Semipelagianismus

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Semipelagianismus war eine im 5./6. Jahrhundert vor allem in Südgallien verbreitete theologische Lehrrichtung über die Rolle des freien Willens bei der Erlösung. Im semipelagischen Denken wird zwischen dem Beginn des Glaubens und dem Wachstum des Glaubens unterschieden. Das halbpelagianische Denken lehrt, dass die zweite Hälfte – das Wachsen im Glauben – das Werk Gottes ist, während der Beginn des Glaubens dagegen ein Akt des freien Willens sein soll.

Geschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Diese Lehre steht dem Pelagianismus nahe, daher der Name, bemüht sich jedoch, ihre Aussagen von dem bereits vom Konzil von Ephesos verurteilten Pelagianismus eines Julianus von Eclanum abzugrenzen. Ausgelöst wurde diese Bewegung durch die harte Verurteilung des Pelagianismus durch Augustinus, durch dessen Anschauungen über Sünde und Gnade sich insbesondere Angehörige monastisch-asketischer Gemeinschaften angegriffen fühlten. Hauptvertreter war der Mönch Johannes Cassianus in Marseille. Im 13. Buch seiner Gespräche mit den Vätern brachte er seine von dessen Prädestinations- und Gnadenlehre differierenden Anschauungen vor, die von Augustinus 428/429 in zwei Schriften – De praedestinatione sanctorum (MPL 44, 959–992) und De dono perseverantiae (MPL 45, 993–1034) – bekämpft wurden. Darin betont Augustinus, dass nicht nur das Beharren im Glauben, sondern bereits der Glaube selbst von Anfang an ein Gnadengeschenk Gottes sei. Cassianus hatte hingegen die anfängliche Entscheidung für den Glauben allein dem freien Willen zugeschrieben.

Der semipelagianische Streit dauerte die folgenden Jahrzehnte an und wurde erst 529 auf der Synode von Orange, der im südfranzösischen Orange an der Rhône stattfand, mit einer Verurteilung des Semipelagianismus beendet. Die Beschlüsse des Arausicanum wurden von Papst Bonifatius II. bestätigt und verwarfen sowohl Pelagianismus wie Semipelagianismus ganz im Sinne der augustinischen Lehren über Sünde und Gnade. Der freie Wille sei durch die Erbsünde derart geschwächt, dass der Mensch von sich aus Gott weder lieben noch an ihn glauben noch um seinetwillen etwas Gutes tun könne. Auch das Beharren im Glauben sei Gnade. Die Vorstellung einer doppelten Prädestination hingegen (der einen zum Heil, der andern zur Verdammnis) wurde von der Synode verworfen.

Wirkungsgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Kritik des deutschen Reformators Martin Luther galt sowohl den Praktiken der katholischen Kirche als auch den Lehren des Humanisten Erasmus von Rotterdam (1469–1539). Denn Katholiken wie Humanisten folgten einem Semipelagianismus, der lehrte, dass der Mensch etwas zu seinem Heil beitragen könne durch seinen freien Willen. In seiner Schrift De libero arbitrio schrieb Erasmus viel der Gnade Gottes zu, aber trotzdem bewirke der Mensch nicht einfach nichts. Luther lehnte in De servo arbitrio diese Vorstellung ab, um klar zu machen, dass das Heil und die Heilsgewissheit ganz von Gott her zum Menschen komme.[1]

Semipelagianismus wurde als Begriff wurde erstmalig von den spanischen Dominikanern gegen den Jesuiten Luis de Molina (1535–1600) verwendet, da dieser die Ansicht vertrat, dass Gott und Mensch zum Heil gemeinsam zusammenwirken würden.[2]

In einigen englischsprachigen reformierten und evangelikalen theologischen Nachschlagewerken des 20. und 21. Jahrhunderts taucht der Begriff des Semipelagianismus erneut auf. Er wird eher negativ dargestellt als willentliche Bemühungen des sündigen Menschen zur Buße und zum christlichen Glauben hin, worauf die Gnade und Hilfe Gottes hinzukomme.[3]

