Nuckelpinne

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Eine frühe Nuckelpinne, der Opel Laubfrosch

Nuckelpinne ist eine regional verwendete saloppe, sowohl scherzhafte wie auch abwertende Bezeichnung für ein kleines, schwach motorisiertes Automobil[1] oder allgemein kleineres Gefährt (beispielsweise ein Motorrad). Nach Hermann Pauls Deutschem Wörterbuch wurde damit ein kleines Boot bezeichnet.[2]

Im Jahr 2007 war der bereits in den 1920er Jahren belegte[3] Begriff beim international ausgeschriebenen Wettbewerb Das schönste ABC der Welt unter den eingereichten deutschsprachigen Vorschlägen, konnte jedoch keinen der drei Siegerplätze erreichen.

Herkunft[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Anschieben eines Hanomag 2/10 PS bei einer DDR-Oldtimerrallye

Eine sehr frühe Erwähnung findet sich in dem Buch Automobil-Touristik aus dem Jahr 1920.[3] Die Herkunft des Begriffs selbst ist unklar. Es gibt frühe Hinweise, dass der Begriff vor allem in Berlin verwendet wurde.[4][5] Im Berliner Dialekt des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde das Verb „nuckeln“ für unbeschäftigt sein, langsam sein verwendet; „Nuckelfritze“ war ein langsamer, stiller Mensch, auch „Nusselpinne“ bezeichnete einen langsamen Menschen.[6]Pinne“ ist ein Ausdruck aus dem Schiffbau und wurde im Berliner Dialekt des ausgehenden 19. Jahrhunderts auch für einen kleinen Nagel verwendet.[7]

In der Sendung Warum? Darum! mit Simone Panteleit, einer Wissensrubrik im Berliner Rundfunk 91.4, und im zugehörigen Buch wurde im Jahr 2013 die Kombination von „Pinne“ (etwas Kleines) und „nuckeln“ (sich langsam bewegen) als Erklärung genannt. Nicht näher bezeichnete Internetquellen machen nach Panteleit den bayerischen Komödianten Weiß Ferdl für die Verbreitung verantwortlich.[8] Ferdl hatte 1930 einen bayerisch-berlinerischen Radiosketch namens Kurvendialog aufgenommen; sein Berliner Sidekick Paul Westermeier benutzte den Ausdruck dort für einen Hanomag 2/10 PS.[9][10] Der Kleinwagen war mit einer charakteristischen Pontonkarosserie versehen und das erste deutsche am Fließband gefertigte Automobil.

Verbreitung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Das Variantenwörterbuch des Deutschen sieht den Begriff mittlerweile im gesamten Deutschland mit Ausnahme des Südostens verbreitet. Dort sind Begriffe wie Schnauferl eher gebräuchlich, in Österreich etwa Spuckerl, in der Schweiz eher die Kiste oder gar der Rosthaufen.[11] Umgangssprachlich wird Nuckelpinne herablassend oder auch mit einem belustigten Unterton verwendet, wie beispielsweise im Duden zur deutschen Idiomatik: Mit dieser Nuckelpinne wollt ihr über die Alpen kommen? Das kann ja lustig werden![12] Im Dezember 2006 schied bei der Quiz-Show Wer wird Millionär? ein Kandidat mit null Euro aus, der sich bei der Frage nach der Bedeutung des Begriffs „Nuckelpinnen“ (Lösungsoptionen: A: Bierflaschen, B: Autos, C: Zigarren, D: Brustwarzen) für die Lösung „Bierflaschen“ entschieden hatte.[13] Das Oxford Dictionary gibt den Ausdruck mit old banger oder old crate wieder.[14] Die Begriffserklärung von „Nuckelpinne“ ist nicht nur in deutschsprachigen Wörterbüchern zu finden, sondern beispielsweise auch in englischen Büchern zu deutschen Slangausdrücken[15] und ebenso in polnischsprachigen Wörterbüchern.[16]

CityEL, dreirädriges Leichtfahrzeug mit Elektroantrieb

Durchaus kontrovers gebraucht wird die Bezeichnung bei Kleinstwagen mit Elektroantrieb. Die taz nannte 2011 in einem Artikel über den Elektroautopionier Karl Nestmeier (vgl. Smiles AG), dessen CityEL als eine in der Verkaufsstatistik vorne liegende Nuckelpinne. Nestmeier kommentierte eine Rallyewende mit dem sportlicheren Tazzari Zero begeistert mit Ja, ein Elektroauto ist keine Nuckelpinne!, was der Interviewer Johannes Gernert als typisch deutsch bzw. mit Verweis auf Nestmeiers Jugend in einem Autoland kommentierte.[17]

