Rolin-Madonna
| Die Madonna des Kanzlers Nicolaus Rolin |
|---|
| Jan van Eyck, um 1435 |
| Öl auf Holz |
| 66 × 62 cm |
| Musée du Louvre, Paris |
Die Rolin-Madonna oder Die Madonna des Kanzlers Nicolas Rolin ist ein Gemälde des Malers Jan van Eyck aus der Zeit um 1435. Das Bild ist 66 × 62 cm groß und befindet sich seit dem Jahr 1800 im Louvre in Paris.
Bildkomposition und Bildsprache
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Jan van Eycks Rolin-Madonna zählt zu den bedeutendsten Werken der altflämischen Malerei des 15. Jahrhunderts. Das Gemälde besticht durch seine detailreiche Komposition, die religiöse Andacht mit weltlicher Pracht verbindet. Van Eycks meisterhafte Beherrschung der Ölmalerei und sein Sinn für symbolische Tiefe machen das Werk zu einem faszinierenden Zeugnis spätmittelalterlicher Kunst.
Der räumliche Rahmen: ein Palast mit Blick in die Weite
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Szene entfaltet sich im prachtvollen Inneren eines romanischen Palastes, dessen Loggia einen weiten Ausblick auf eine imaginäre Landschaft eröffnet. Der offene Durchgang mit korinthischen Säulen und romanischen Rundbögen führt den Blick über ein Flusstal, eine Brücke mit Wehrturm, eine Stadt mit Kathedrale und schließlich bis zu fernen, bläulich schimmernden Bergen, deren Erhabenheit die Grenzen der realen Welt überschreitet. Diese detailreich aufgebaute Phantasielandschaft bestimmte van Eyck mit jener geradezu mikroskopischen Genauigkeit, die sein Werk berühmt machte.
Die Hauptfiguren: Kanzler und Madonna
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Vordergrund begegnen sich der Stifter, der burgundische Kanzler Nicolas Rolin, und die Muttergottes. Rolin kniet in ernster Andacht auf einem mit blauem Samt bezogenen Gebetsschemel. Sein pelzbesetzter Mantel und der konzentrierte Ausdruck seines Gesichts betonen sowohl seine weltliche Würde als auch seine Demut vor dem Göttlichen. Ihm gegenüber thront die Madonna, in einen schweren roten Mantel gehüllt, mit dem nackten Jesuskind auf dem Schoß. Die feierliche Würde der Szene findet ihren Ausdruck im prächtigen Gewand der Jungfrau: Marias weiter, tiefroter Mantel ist mit einer breiten Borte aus feinsten Stickereien, Perlen und Edelsteinen gesäumt. In dessen goldene Stickerei ist ein Vers aus dem Marienoffizium eingearbeitet – ein Gebet der nächtlichen Matutin, das die Größe der göttlichen Schöpfung preist. Der Knabe erhebt seine Rechte zum Segen, während er in der Linken den Reichsapfel hält – ein Symbol Christi als Weltenherrscher. Über Marias Haupt schwebt ein blau gewandeter Engel, der eine prächtige Krone über ihr hält. Dieses Motiv verweist auf ihre himmlische Erhöhung, auf ihre Würde als Regina caeli – als Königin des Himmels und der Engel. Van Eyck inszeniert diesen Moment feierlich, jedoch ohne pathetische Geste: Der Engel scheint Teil des lichten Raumes zu sein, nicht übernatürlich entrückt, sondern leise gegenwärtig.[1][2]
