Singularität (Systemtheorie)

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Der Begriff Singularität wurde zuerst 1873 von James Clerk Maxwell allgemein zur Erklärung von instabilen Systemen herangezogen. Dabei unterscheidet Maxwell nicht zwischen dynamischen Systemen und sozialen Systemen. Allgemein bezeichnet demnach eine Singularität einen Zusammenhang, in dem eine kleine Ursache eine große Wirkung hervorruft. Die Existenz von Singularitäten ist für Maxwell vor allem ein Argument gegen den Determinismus und eine absolute Kausalität. Zwar folgen auf dieselben Anfangsbedingungen immer dieselben Ereignisse, doch ist eine solche Aussage von wenig Wert in einer Welt, in der sich die gleichen Anfangsbedingungen nie wiederholen.[1]

Merkmale[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Zusammenfassend sind Singularitäten durch folgende Merkmale bestimmt, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein können:

  1. Instabilität: Sie betreffen Wirkungszusammenhänge, bei denen kleine Ursachen große Wirkungen hervorrufen.
  2. Systembezogenheit: Sie stellen eine Besonderheit dar, die jeweils auf ein System bezogen sind und dessen Identität beeinflussen.
  3. Einmaligkeit: Sie zeichnen sich nicht so sehr durch quantitative Einzahligkeit, sondern vielmehr durch qualitative Einmaligkeit aus.
  4. Irreversibilität: Die verursachten Systemveränderungen sind weitgehend unumkehrbar.
  5. Subjektivität: Ihre Wahrnehmung ist von den menschlichen Vorstellungen und Erfahrungen abhängig.
  6. Zufälligkeit: Sie werden oftmals als zufällig betrachtet, da im Allgemeinen entweder die Ursachen oder deren Wirkung nicht genau bekannt sind.
  7. Komplexität: Ihr Auftreten steht häufig in Verbindung mit der Komplexität des jeweiligen Systems und seiner Umwelt.
  8. Wechselwirkung: Sie entstehen oftmals dann, wenn zwischen zwei Systemen unerwartete Wechselbeziehungen auftreten.[2]

Singularitäten in dynamischen Systemen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eine Weiterentwicklung der Gedanken Maxwells in Bezug auf dynamische Systeme erfolgte zunächst durch den französischen Mathematiker Henri Poincaré. Dabei unterschied Poincaré vier unterschiedliche einfache Singularitäten (points singuliers) von Differentialgleichungen. Dies sind die Knoten (les noeuds), die Sattel (les cols), die Fokusse/Strudel (les foyers) und die Zentren (les centres).[3]

In der weiteren Entwicklung der Theorie dynamischer Systeme zeigt sich, dass schon einfache Systeme ein sehr kompliziertes Verhalten zeigen, das die Kompliziertheit realer Phänomene widerspiegelt. Dazu gehören:

  • Instabilitäten in Form von Explosionen oder Naturkatastrophen,
  • Bifurkationen (Verzweigungen) etwa bei Entwicklungssprüngen in der biologischen Evolution,
  • Turbulenzen mit Übergang zum Chaos (Chaostheorie).[4]

Bifurkationspunkte haben dann eine besondere Bedeutung, wenn die Entwicklung eines Systems nicht von eindeutig bestimmbaren Parametern abhängt, sondern kleinste zufällige Schwankungen (Fluktuationen) an der Verzweigung darüber entscheiden, welche Entwicklung das System nimmt.[5] In jüngerer Zeit fand die Chaostheorie besondere Beachtung. Letztlich ist deterministisches Chaos jedoch nur ein Spezialfall einer Singularität, bei dem auf eine kleine Ursache eine große Wirkung aus einem beobachtbaren nichtlinearen dynamischen Verhalten entsteht. Die von Maxwell angesprochenen Singularitäten, wie z. B. ein lockerer Felsbrocken auf einem singulären Punkt an einem Hang, zeigen ein lineares dynamisches Verhalten, wie es Poincaré untersucht hat.