2006 sprach Daimler-Chef Dieter Zetsche in einem Interview neben der emotionalen Wirkung auch die Zuverlässigkeit der Fahrzeuge als zentralen Punkt für den Markterfolg – insbesondere in den USA – an. Der Konkurrent Toyota habe es geschafft, im Verständnis der Kunden nicht mehr für unzuverlässige Nuckelpinnen, sondern für verlässlich geltende Autos zu stehen; bei der emotionalen Wirkung sieht er Daimler nach wie vor vorn.[18] Wegen der erhöhten Zuverlässigkeit wird an anderer Stelle gemutmaßt, auch der Begriff „Nuckelpinne“ wäre zunehmend bedroht[19] oder gefährdet.[20]

Autotypen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In den 1950er und 1960er Jahren wurden in Westdeutschland Kleinstwagen wie der Lloyd 300 oder Kabinenroller wie die BMW Isetta[21] als Nuckelpinnen bezeichnet. Die oft belächelten Kleinstwagen stellten wichtige Schrittmacher der in Westdeutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Massenmotorisierung dar. Bereits in den 1970ern führte der Spiegel in seinem Artikel Aus der Nuckelpinne in die Staatskarosse die Tendenz der westdeutschen Autokäufer zu schwereren Wagen mit größeren Motoren an.[22] In anderen Ländern – wie mit den Kei-Cars in Japan oder wie in Italien und in ganz Asien die Rollermobile – sind und bleiben Kleinstwagen ein wichtiges Fahrzeugsegment. Auch der in der DDR ab 1958 gebaute Trabant galt zunächst als moderner Kleinwagen. Ähnliche mit Karosserien aus Glasfaserverstärktem Kunststoff (GFK-Fahrzeuge), wie der dreirädrige, als Motorrad zugelassene Reliant Robin waren Verkaufsschlager in Großbritannien. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung war der Trabant aber aus westdeutscher Sicht hoffnungslos veraltet und untermotorisiert, so dass Nuckelpinne auch für ihn gebräuchlich wurde.[23]

Neben dem Bezug auf Autos wird die Bezeichnung auch gelegentlich für ein Motorrad[24][25] oder generell für ein altes, kleineres Fahrzeug[26][27] verwendet, ebenso für die vor dem Krieg häufigen und unter anderem in Italien (vgl. Ape) wie Asien nach wie vor verbreiteten Dreirad-Lieferwagen.

Literatur und Hörspiel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ferdinand Weisheitinger
alias Weiß Ferdl (1937)
  • In seinem Sketch Kurvendialog verwendet der (Berliner) Partner des bayerischen Humoristen Weiß Ferdl in den 1930er Jahren den Ausdruck Nuckelpinne.[10]
  • Hans Fallada zitiert 1937 in seinem Roman Wolf unter Wölfen den Ausdruck: „Es ist freilich wirklich kein solches Prunkstück wie der Prackwitzsche Wagen, es ist ein richtiger Opel Laubfrosch, eine Nuckelpinne.“[29]
  • Mit „das ist keine Nuckelpinne, … das ist ein Mercedes-Kübel“ wird bei Hans Hellmut Kirsts Roman 08/15 der Unterschied zwischen den kleineren VW Kübelwagen und dem Mercedes-Benz Typ 340 Kübel der Wehrmacht thematisiert.[30]
  • Vom NWDR wurde im Sommer 1955 ein Hörspiel der Autorin Marianne Eichholz mit dem Titel Nuckelpinne fahrbereit gesendet. Beteiligt waren u. a. die Schauspieler und Hörspielsprecher Wolff Lindner und Kurt Klopsch, Regie führte Gert Westphal.[31] Die Sendung war Teil einer Serie unter dem Motto Heiteres für Sommertage. Sie begann mit einem Stück namens Motorroller und endete mit dem Titel Die Kuh auf dem Kühler. Das Hörspiel erhob damals mit vermehrten Reihenbildungen einen vermehrt künstlerischen und zeitgeschichtlichen Anspruch.[31]
  • Roy Etzel, Werner Tauber: Nuckelpinne, Carnon, München (1965)
  • Robert Gernhardt: Durch Bella Italia mit der Nuckelpinne. Kurzgeschichte. In: Achterbahn. Ein Lesebuch. Insel-Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2012, ISBN 978-3-458-17553-7, S. 66–73.
  • Aus der Nuckelpinne in die Staatskarosse. In: Der Spiegel. Nr. 16, 1972 (online).

