seinen Glauben an den technischen Fortschritt verloren hat, der Lehrer Johannes, der in Volksversammlungen soziale Reformen fordert, und Marja, die – sich zur Revolutionärin wandelnd – zum bewaffneten Kampf gegen die Herrschenden aufruft.

„Die junge Marja steht kurz vor ihrer Hochzeit mit Richard, liebt aber eigentlich seit ihrer Kindheit den Lehrer Johannes, der sich zu einer Art Sprachrohr des gebrandmarkten Volkes aufgeschwungen hat und soziale Reformen fordert; als er ihre Liebe ablehnt, die er zwar erwidert, aber nicht mit seinem biblischen Kodex vereinbaren kann, nimmt sie Rache, indem sie ihn der Vergewaltigung bezichtigt. Ihr Bruder, der Fabrikbesitzer Roloff, der seinen Glauben an den technischen Fortschritt längst aufgegeben hat, schwört vor Gericht, er habe den Übergriff beobachtet: Seine Psyche ist längst von Krieg und Zerstörung gezeichnet, bald wird er ganz dem Wahn verfallen. Später nimmt Marja den Vorwurf zurück und wird zur Anführerin einer revolutionären Gruppe: Sie möchte an Johannes' Ideologie anknüpfen, ersetzt seine pazifistischen Ansätze aber durch Waffengewalt. Am Ende verfällt selbst Roloffs Frau, bis dahin die einzige Person, die man als unberührt wahrnahm, dem Irrsinn: Sie zündet Johannes' Haus an und tötet damit seine blinde Schwester, anschließend geht sie ins Kloster, um Buße zu tun.“ [2]

Rezeption[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Film wurde in seiner Originalfassung mit 6 Akten (= 2637 Meter) im Dezember 1919 von der Zensur in Bayern mit Jugendverbot belegt. Die von der Filmprüfstelle Berlin unter der Zensur-Nr. B.738[3] genehmigte Verleihfassung vom 15. November 1920 hatte nur noch 2054 Meter.

Seine Uraufführung fand im Dezember 1919 in den Kammerlichtspielen[4] in München statt.

In Berlin wurde er am 22. Januar 1920 im repräsentativen Premierentheater Marmorhaus am Kurfürstendamm uraufgeführt.[5]

Er wurde durch die Firma Süddeutsches Filmhaus verliehen, die zum bayerischen Emelka-Konzern gehörte.[6]

Nerven wurde besprochen von Heinz Schmid-Dimsch in Der Film 52/1919, Berlin 28. Dezember 1919 und von Hans Wollenberg in der Lichtbild-Bühne 4/1920, Berlin 24. Januar 1920[7]; Viktor Klemperer, der den Film in den Münchener Kammerlichtspielen in der Kaufingerstraße sah, hat in seinem Tagebuch am 6. Januar 1920 seine Eindrücke notiert.[8] Er fand, man habe den Film „mit einer besonderen (schauerlichen) Musik versehen“.

Kritiken[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Nerven versucht etwas gar holprig, Melodrama und Gesellschaftsanalyse unter einen Hut zu bringen – doch der Inhalt ist hier, so analysierfreudig er auch wirken mag, nur der Aufhänger. Deutlich schwerer wiegt die Präsentation, und die ist enorm faszinierend. Der gebürtige Österreicher Robert Reinert (1872–1928) schuf einen der ersten expressionistischen deutschen Stummfilme, was ganz besonders die virtuose Eingangssequenz mit ihrer mutigen Montage klarmacht. Danach nimmt der Plot etwas konventionellere Züge an, doch stets sind die Bilder von eindrücklicher Natur.“[9]

„Der Film soll gleich mehrere Münchner in den Wahnsinn getrieben haben, bis der Polizeipräsident höchstpersönlich eingriff und Reinerts düster delirierendes Drama um den Verfall einer Industriellenfamilie der Zensurbehörde übergeben ließ. Seinen künstlerischen Höhepunkt erreichte der radikale, den Ideen Oswald Spenglers nahestehende Reinert ausgerechnet 1918/19, als Deutschland immer tiefer im Chaos der letzten Kriegsmonate und der aufkommenden Revolution versank“.[10]

„Die Eingangssequenz des Films ist ein frühes Meisterwerk der Montagekunst und wirkt ungemein modern: Sie entwirft ein Panorama des Verfalls und des Wahnsinns, einschließlich der für das Entstehungsjahr 1919 extrem gewagten Bilder von Gewalt und Nacktheit, immer wieder durchbrochen von dem Wort ,Nerven‘, mal zwischentitelartig eingeblendet, mal das Geschehen unterminierend; Robert Reinerts Eröffnung mit ihrer dramaturgischen Einbeziehung von Schrift und ihrer enormen Stilisierung nimmt im Grunde schon Sergej M. Eisenstein vorweg...“.[11]

Wiederveröffentlichung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Stefan Drößler vom Filmmuseum München hat Robert Reinerts von der Zensur verstümmelten Filmklassiker, der Elemente des expressionistischen Stummfilms der 20er Jahre vorwegnimmt und ein einzigartiges Zeitdokument darstellt, 2009 aufwendig rekonstruiert.[12] Zur Verfügung stand ihm dazu Material aus folgenden Quellen:

  1. Gosfilmfond Moskau: mit 1.646 Metern längste erhaltene Kopie, eine um Revolutionsszenen und Straßenschlachten gekürzte Fassung der Berliner Version, die selbst bereits Umschnitte, Kürzungen und den Verlust der „lebenden Zwischentitel“ in Kauf nehmen musste.
  2. Library of Congress: Filmfragment NERVES, 777 Meter lang, viragiert und getont, dem Münchener Original am nächsten.
  3. Bundesfilmarchiv in Berlin: 65 Meter, ebenfalls viragiert und getont.[13]

