Nicht übertragbare Einzelstimmgebung

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Die nicht übertragbare Einzelstimmgebung (englisch single non-transferable vote, abgekürzt SNTV, ‚Einfache nicht-übertragbare Stimme‘) ist ein Wahlsystem, das in Wahlkreisen zur Anwendung kommt, in denen mehr als ein Vorschlag ausgewählt werden soll (Mehrpersonen- oder Mehrmandatswahlkreise).

Wahlmethode[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Jeder Wähler hat nur eine Stimme, die er Kandidaten geben kann, die für mehrere Posten zur Wahl stehen. In einem Wahlkreis mit n zu vergebenen Posten werden dann die n Kandidaten mit den meisten Stimmen gewählt.

Beispiel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Bei der Wahl 2013 zum Parlament der japanischen Präfektur Tokio bewarben sich im Fünfmandatswahlkreis Edogawa sieben Kandidaten aus fünf Parteien. Das Wahlergebnis war wie folgt

Kandidat Partei Stimmen Anteil Ergebnis
Kazuhiko Ueno Gerechtigkeitspartei (Kōmei) 45.490 20,9 % Gewählt
Satoshi Udagawa Liberaldemokratische Partei (LDP) 44.956 20,7 % Gewählt
Kazuaki Tajima Liberaldemokratische Partei (LDP) 36.249 16,7 % Gewählt
Reiko Ueda Jedermannpartei (Minna) 31.139 14,3 % Gewählt
Yuriko Kōno Kommunistische Partei Japans (KPJ) 25.783 11,8 % Gewählt
Ikuko Tanoue Demokratische Partei (DP) 23.947 11,0 %
Hisashi Sasamoto Demokratische Partei (DP) 10.053 4,6 %
Summe 217.617 100,0 %

Bei diesem Ergebnis erhielt die Demokratische Partei kein Mandat, obwohl sie in der Addition der Stimmen für ihre Kandidaten an dritter Stelle lag:

Partei Stimmen Anteil Sitze
LDP 81.205 37,3 % 2
Kōmei 45.490 20,9 % 1
DP 34.000 15,6 % 0
Minna 31.139 14,3 % 1
KPJ 25.783 11,8 % 1
Summe 217.617 100,0 % 5

Taktische Wahl und Nominierung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Anreiz für taktisches Wählen ist bei der einfachen nicht-übertragbaren Stimme sehr hoch. Da der Wähler nur eine Stimme hat, sollte der Wähler die Stimme einem Kandidaten geben, der einerseits eine Chance hat zu gewinnen, andererseits aber nicht ohnehin schon einen großen Stimmenvorsprung hat. Auch die Parteien müssen vor der Wahl genau abschätzen, wie groß ihr Wählerpotential ist, und dementsprechend ihre Kandidaten taktisch nominieren.

In obigem Beispiel hätte die LDP unter Umständen sogar drei Kandidaten durchbringen können, wenn die Wähler der Partei ihre Stimmen optimal auf diese Kandidaten verteilt hätten: Bei gleichem Gesamtergebnis für die Partei (81,205 Stimmen) hätten drei LDP-Kandidaten mit 27,000, 27,005 und 27,200 den KPJ-Kandidaten auf den sechsten Platz verdrängt.

Kandidat Partei Stimmen Anteil Ergebnis
Kazuhiko Ueno Kōmei 45.490 20,9 % Gewählt
Reiko Ueda Minna 31.139 14,3 % Gewählt
Hypothetischer LDP-Kandidat 1 LDP 27.200 12,5 % Gewählt
Hypothetischer LDP-Kandidat 2 LDP 27.005 12,4 % Gewählt
Hypothetischer LDP-Kandidat 3 LDP 27.000 12,4 % Gewählt
Yuriko Kōno KPJ 25.783 11,8 %
Ikuko Tanoue DP 23.947 11,0 %
Hisashi Sasamoto DP 10.053 4,6 %
Summe 217.617 100,0 %

Unter der (je nach der Personalisierung des politischen Systems und den örtlichen Verhältnissen nicht oder nur eingeschränkt zutreffenden) Annahme, dass die Wähler ihre Wahlentscheidung nur aufgrund der Parteizugehörigkeit und nicht nach anderen, persönlichen Eigenschaften der Kandidaten treffen, hätte die Demokratische Partei in obigem Beispiel einen Sitz gewinnen können, wenn sie nur einen Kandidaten aufgestellt hätte und dieser alle Parteistimmen auf sich vereinigt hätte.