Singularitäten bilden die gemeinsame Klammer über die Chaos-, Katastrophen- und Bifurkationstheorie (fraktale Geometrie).[6]

Singularitäten in sozialen Systemen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In sozialen Systemen ist ein deterministisches Chaos eher unwahrscheinlich, da die Elemente des Systems einzelne Individuen sind, die mit Bewusstsein, Willen und Voraussicht zielgerichtet in das dynamische Verhalten des Systems eingreifen.[7] Dies schließt jedoch nicht aus, dass Ansätze deterministischen Chaos’ in sozialen Systemen vorhanden sind. Vielmehr gibt es auch in der gesellschaftlichen Entwicklung eine Zunahme von nichtlinearen Dynamiken und Instabilitäten.[8]

Chaos im umgangssprachlichen Sinne von vollständiger Unordnung oder Verwirrung ist jedoch anzutreffen. Es ist oftmals die Basis für Singularitäten, bei denen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nicht klar erkennbar sind. Es finden sich schon zahlreiche Beispiele für Singularitäten in sozialen Systemen bei Maxwell und Poincaré. Maxwell führt aus, dass ein Wort einen Krieg auslösen kann und alle großen Entdeckungen des Menschen auf singulären Zuständen basieren. Poincaré nennt als Beispiel einen Dachdecker, der einen Ziegel fallen lässt und einen zufällig vorbeigehenden Mann tötet. Was Poincaré als Einfluss von zwei sonst fremden Welten bezeichnete, kann auch als das Kreuzen von Kausalketten bezeichnet werden.[9]

Singularitäten in der Naturgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Entwicklung von Systemen stellt sich die Wissenschaft derzeit so vor, dass sich nach der Entstehung des Universums durch einen singulären Urknall ein gleichförmig verteiltes Plasma im Raum ausbreitete, welches mit zunehmender Expansion abkühlte, so dass sich Atome bildeten und schließlich aufgrund kleinster (singulärer) Fluktuationen in der gleichförmigen Dichte sich selbst verstärkende Inhomogenitäten entstanden. Sie führten in der Folge zur Entstehung von Galaxien, Sternen und anderen Systemen im Universum, aus denen am Ende auch der Mensch hervorgegangen ist. Selbst wenn die Singularität des Urknalls in den mathematischen Modellen vermieden werden kann, bleiben Singularitäten als wesentliches Element der Entstehungsgeschichte.

Die Evolutionsgeschichte zeigt, dass nicht nur erfolgreiche Mutationen als positive Singularitäten aufgefasst werden können, sondern die Hominisation bzw. das Menschwerden, das wichtigste singuläre Ereignis der Evolution ist und einen Sprung aus dem Kontinuum der bisherigen evolutionären Entwicklung des Planeten Erde darstellt.[10][11]

In jüngster Zeit zeigen Ward und Kirschvink auf, dass die Geschichte des Lebens stärker von Katastrophen beeinflusst wurde als von der kontinuierlichen Evolution.[12] Katastrophen sind hier zunächst destruktive Singularitäten, die Raum für neue Entwicklungen im Sinne von Innovationen als produktiven Singularitäten schaffen.[13]

Singularitäten und Komplexität[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Eng verbunden ist der Begriff der Singularität mit dem Begriff der Komplexität. Schon J. C. Maxwell hat darauf hingewiesen, dass ein System umso mehr singuläre Punkte hat, je komplexer es ist. Komplexität ist auch die Basis für empfundenes Chaos und Singularitäten. Nimmt man ein scheinbar unbedeutendes Ereignis, das eine große Wirkung erzeugt, schon in einem einfachen Zusammenhang nicht wahr, so ist dies in einer komplizierten Situation mit vielen Elementen und Beziehungen noch viel weniger zu erwarten. Dass Komplexität quasi der Nährboden für Singularitäten ist, zeigt der Untergang alter Kulturen. Ursachen wie Eindringlinge, interne Konflikte oder Naturkatastrophen reichen alleine nicht aus, um den Untergang einer Kultur zu begründen. Voraussetzung ist vielmehr eine steigende Komplexität und damit verbundene sinkende Grenzerträge.[14] Ebenso finden sich in der unternehmensrelevanten Umwelt zunehmend Erscheinungen, die durchaus vergleichbar mit Phänomenen der System- und Chaostheorie sind. Signale für eine chaotische Umwelt sind vor allem:

  • Die hochgradige Vernetzung der Umwelt mit ihren zahlreichen Interdependenzen, welche zunehmend singuläre Ereignisse hervorbringt.
  • Die geringe und nur kurzfristig mögliche Vorhersagbarkeit von Marktentwicklungen.
  • Die ein Gefühl von Chaos erzeugende Verdichtung von Informationen in Raum und Zeit.
  • Die immer öfter fehlende Möglichkeit, zwischen richtigen und falschen Handlungen zu unterscheiden.[15]