Der Essener Pianist Joachim Bärenz hat dazu eine neue Musikbegleitung erstellt.[14] Der Film ist als DVD zusammen mit einem Booklet mit Essays zum Film von Jan-Christopher Horak, Stefan Drößler und David Bordwell in der Edition Filmmuseum erschienen.[15]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • David Cairns, Artikel „The Forgotten: Krank!“ 9. August 2012 bei mubi.com[16]
  • Stefan Drößler: „Nerven“ – Rekonstruktion eines vergessenen Filmklassikers. In: Edition filmmuseum 41, München 2009, on line bei academia.edu[17]
  • Ulrich Kurowski, Silvia Wolf: Das Münchner Film und Kinobuch. Edition Achteinhalb, Lothar Just, Ebersberg, 1988. ISBN 9783923979110, S. 33–34[18]
  • Petra Putz: Waterloo in Geiselgasteig. Die Geschichte des Münchner Filmkonzerns Emelka (1919–1933) im Antagonismus zwischen Bayern und dem Reich. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag 1996.
  • Sarah Sander, Artikel „Draußen vor der Tür“ bei querschritt: kinotexte[19]
  • Statist über „Nerven“ in Ricci's Journal du Cinéma, 25. November 2010[20]
  • Jörg Smotlacha, Heike Werner: Artikel „Tiefe Verunsicherung“, 28. November 2008 bei langeleine.de[21]
  • Doundou Tchil: ausführliche Inhaltsbeschreibung von „Nerven“ bei classical-iconoclast[22]
  • Sascha Westphal, Artikel „Der Film, der Münchner in den Wahnsinn trieb“ in Die Welt vom 29. Dezember 2009[23]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. so ‘Scapinelli’ in: Deutsche Lichtspiel-Zeitung, München, Nr. 28, 19. Juli 1919, vgl. filmportal.de und beforecaligari.org
  2. so 'Statist' (Memento des Originals vom 2. Dezember 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/forum.moviemaze.de in Ricci's Journal du cinéma
  3. Zensurkarte (Memento des Originals vom 4. Dezember 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/beforecaligari.org bei beforecaligari.org
  4. vgl. Kammerlichtspiele In: Kinowiki.
  5. Abb. des Kinoplakates von Josef Fenneker zur Aufführung im Marmorhaus bei [1], Wiedergabe des Programms bei: Robert Reinert, “Program for Nerven,” From Kinema to Caligari: Sources, Zugriff am 24. November 2013, Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 6. Dezember 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/beforecaligari.org
  6. EMELKA = Münchner Lichtspielkunst A.G. (M.L.K.), vereinigte wie die ‘preußische’ Ufa unter einem Dach Produktion, Verleih und Kinopark, eine „Kulturfilm“-Abteilung, Filmkopieranstalten und Ateliers (Geiselgasteig), vgl. Lexikon der Filmbegriffe[2] sowie Putz 1996
  7. Texte wiedergegeben bei edition-filmmuseum.com
  8. vgl. beforecaligari.org (Memento des Originals vom 5. Dezember 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/beforecaligari.org, dort weitere zeitgenössische Rezensionen.
  9. Nerven bei molodezhnaja, Marco Spiess (Hrsg.), abgerufen am 19. Juni 2021
  10. so Sascha Westphal 29. Dezember 2009
  11. so 'Statist' (Memento des Originals vom 2. Dezember 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/forum.moviemaze.de in Ricci's Journal du Cinéma, Seite 6
  12. "... aus den von Moskau über das Bundes-Filmarchiv Berlin bis in die Library of Congress verstreuten Filmfragmenten von unterschiedlichster Schnittfolge und Qualität ..." teilt Sarah Sander bei [3] mit.
  13. Angaben aus dem Informationsblatt des Münchener Filmmuseums zur Berlinale 2008Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 3. Dezember 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.deutsche-kinemathek.de (PDF; 91 kB)
  14. vgl. General-Anzeiger Bonn 21. August 2008: Joachim Bärenz war maßgeblich an der Renaissance des Stummfilms seit den 70er Jahren beteiligt. Er gilt als brillanter Improvisator, bearbeitet aber auch Originalkompositionen und setzt zeitgenössische Motivkompilationen ein. Seit 1984 ist Bärenz Pianist der Tanzabteilung der Folkwang Hochschule. Für seine Verdienste um die Stummfilmvertonung erhielt er 2003 den Preis der Filmkritik.[4], und stummfilm.infoArchivierte Kopie (Memento des Originals vom 5. Dezember 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.stummfilm.info
  15. vgl. edition-filmmuseum[5]
  16. »The Forgotten: Krank!« 9. August 2012 bei mubi.com
  17. In: Edition filmmuseum 41, München 2009, on line bei academia.edu
  18. Edition Achteinhalb, Lothar Just, Ebersberg, 1988. ISBN 9783923979110, S. 33–34
  19. kinotexte auf querschritt.wordpress.com
  20. »Nerven« in ‘Ricci's Journal du Cinéma’ 25. November 2010 auf forum.moviemaze.de (Memento des Originals vom 2. Dezember 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/forum.moviemaze.de
  21. 28. November 2008 bei langeleine.de
  22. Inhaltsbeschreibung von "Nerven" bei classical-iconoclast (englisch)
  23. “Der Film, der Münchner in den Wahnsinn trieb” in »Die Welt« vom 29. Dezember 2009 auf welt.de