Kandidat Partei Stimmen Anteil Ergebnis
Kazuhiko Ueno Kōmei 45.490 20,9 % Gewählt
Satoshi Udagawa LDP 44.956 20,7 % Gewählt
Kazuaki Tajima LDP 36.249 16,7 % Gewählt
Hypothetischer DP-Kandidat DP 34.000 15,6 % Gewählt
Reiko Ueda Minna 31.139 14,3 % Gewählt
Yuriko Kōno KPJ 25.783 11,8 %
Summe 217.617 100,0 %

Diese Art des taktisches Wahlverhaltens ließe sich durch eine Umstellung des Wahlverfahrens auf die Übertragbare Einzelstimmgebung (Single Transferable Vote) vermeiden, da dort nicht benötigte Stimmen sowie die Stimmen der schwächsten Kandidaten gemäß den Präferenzen der Wähler übertragen werden.

Den Fall, dass – wie die Demokratische Partei im Beispiel – eine Partei zu viele Kandidaten nominiert, d. h., sie nach ihrem Stimmenanteil mit weniger Kandidaten mehr Mandate hätte gewinnen können, nennt man im Englischen overnomination. Als undernomination bezeichnet man es, wenn eine Partei zu wenige Kandidaten nominiert hat und Stimmen „verschwendet“, d. h., sie durch zusätzliche Nominierungen mehr Mandate hätte gewinnen können. Den Prozess der bewussten taktischen Verteilung von Wählerstimmen auf verschiedene Kandidaten bezeichnet man als [vote] allocation.

Anwendung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Puerto Rico[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Puerto Rico, wo SNTV als representación por acumulación bekannt ist, wird das Verfahren bei der Wahl von Senat und Repräsentantenhaus angewendet.

Taiwan[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Taiwan wurde SNTV bis 2004 bei der Wahl des Legislativ-Yuans angewendet. Dort entwickelten einige Parteien ein einfaches und effektives System der vote allocation, nach dem die Wähler einer Partei sich anhand ihres Geburtsdatums zwischen verschiedenen Kandidaten dieser Partei entscheiden sollten, um so eine gleichmäßige Stimmenverteilung zu erreichen.

Japan[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Japan wird ein Großteil der Oberhausmandate über SNTV vergeben. Bis zur Wahlrechtsreform von 1994 wurde auch das Unterhaus nach dieser Methode gewählt, wobei in jedem Wahlkreis durchschnittlich etwa vier Abgeordnete gewählt wurden. Oft kandidierten Bewerber derselben Partei gegeneinander, insbesondere aus den konkurrierenden Faktionen der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP). Sitze in Präfektur- und Kommunalparlamenten werden ebenfalls durch SNTV vergeben. In Japan werden gleichzeitig Mehr- und Einmandatswahlkreise verwendet; bei n=1 wird SNTV identisch zur einfachen Mehrheitswahl.

Polen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Polen wurde SNTV bei den Wahlen zum Senat in den Jahren 1989–2011 angewandt, zunächst mit 47 Zweimandatswahlkreisen (ein Wahlkreis pro Woiwodschaft) und zwei Dreimandatswahlkreisen (Woiwodschaft Warschau und Woiwodschaft Kattowitz),[1] dann ab 2001 nach dem neuen Zuschnitt von Woiwodschaften mit Zwei-, Drei- und Viermandatswahlkreisen.[2] Diese Regelung wurde zugunsten der Mehrheitswahl aufgegeben.

Jordanien[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

1993 setzte König Hussein die Einführung von SNTV durch. Zuvor hatten die Wähler in jedem Wahlkreis so viele Stimmen, wie Sitze zu vergeben waren, wovon die dem König feindlich gesinnten Muslimbrüder profitierten.[3]

Afghanistan[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Auch die Parlamentswahlen in Afghanistan seit 2005 finden nach dem SNTV-Wahlsystem statt.

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Ustawa z dnia 7 kwietnia 1989 r. Ordynacja wyborcza do Senatu Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej. In: Dziennik Ustaw auf der Website des ISAP. Kanzlei des Sejm, 1989, abgerufen am 7. Juni 2015 (polnisch, PDF-Datei s. Tekst ogłoszony).
    Ustawa z dnia 10 maja 1991 r. Ordynacja wyborcza do Senatu Rzeczypospolitej Polskiej. In: Dziennik Ustaw auf der Website des ISAP. Kanzlei des Sejm, 1991, abgerufen am 7. Juni 2015 (polnisch, PDF-Datei s. Tekst ogłoszony).
  2. Ustawa z dnia 12 kwietnia 2001 r. Ordynacja wyborcza do Sejmu Rzeczypospolitej Polskiej i do Senatu Rzeczypospolitej Polskiej. In: Dziennik Ustaw auf der Website des ISAP. Kanzlei des Sejm, 2001, abgerufen am 7. Juni 2015 (polnisch, PDF-Datei s. Tekst ogłoszony).
  3. Monkey Cage : Deja vu for Jordanian election reforms, Washington Post vom 2. September 2015

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Bernard Norman Grofman, Sung-Chull Lee, Edwin Winckler, Brian Woodall (Hrsg.): Elections in Japan, Korea, and Taiwan under the Single Non-Transferable Vote: The Comparative Study of an Embedded Institution. University of Michigan Press 1999.