Die Finanzkrise ab 2007 zeigt, wie schwierig Entscheidungen in einer übermäßig komplexen Umwelt sind. So ist die Komplexität der Finanzsysteme und Finanzprodukte eine wesentliche Herausforderung, der sich die Finanzmärkte und Institutionen gegenübersehen.[16] Eine Lösung sind Komplexitätsreduktion und Erhöhung der Anpassungspotentiale bzw. Robustheit. In einer komplexer werdenden Welt mit zunehmenden Singularitäten gilt es daher, auf Optimierungspotentiale zu verzichten, um Anpassungsfähigkeit gegen externe Schocks und Katastrophen zu gewinnen.[17]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • J. C. Maxwell: Does the Progress of Physical Science tend to give any Advantage to the Opinion of Necessity (or Determinism) over that of the Contingency of Events and the Freedom of the Will? In: L. Champbell, W. Garnett: The Life of James Clerk Maxwell. London 1882, S. 440ff.
  • H. Holzkämpfer: Management von Singularitäten und Chaos. Wiesbaden 1996, ISBN 3-8244-0296-3.
  • Ch. Strub, K. Mainzer: Singulär, Singularität. In: J. Ritter, K. Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Darmstadt 1992, Sp. 798ff.
  • J.-H. Scharf (Hrsg.): Singularitäten, Nova Acta Leopoldina, Abhandlungen der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, Vorträge anläßlich der Jahresversammlung vom 30. März bis 2. April 1985 zu Halle (Saale). Leipzig 1989.

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. J. C. Maxwell: Does the Progress of Physical Science tend to give any Advantage to the Opinion of Necessity (or Determinism) over that of the Contingency of Events and the Freedom of the Will? In: L. Champbell, W. Garnett: The Life of James Clerk Maxwell. London 1882, S. 440ff.
  2. H. Holzkämpfer: Management von Singularitäten und Chaos. Wiesbaden 1996, S. 91.
  3. H. Poincaré: Mémoire sur les courbes définies par une équation différentielle. In: Journal de mathématiques. 1881, S. 375–422.
  4. I. N. Bronstein, K. A. Semendjajew: Taschenbuch der Mathematik. 25. Auflage. Stuttgart u. a. 1991, S. 217.
  5. I. Prigogine, I. Stengers: Dialog mit der Natur – Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens. 6. Auflage. München 1990, S. 148ff.
  6. P. N. V. Tu: Dynamical Systems: An Introduction with Applications in Economics and Biology. 2., überarb. und erw. Auflage. Berlin u. a. 1994, S. 195ff.
  7. C. C. von Weizsäcker: Ordnung und Chaos in der Wirtschaft. In: W. Gerock, H. Haken u. a. (Hrsg.): Ordnung und Chaos in der unbelebten und belebten Natur. Stuttgart 1989, S. 46.
  8. W. L. Bühl: Sozialer Wandel im Ungleichgewicht: Zyklen, Fluktuationen, Katastrophen. Stuttgart 1990, S. 207.
  9. H. Staudinger: Singularität und Kontingenz. In: Sitzungsbericht der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Band 21, Nr. 3, Stuttgart 1985, S. 133.
  10. R. Hagemann: Mutationen als produktive Singularitäten. In: J.-H. Scharf (Hrsg.): Singularitäten, Nova Acta Leopoldina, Abhandlungen der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, Vorträge anläßlich der Jahresversammlung vom 30. März bis 2. April 1985 zu Halle (Saale). Leipzig 1989, S. 155–169.
  11. C. Vogel: Die Hominisation, ein singulärer Sprung aus dem Kontinuum der Evolution? In: J.-H. Scharf (Hrsg.): Singularitäten, Nova Acta Leopoldina, Abhandlungen der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, Vorträge anläßlich der Jahresversammlung vom 30. März bis 2. April 1985 zu Halle (Saale). Leipzig 1989, S. 141–154.
  12. P. Ward, J. Kirschvink: Eine neue Geschichte des Lebens. München 2016, S. 30.
  13. H. Holzkämpfer: Management von Singularitäten und Chaos. Wiesbaden 1996, S. 133ff und 139ff
  14. J. A. Tainter: The Collapse of Complex Societies. Cambridge, New York u. a. 1988, S. 42ff.
  15. B. Heitger: Chaotische Organisation – organisiertes Chaos? Der Beitrag des Managements zur lernenden Organisation. In: T. Sattelberger (Hrsg.): Die lernende Organisation: Konzepte für eine neue Qualität der Unternehmensentwicklung. Wiesbaden 1991, S. 116ff.
  16. J.-P. Landau: Complexity and the financial crisis, Introductory remarks at the Conference on The Macroeconomy and Financial Systems in Normal Times and in Times of Stress, jointly organized by Banque de france and the Bundesbank. 8. Juni 2009.
  17. M. Conrad: Adaptability: The Significance of Variability from Molecule to Ecosystem. New York/ London 1983.