Der Mittel- und Hintergrund: eine lebendige Welt in Miniatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Alltagsszenen und biblische Motive sind in einer gemeinsamen, geistig verbundenen Umgebung dargestellt. Die Loggia öffnet sich zum Garten hin, der von einem Wehrgang begrenzt wird, auf dem zentral zwei Personen stehen – möglicherweise Jan van Eyck und sein Bruder, wenngleich dies als unsicher gilt. Jenseits des Palastinneren entfaltet sich ein Szenarium menschlichen Lebens, das van Eycks Meisterschaft im Detail feiert. Rechts im Mittelgrund erstreckt sich eine bescheidene Stadt mit einer schlichten Kirche (ziemlich sicher die Kirche Notre-Dame du Châtel in Rolins Geburtsort Autun, in der das Gemälde ursprünglich hing), in der reges Treiben herrscht. Die über der Kirche sichtbaren Weinberge könnten ein Hinweis darauf sein, dass auf den landwirtschaftlichen Gütern von Rolin Wein produziert wurde. Ein Brücke mit Wehrturm überspannt einen Fluss, Menschen überqueren die Brücke und Boote treiben auf dem Fluss. Am rechten Ufer erhebt sich eine Stadt von burgundischer Pracht – ein Spiegel jener Welt, aus der Kanzler Rolin stammt; dahinter lodert in einem Dorf ein heftiges Feuer, das bereits mehrere Häuser erfasst hat – ein dramatischer Hinweis auf die irdische Vergänglichkeit. Über allem öffnet sich die Landschaft in ein weites, sonnenbeschienenes Tal mit idealisierten Bergen, wie sie in der Natur Burgunds niemals vorkamen – Ausdruck der geistigen Landschaft eines Paradieses.[3]
Architektonische und ikonographische Details
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Gewölbe der Loggia ruht auf zwei dunklen Marmorsäulen mit kunstvoll verzierten Kapitellen. Zwischen Basis und Schaft der linken Säule liegen – rätselhaft und wohl symbolisch – zwei zerquetschte Kaninchen, deren Bedeutung sich dem Betrachter entzieht, aber möglicherweise auf Vergänglichkeit oder sündhafte Lust anspielt. Die drei Bögen symbolisieren die Dreifaltigkeit: Vater, Sohn und der Heilige Geist.
Der obere linken Fries überzieht den Raum mit reichem Reliefschmuck: Von der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies über den Brudermord Kains an Abel bis hin zur Trunkenheit Noahs wird eine biblische Chronik des menschlichen Fehlens erzählt, die sich möglicherweise auf Rolin bezog und auf seine Eitelkeit und seinen Stolz anspielt.[A 1] Dieses Narrativ wird auf der rechten Seite mit dem Treffen von Abraham und Melchisedek fortgesetzt. Diese Reliefs weben eine narrative Tiefe in das Gemälde ein. Damit rahmt van Eyck seine zentrale Szene – das Gebet des Menschen vor Maria und Christus – in eine Geschichte der Erlösung.[4][5]
Van Eycks Detailrealismus und Symbolik
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Typisch für Jan van Eyck sind seine glasklare, präzise Malweise und seine leidenschaftliche Hingabe ans Detail, die das Werk zu einem wahren Wimmelbild macht. Jede Fuge im Marmor, jedes Blatt in den Gärten, jedes winzige Mauerfenster ist minutiös ausgeführt. Jede Oberfläche – von Stoffen über Architektur bis hin zu Landschaftselementen – ist mit unzähligen Miniaturen bereichert, die den Betrachter einladen, sich intensiv mit dem Sujet auseinanderzusetzen und das Göttliche im Sichtbaren zu entdecken. Diese parallelen Alltagszenen und Erzählungen sind nicht isoliert dargestellt, sondern eingebettet in eine Welt, die von Bewegung, Kontrasten und Symbolen durchdrungen ist. Die Menschen in der Stadt, kaum größer als Reiskörner, die Tiere im Garten, die Architektur und die Natur – all dies lädt den Betrachter ein, sich mit dem Bild nicht nur visuell, sondern auch geistig auseinanderzusetzen.