Die evangelischen Theologen Gerhard Ruhbach, Wilhelm Maurer und Lothar Gassmann behaupten, dass sich viele christliche Kirchen erneut den häretischen Lehren von Pelagius und Erasmus von Rotterdam angenähert hätten und einen faktischen Semipelagianismus leben würden, wiewohl er auf den frühen Synoden und Konzilen lehrmässig verworfen worden sei. Dem menschlichen Denken sei eine gemeinsame Erlangung des Heils naheliegender als eine Sicht der Prädestination, doch Heilsgewissheit könne er nicht vermitteln. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre durch evangelische Kirchen am Reformationstag 1999 in Augsburg sei eine Hinwendung zum Semipelagianismus, da diese auch die römisch-katholische Gnadenlehre anerkennen würde.[4]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Ali Bonner: The Myth of Pelagianism, Oxford University Press, Cambridge 2018.
  • Karl Suso Frank: Augustins Prädestinationslehre und der Semipelagianismus. In: Ders.: Lehrbuch der Geschichte der Alten Kirche. Schöningh, Paderborn 1996, ISBN 3-506-72601-3, S. 291–294.
  • Andreas Kessler: Semipelagianismus, in: Der Neue Pauly, herausgegeben von Hubert Cancik, Helmuth Schneider und Manfred Landfester, 2006.[5]
  • F. Loofs: Semipelagianismus, in: Realenzklopädie für protestantische Theologie und Kirche, hg. von A. Hauck, Bd. XVIII, 1906, S. 102 ff.
  • Wilhelm Maurer: Offenbarung und Skepsis, in: Kirche und Geschichte, Bd. 2, S. 395: Semipelagianismus.
  • Parthenius Minges: Die Gnadenlehre des Duns Scotus auf Ihren Angeblichen Pelagianismus und Semipelagianismus, Forgotten Books, 2018, ISBN 978-0-366-52138-8.
  • Karl Rahner: Augustin und der Semipelagianismus, Zeitschrift für katholische Theologie, Vol. 62, No. 2, Österreichische Provinz der Gesellschaft Jesu, 1938, S. 171–196[6]
  • Gerhard Rottenwöhrer: Semipelagianismus (Theos; Bd. 95). Kovač, Hamburg 2011, ISBN 978-3-8300-5605-8.
  • Kenneth M. Wilson: Augustine’s Conversion from Traditional Free Choice to »Non-free Free Will« – A Comprehensive Methodology, Mohr Siebeck, Tübingen 2018.
  • Ken Wilson: War Augustin der erste Calvinist? – Wenn ein Lehrsystem auf Sand gebaut ist, Düsseldorf: Christlicher Medienvertrieb Hagedorn, 2020.
  • Friedrich Wörter: Beiträge zur Dogmengeschichte des Semipelagianismus, Münster 1906; hansebooks, 2016, ISBN 978-3-7434-2546-0.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Lothar Gassmann: Semipelagianismus, Website handbuch.bibel-glaube.de (abgerufen am 15. September 2023)
  2. Pelagianismus. Über die Irrlehre des Pelagius (370 - ca. 418 n.Chr.), Website efg-hohenstaufenstr.de (Siehe Abschnitt Semipelagianismus, abgerufen am 14. September 2023)
  3. Der Mythos des Pelagianismus, Dr. Flowers im Gespräch mit Dr. Ali Bonner, Website apologia.info 18. Februar 2022 (abgerufen am 11. September 2023)
  4. Lothar Gassmann: Semipelagianismus, Website handbuch.bibel-glaube.de (abgerufen am 15. September 2023)
  5. doi:10.1163/1574-9347_dnp_e1107700
  6. https://www.jstor.org/stable/24217269