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Dudeneintrag
  2. Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, 10. überarbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen 2002, ISBN 3-484-73057-9, S. 713.
  3. a b Bruno Martini: Automobil-Touristik. R.C. Schmidt & Company, 1920, S. 68 (google.com).
  4. Velhagen& Klasings Monatshefte. Velhagen & Klasings, September 1931, S. 183 (google.com).
  5. Hans Eberhard Friedrich: Berlin: gestern, heute und immer. [Zeichnungen von Birger Lundquist]. H. Klemm, E. Seemann, 1955, S. 30 (google.com).
  6. nuckeln. In: Hans Brendicke: Berliner Wortschatz zu den Zeiten Kaiser Wilhelms I. In: Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins, Heft XXXIII, 1897, S. 156; zlb.de
  7. Pinne. In: Hans Brendicke: Berliner Wortschatz zu den Zeiten Kaiser Wilhelms I. In: Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins, Heft XXXIII, 1897, S. 162; zlb.de
  8. Simone Panteleit: Warum Socken immer verschwinden und wohin: 300 spannende Alltagsfragen, Eintrag Nuckelpinne. Goldmann Verlag, 2013, ISBN 978-3-641-09094-4 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 14. Februar 2016]).
  9. Manfred Weihermüller: Discographie der deutschen Kleinkunst, Band 4, 1996, S. 1127.
  10. a b Sketch Der Kurvendialog
  11. Ulrich Ammon, Hans Bickel, Jakob Ebner, Ruth Esterhammer, Markus Gasser: Variantenwörterbuch des Deutschen: Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Walter de Gruyter, 2004, ISBN 3-11-090581-7, S. 407 (google.com).
  12. Redewendungen: Wörterbuch der deutschen Idiomatik. Bibliographisches Institut, 2015, ISBN 978-3-411-91128-8 (google.com – Dudenredaktion).
  13. Über diese Kandidaten lachte die TV-Nation. Stern (online), 17. Oktober 2014
  14. Nuckelpinne: Übersetzung von Nuckelpinne auf Englisch im Oxford Dictionary (Deutsch-Englisch). In: oxforddictionaries.com. Archiviert vom Original am 17. Februar 2016; abgerufen am 16. Februar 2016.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.oxforddictionaries.com
  15. Gertrude Besserwisser: Scheisse!: The Real German You Were Never Taught in School. Penguin Books, 1994, ISBN 0-452-27221-1, S. 9 (google.com).
  16. Lingea Sp. z o.o.: IS' WAS? Słownik slangu i potocznego języka niemieckiego. Lingea Sp. z o.o., 2014, ISBN 978-83-64093-94-4, S. 297 (google.com).
  17. Johannes Gernert: Das Autorennen. In: taz.de. 15. Januar 2011, abgerufen am 8. März 2021.
  18. Uli Baur, Uli Dönch, Fritz Schwab: Autos statt Nuckelpinnen. In: Focus, 2006, Nr. 15; abgerufen am 17. Februar 2016.
  19. Bernhard Walker: Bedrohte Wörter. Badische Zeitung, 8. September 2012; abgerufen am 15. Februar 2016.
  20. Johannes Thiele: Rotbuch Deutsch: die Liste der gefährdeten Wörter. Marix-Verlag, 2006, ISBN 3-86539-111-7 (google.com).
  21. Ente und Laubfrosch: Die populärsten Autospitznamen. auto-news.de; abgerufen am 26. Januar 2016
  22. Aus der Nuckelpinne in die Staatskarosse. In: Der Spiegel. Nr. 16, 1972 (online).
  23. Frank Pergande: 50 Jahre Trabi: Rennpappe, Asphaltpickel, Nuckelpinne. faz.net, 7. November 2007; abgerufen am 26. Januar 2016
  24. Der richtige Berliner in Wörtern und Redensarten. C.H.Beck, 2000, ISBN 978-3-406-45988-7, S. 143 (google.com).
  25. Ortrun Egelkraut, Johann Scheibner: Reiseführer Berlin – Zeit für das Beste: Highlights, Geheimtipps, Wohlfühladressen. Bruckmann Verlag, ISBN 978-3-7654-6853-7, S. 285 (google.com).
  26. Muttersprache. Gesellschaft für deutsche Sprache, 1981, S. 174 (google.com).
  27. Christian Scholz: Neue Schweizer Wörter: Mundart und Alltag. Huber, 2001, ISBN 3-7193-1212-7, S. 37 (google.com).
  28. Bildstrecke zu Fiat 500: Der Knubbel kehrt zurück. Spiegel Online, 27. März 2007
  29. Wolf unter Wölfen bei google.books
  30. Hans Hellmut Kirst: Null-acht fünfzehn: Im Krieg. K. Desch, 1954, S. 7 (google.com).
  31. a b Ulrike Schlieper, Rolf Geserick: Hörspiel 1954–1955 : eine Dokumentation. Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs, Band 21. Verlag für Berlin-Brandenburg, 2007, ISBN 978-3-86650-000-6, S. 418.