Für den Betrachter eröffnen sich damit zwei mögliche Wege der Annäherung an das Werk: Er kann sich ganz in die illusionistische Bildwelt hineinziehen lassen und die Fülle der dargestellten Szenen kontemplativ genießen – oder er folgt der subtilen Symbolsprache des Gemäldes, um auf diesem Weg zur tieferen, vom Künstler intendierten Bedeutung vorzudringen. Im offenen Garten vor dem Palast blühen Rosen, Madonnen-Lilien und Akeleien – Sinnbilder der Reinheit und der Jungfräulichkeit Mariens. Zwei Pfaue und zwei Elstern erscheinen auf dem Wehrgang: Symbole des Guten und Bösen, von Unsterblichkeit und Versuchung, von Auferstehung und Eitelkeit, die van Eyck in feiner Dialektik gegenüberstellt.[6]
Bedeutung und Interpretation
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Van Eycks Rolin-Madonna ist mehr als ein Andachtsbild. Sie verbindet persönliche Frömmigkeit und politische Repräsentation: Der Kanzler wird als frommer Staatsmann und zugleich als geistiger Akteur des göttlichen Plans präsentiert. Der Künstler gestaltet so die Allianz von irdischer Macht und himmlischer Ordnung – in einem Raum, der gleichermaßen sakral wie weltlich, realistisch wie mystisch erscheint. Das Bild ist eine Meditation über die Nähe Gottes in der Materie. Mit unvergleichlicher Meisterschaft führt Jan van Eyck vor Augen, dass die Schönheit des Irdischen nichts anderes ist als ein Abglanz des Göttlichen.
Deutung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Palast stellt das himmlische Jerusalem dar, in dem keine Vermittlung zwischen Mensch und Gott nötig ist; die Stadt hinter den Säulenbögen ist damit zwar nicht gleichzusetzen, sie gehört aber ebenfalls zur messianischen Welt. Die Ausrichtung der Kathedrale und der Schatten des Stabes, den eine Figur in der Bildmitte hält, lassen eine Lichtquelle im Nordwesten annehmen. Das Stundenbuch Rolins enthält keine Angaben zur Zeit, aber am Mantelsaum der Madonna ist ein Gebet eingestickt, das zum Marienofficium gehört, und zwar zur Matutin – diese wird im klösterlichen Stundengebet zwischen Mitternacht und dem frühen Morgen gebetet. Im Mariengarten vor dem Palast blühen gleichzeitig Rosen, Päonien, Maiglöckchen, Schwertlilien und Akeleien.[7]

Am Wehrgang hinter dem Mariengarten stehen zwei Männer, von denen einer zur Stadt hinuntersieht und der andere dem Betrachter das Profil zuwendet. Diese zweite Figur (im blauen Rock und mit rotem Turban) hält einen Stab und ist damit als Hofbeamter kenntlich;[7] sie wird von manchen mit dem Maler selbst identifiziert. Farbe und Form des Turbans stimmen mit denen auf dem als Selbstbildnis angenommenen Bild Mann mit rotem Turban überein.[8]
Forschung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die zahlreichen Details sind in der Unterzeichnung, also der linearen Konzeption auf der Grundierung der Holztafel, noch nicht enthalten. Mit Infrarot-Reflektografie[9] werden überdies Änderungen sichtbar: Der segnende Arm des Jesusknaben wurde vom Künstler erst später ergänzt; am Gürtel Rolins war ursprünglich ein Geldbeutel sichtbar.[7] Wichtige Aussagen zur Ikonographie des Bildes liefert Heinz Roosen-Runge 1972 für die kunstwissenschaftliche Forschung,[10] in der er den mit goldenen Lettern ausgefüllten Mantelsaum der Madonna untersucht und mit Textstellen aus dem damals bekannten lateinischen Gebetbuch in Verbindung bringt sowie die beiden Männer an der Brücke als „Herolde“ identifiziert, die im Mittelalter als Prediger und Lehrer fungierten, und weitere symbolische Deutungen zum Bildinhalt macht. Außerdem liefert er zeitgenössische Quellen zur Identität des Kanzlers.[10]
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Heinz Roosen-Runge: Die Rolin-Madonna des Jan van Eyck. Form und Inhalt. Dr. Ludwig Reichert Verlag, Wiesbaden 1972, ISBN 3-920153-19-7.
