Sichtbeton


Sichtbeton ist Beton, der nicht verputzt oder verblendet wird und nach Fertigstellung gewissen ästhetischen Anforderungen genügen soll. Wenn Sichtbeton besondere gestalterische Funktionen erfüllt, wird er teilweise auch als Architekturbeton bezeichnet.
Sichtbeton wird insbesondere im Brutalismus häufig als dominierendes gestalterisches Merkmal eingesetzt. Der im Französischen und Englischen verwendete Begriff für Sichtbeton, Béton brut, wird oft als namensgebend für den Brutalismus angesehen.




Geschichte
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Nach der Einführung des Stahlbetons Ende des 19. Jahrhunderts war es üblich, die rohen Betonoberflächen entweder zu verputzen oder zu verkleiden, um eine ästhetisch ansprechende Oberfläche zu erhalten. Die Betonoberfläche ist nach Abnahme der Schalung jedoch oft nicht porös und saugfähig genug, um eine zuverlässige Anhaftung von Mörtel zu ermöglichen und muss daher zunächst aufgeraut werden. Die manuelle Bearbeitung der Betonoberfläche ist relativ aufwändig, wenn der Beton eine im Hochbau übliche Festigkeitsklasse erreicht.
Oft wurden Betonoberflächen auch von Steinmetzen etwa durch Scharrieren und Stocken bearbeitet, um dem Bauteil ein dem Werkstein ähnliches Aussehen zu geben. Durch den grauen Farbton des Zements lassen sich dem Muschelkalk ähnliche Oberfläche herstellen. Dies setzt allerdings die Verwendung weicher, einfach zu bearbeitenden Gesteinskörnung voraus, die sich schlecht zur ökonomischen Herstellung tragender Betonbauteile eignet. Flußkiesel sind aufgrund ihrer Härte und abgerundeten Form ideal als Zuschlag zur Fertigung von Stahlbetonbauteilen geeignet, zerplatzen aber bei der Bearbeitung mit Meissel oder Spitzeisen und heben sich auch optisch deutlich vom umgebenden Zementmörtel ab. Es ergibt sich eine zerklüftete, unruhige Oberfläche, die heute oft an Infrastrukturbauten wie Brücken eingesetzt wird. Zur Anwendung an Gebäuden wird sie meist als zu grob empfunden.
Es wurde darum bereits zur Jahrhundertwerde versucht, attraktive Betonoberflächen herzustellen, ohne den Beton hierzu steinmetzmäßig bearbeiten zu müssen. Wird die Beton-Schalung bald nach dem Guss des Betons entfernt, kann die äußerste Mörtelschicht abgewaschen oder abgebürstet werden. Dabei werden die mineralischen Zuschläge freigelegt, die in der Regel eine ansprechendere Oberfläche ergeben, als der graue Zementmörtel selbst (→ Waschbeton). An der durch den Abtrag strukturierten Oberfläche haften auch Putz- und Ansetzmörtel besser, als an unbehandeltem Beton.[1]
Um die Stabilität des noch unvollständig erhärteten Betons nicht zu gefährden, darf die Schalung tragender Betonbauteile jedoch oft erst dann entfernt werden, wenn das Abwaschen der Oberflächenschicht bereits kaum mehr möglich ist. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden darum in Amerika Abbindeverzögerer entwickelt, die auf die Betonschalung aufgestrichen werden können und das Erstarren der anliegenden Mörtelschicht ausreichend lange unterbinden. Abgeleitet von englisch concrete-texture (dt. Beton-Struktur)[2] wurde das Verfahren früher auch als Contex bezeichnet.[1] [3]
In den 1960er und 1970er Jahren verbreitete sich der Einsatz von Waschbetonfertigteilen im Hochbau.
Sichtbeton-Bauten der 20er und 30er Jahre
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Als Stahlbetonbau mit Sichtbetonfassade wurde 1925 bis 1928 in Dornach das zweite Goetheanum errichtet.[4] Ernst Otto Oßwalds 1928 fertiggestellter Stuttgarter Tagblatt-Turm markiert einen technologischen Übergang, bei dem die ursprüngliche Sichtbetonfassade noch von Steinmetzen nachbearbeitet wurde.[5]
Weitere Beispiele für Sichtbetonflächen der 1920er und 1930er Jahre finden sich an Michael Rosenauers Dorotheum-Fünfhaus in Wien und Hermann Reinhard Alkers Altes Stadion in Karlsruhe.
Sichtbeton im Kirchenbau
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Im Kirchenbau kam erstmals in großem Maßstab Stahlbeton als Sichtbeton in den Jahren 1908 bis 1910 in der Lutherkirche in Bad Steben und der Ulmer Pauluskirche zur Anwendung.[6] Das Freiburger Bauunternehmen Brenzinger & Cie. errichtete ab 1929 unter dem Architekten Carl Anton Meckel die Kirche St. Konrad als eine der ersten mit einer Fassade aus Sichtbeton.[7] Die Basler Antoniuskirche wurde zwischen 1925 und 1927 als erste reine Betonkirche der Schweiz vom Zürcher Architekturprofessor Karl Moser und der Baufirma G. Doppler und Sohn in schalungsrohem Sichtbeton erbaut. Der Bau steht seit 1987 unter Denkmalschutz und musste wegen Verwitterungsschäden zwischen 1981 und 1991 aufwendig restauriert werden.[8]
Le Corbusiers berühmte Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut de Ronchamp wurde 1955 in Sichtbeton erstellt und ist heute auch ein Pilgerort für Kunsthistoriker und Architekturstudenten. Die bekannteste Sichtbetonkirche in Deutschland ist der 1966 von Gottfried Böhm errichtete Nevigeser Wallfahrtsdom.
In Deutschland wurde Gottfried Böhms für seine Sichtbetonkirchen der 1970er und 1980er Jahre bekannt.
Varianten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der feine Zementleim ist in der Lage, die Struktur der Betonschalung detailgetreu nachzubilden. Werden ungehobelte Bretter als Schalung für ausreichend fließfähigen Beton verwendet, zeigt sich nach dem Ausschalen ein Negativbild der Bretterstruktur einschließlich von Astansätzen und Maserung des Holzes.[1] Auch solche wie eine graue Holzfassade wirkenden Oberflächen werden als Sichtbeton bezeichnet, wenn sie bewußt eingesetzt sind.
Im modernen Betonbau werden unter dem Begriff "Sichtbeton" meist glatte und besonders gleichmäßige Betonoberflächen verstanden, die möglichst wenig Poren und Farbverläufe aufweisen. Da es fast unvermeidlich ist, dass die Stöße der Schaltafeln und die Stellen, an denen die beidseitigen Tafeln durch den Beton hindurch miteinander verbunden werden, später an der Oberfläche ablesbar sind, werden Tafeln und Verbindungsstellen so positioniert, dass sich eine attraktive Struktur ergibt.
Abtragende Oberflächenbearbeitung
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Seit der Erfindung von Zement wurden Betonoberflächen handwerklich bearbeitet, wie es bei Naturwerkstein üblich war. Durch eine entsprechende Auswahl von Zuschlägen und Zusatzstoffen ist es möglich, viele Natursteinarten nachzbilden. Ebenso wie im Terazzo wird dabei die Verwendung von Quarzsand und -Kies vermieden, da sich silikatische Gesteine nur schwer bearbeiten lassen. Auch Bildhauer arbeiten teilweise mit Beton.
Strukturbeton
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Durch die Bearbeitung der Schalung mit CNC-Fräsmaschinen oder Verwendung profilierter Strukturmatrizen in der Schalung können Linienstrukturen, Wellenmuster und unterschiedlichste Oberflächenstrukturen im Beton erzeugt werden. Sogar die Reproduktion von Fotografien ist möglich. Um stärker strukturierte Schaltafeln vom ausgehärteten Beton lösen zu können, wird die Schalhaut aus Polyurethan oder Silikon gefertigt oder mit Trennmittel behandelt.
Vorsatzbeton
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Ähnlich wie bei Zementfliesen kann bei liegender Herstellung von Betonfertigteilen zunächst eine Betonmischung in die Schalung gefüllt werden, deren Bestandteile nach den Anforderungen an die Oberfläche des Bauteils ausgewählt werden. Diese werden etwa nach Witterungsbeständigkeit, maschineller Bearbeitbarkeit, Fließfähigkeit, Feinheit und Farbigkeit selektiert. Gleich nach dem Einfüllen der späteren Oberflächenschicht in einer Stärke von meist ca. 1 bis 2 cm wird die Schalung dann mit einer gewöhnlichen Betonmischung aufgefüllt.
Auch beim Einfüllen des Betons in eine aufrecht stehende Schalung ist es möglich, an der späteren Sichtfläche eine andere Betonmischung einzufüllen als rückseitig. Das Verfahren ist jedoch aufwändig und kommt in der Praxis kaum zum Einsatz.
Klassen
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]In dem Merkblatt Sichtbeton des Deutschen Beton- und Bautechnik-Vereins gibt es vier Sichtbeton-Klassen. Entsprechend diesen Klassen werden Anforderungen an geschalte Sichtbetonflächen definiert. Diese betreffen die Schalhaut (Textur), Arbeits- und Schalhautfugen sowie die Porigkeit, Farbtongleichmäßigkeit und Ebenheit des Betons. Zusätzlich werden Anforderungen bezüglich einer Erprobungsfläche und der Schalhautklasse den Sichtbetonklassen zugeordnet.[9]
Anforderungen | Sichtbetonklasse | Beispiel |
---|---|---|
gering | SB 1 | Kellerwände oder Bereiche mit vorwiegend gewerblicher Nutzung |
normal | SB 2 | Treppenhausräume, Stützwände |
besonders | SB 3 | Fassaden im Hochbau |
besonders hoch | SB 4 | repräsentative Bauteile im Hochbau |
Weitere Formen sichtbaren Betons
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Fotobeton – ein modernes Verfahren, Bilder und Ornamente in Beton zu „gravieren“.