- Anita Albus: Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei (= Die Andere Bibliothek. 145). Eichborn, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-8218-4145-1, S. 19–37: Kapitel III (Aussicht vom Paradies).
- Christiane Kruse, Felix Thürlemann (Hrsg.): Porträt, Landschaft, Interieur. Jan van Eycks Rolin-Madonna im ästhetischen Kontext (= Literatur und Anthropologie. 4). Gunther Narr, Tübingen 1999, ISBN 3-8233-5703-4.
Anmerkungen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Van Eyck scheint die biblische Geschichte von Noah bewusst frei interpretiert zu haben, indem er bestimmte Details abänderte. Rechts von Noah sind auf dem Gemälde vier Männer dargestellt, die offenbar seine Söhne darstellen sollen – obwohl Noah der Bibel zufolge nur drei Söhne hatte: Japhet, Sem und Ham. Vermutlich wollte Van Eyck mit dieser Abweichung eine Parallele zum Leben des Kanzlers Nicolas Rolin ziehen: Rolin selbst hatte vier Söhne, und so spiegeln die vier „Söhne Noahs“ symbolisch die unterschiedlichen Rollen und Charaktere von Rolins eigenen vier Kindern aus zwei Ehen wider (vgl. Eelco Kappe: Madonna of Chancellor Rolin by Jan van Eyck. 3. August 2020, abgerufen am 25. Oktober 2025.).
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Gerry Martinez: The Madonna of Chancellor Rolin Oil Painting: The Meaning and History of Madonna of Chancellor Rolin. Oil Paintings Art Jewelry and Sculpture Buying Guide, abgerufen am 25. Oktober 2025.
- ↑ Rafael Plácido: A closer look at „The Virgin and Child with Chancellor Rolin“. 27. Juli 2008, abgerufen am 25. Oktober 2025.
- ↑ Laura D. Gelfand: Piety, Nobility and Posterity: Wealth and the Ruin of Nicolas Rolin’s Reputation. In: Journal of Historians of Netherlandish Art 1:1. 2009, abgerufen am 25. Oktober 2025. doi:10.5092/jhna.2009.1.1.3
- ↑ Eelco Kappe: Madonna of Chancellor Rolin by Jan van Eyck. 3. August 2020, abgerufen am 25. Oktober 2025.
- ↑ Elizabeth Deschamps Blackford: The Noahic Pattern in Nicolas Rolin's Patronage: Jan van Eyck's Rolin Madonna and Rogier van der Weyden's Beaune Altarpiece. In: All ETDs from UAB 3480. Master Thesis, 2023, abgerufen am 25. Oktober 2025.
- ↑ Eelco Kappe: Madonna of Chancellor Rolin by Jan van Eyck. 3. August 2020, abgerufen am 25. Oktober 2025.
- ↑ a b c Anita Albus: Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei (= Die Andere Bibliothek. 145). Eichborn, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-8218-4145-1, S. 19–37: Kapitel III (Aussicht vom Paradies).
- ↑ Rose-Marie Hagen, Rainer Hagen: Meisterwerke im Detail. Band 1. Taschen, Köln u. a. 2006, ISBN 3-8228-4787-9, S. 32–37.
- ↑ Johannes Taubert: Zur kunstwissenschaftlichen Auswertung von naturwissenschaftlichen Gemäldeuntersuchungen. Siegl, München 2003, ISBN 3-935643-08-X.
- ↑ a b Heinz Roosen-Runge: Die Rolin-Madonna des Jan van Eyck. Form und Inhalt. Dr. Ludwig Reichert, Wiesbaden 1972, ISBN 3-920153-19-7, S. 17: „… der von den Chronisten seiner Zeit als die geachtetste, aber auch gefürchtetste Gestalt des burgundischen Reiches geschildert wird.“