- Strukturbeton – Sichtbeton, der durch spezielle Schalungen eine Struktur erhält.
- Waschbeton – Beton, bei dem die Gesteinskörnung (meistens Mittelkies) durch eine spezielle Oberflächenbehandlung freigelegt wird.
- Architekturbeton – besonders hochwertiger Sichtbeton, bei dem die Bauteile eine besondere gestalterische Funktion haben. Häufig als Fassaden-Fertigteile bei repräsentativen Verwaltungsgebäuden.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Geraldine Buchenau: Beton und seine wachsende Rolle in der Denkmalpflege. Teil 3: Über 100 Jahre Sichtbeton im Hochbau in Baden-Württemberg, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 46.2017/4, S. 306–310.
- Geraldine Buchenau: zur Geschichte von betonbauten, in: Denkmalpflege, 77.2019/1, S. 75–76.
- Joachim Schulz: Sichtbeton – Atlas. Planung – Ausführung – Beispiele. Vieweg + Teubner, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-8348-0261-3.
- Joachim Schulz: Sichtbeton – Planung (Kommentar zur DIN 18217 Betonflächen und Schalungshaut). Vieweg + Teubner, Wiesbaden 2006, ISBN 978-3-8348-0203-3.
- Joachim Schulz: Sichtbeton – Mängel (Gutachterliche Einstufung, Mängelbeseitigung, Betoninstandsetzung). Vieweg + Teubner, Wiesbaden 2004, ISBN 978-3-528-01761-3.
- opus C – Planen & Gestalten mit Beton. Fachzeitschrift für Sichtbeton
- Joachim Schulz: Handbuch Sichtbeton. Beurteilung + Abnahme. Bau + Technik, Erkrath 2010, ISBN 978-3-7640-0531-3.
- Angela Weyer, Pilar Roig Picazo, Daniel Pop, JoAnn Cassar, Aysun Özköse, Jean-Marc Vallet, Ivan Srša (Hrsg.): EwaGlos, European Illustrated Glossary Of Conservation Terms For Wall Paintings And Architectural Surfaces. English Definitions with translations into Bulgarian, Croatian, French, German, Hungarian, Italian, Polish, Romanian, Spanish and Turkish. (= Series of publications by the Hornemann Institute. Volume 17). Michael Imhof, Petersberg 2015, ISBN 978-3-7319-0260-7, S. 46 (elearn.hawk-hhg.de).
Weblinks
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Sichtbeton. beton.org – Homepage der deutschen Zement- und Betonindustrie
- Gestaltung von Betonoberflächen (PDF; 928 kB) Verein Deutscher Zementwerke e. V.
- Sichtbeton Forum: Alles über Sichtbeton
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ a b c Reg.-Baumeister. a. D. Meisenhelder: Das Contex-Verfahren zur Behandlung von Betonflächen (pdf-Datei), Deutsche Bauzeitung, Nr. 63; 61. Jahrgang, Berlin, 6. August 1927, Nr. 16. In: delibra.bg.polsl.pl
- ↑ vgl. Geraldine Buchenau: Beton und seine wachsende Rolle in der Denkmalpflege. Teil 3: Über 100 Jahre Sichtbeton im Hochbau in Baden-Württemberg, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 46.2017/4, S. 310.
- ↑ vgl. Geraldine Buchenau: Beton und seine wachsende Rolle in der Denkmalpflege. Teil 3: Über 100 Jahre Sichtbeton im Hochbau in Baden-Württemberg, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, 46.2017/4, S. 310.
- ↑ Hans Hasler: Das Goetheanum. Eine Führung durch den Bau, seine Umgebung und seine Geschichte. Verlag am Goetheanum, Dornach 2005, ISBN 3-7235-1258-5.
- ↑ Almut Escher: Ortstermin. Baulücke legt bauzeitliche Oberfläche frei. Einblicke in die Herstellungstechnologie des Stuttgarter Tagblattturms. In: Denkmalpflege in Baden-Württemberg. Nachrichtenblatt der Landesdenkmalpflege 50. Jg., 2021, S. 55–56 (PDF; 0,2 MB)
- ↑ Günther Döring: Die Lutherkirche in Bad Steben. In: Der Präsidialbau der Regierung von Oberfranken und seine Epoche. Hanns Michael Scholler, Bayreuth 2006, ISBN 3-00-017544-X
- ↑ Werner Wolf-Holzäpfel: Der Architekt Max Meckel 1847–1910. Studien zur Architektur und zum Kirchenbau des Historismus in Deutschland. Josef Fink, Lindenberg 2000, ISBN 3-933784-62-X, S. 257 f.
- ↑ Mehr als eine Architekturikone. ( des vom 30. Dezember 2014 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. Kunsthistorischer Rundgang in der Basler Antoniuskirche
- ↑ gemäß Merkblatt Deutscher Beton- und Bautechnik-Verein E. V.