Viola Priesemann

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Viola Priesemann (2019)

Viola Priesemann (* 28. April 1982 in Bobingen) ist deutsche Physikerin, Politikberaterin und Hochschullehrerin.[1] Sie ist Professorin für die Theorie neuronaler Systeme an der Universität Göttingen[2] und leitet eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation.[3]

Priesemann lieferte Beiträge zur Modellierung komplexer Systeme, insbesondere zur Selbstorganisation neuronaler Netze.[4] Sie untersucht zum Beispiel, wie die Informationsverarbeitung im Gehirn funktioniert[5] und wie biologisch inspirierte Computersysteme konstruiert werden können.[6] Außerdem ist sie bekannt für ihre Arbeit während der COVID-19-Pandemie.[7] Sie konstruierte Modelle der Infektionsausbreitung und untersuchte die Effektivität von Strategien zur Pandemieeindämmung.[8]

Als eine der führenden Expertinnen und Experten in der Corona-Krise beriet sie die deutsche Bundesregierung und war bis zu seiner Auflösung Mitglied des Corona-Expertenrats.[9][10][11]

Ausbildung und berufliche Karriere[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Priesemann studierte Physik an der Technischen Universität Darmstadt. Für ihre Doktorarbeit erforschte sie die neuronale Informationsverarbeitung mit Projekten an der École normale supérieure in Paris, am Caltech in Kalifornien und am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt. Im Jahr 2013 wurde sie an der Universität Frankfurt im Fachbereich Physik promoviert. In ihrer Doktorarbeit beschäftigte sie sich mit Informationstheorie, mit Ausbreitungsdynamik in neuronalen Netzen und mit der Rolle von Phasenübergängen für die Informationsverarbeitung.[12][13]

Nach einer Tätigkeit als Postdoc bei Theo Geisel wurde Viola Priesemann 2014 Fellow am Bernstein Center for Computational Neuroscience Göttingen[14] und bewarb sich 2015 erfolgreich für eine unabhängige Max-Planck-Forschergruppe, die sie seither am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen leitet.

Priesemann war von 2015 bis 2020 Fellow des Elisabeth-Schiemann-Kollegs[15] und ist Mitglied des Exzellenzclusters Multiscale Bioimaging[16] und der Jungen Akademie.[17]

Einen Ruf auf eine W3-Professur an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg lehnte sie 2020 ab.[18]

Seit Oktober 2022 ist sie Professorin für Theorie neuronaler Systeme an der Universität Göttingen.[2]

Forschung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Priesemanns Forschungsfeld ist die Modellierung komplexer Systeme.[19][20] Sie untersucht vor allem die Selbstorganisation und Emergenz der Informationsverarbeitung in lebenden und künstlichen neuronalen Netzen.[4] Ziel der Forschung ist zweierlei: Einerseits soll die Initialisierung und Effektivität von künstlichen neuronalen Netzen verbessert werden.[6] Andererseits will sie aufklären, wie die Informationsverarbeitung einer komplexen Umwelt im Gehirn stattfindet.[5] Außerdem untersucht sie, wie biologisch inspirierte Computersysteme konstruiert werden können.[6]

Ferner beschäftigte sie sich mit der Frage, wie Anästhesie zum vorübergehenden Verlust des Bewusstseins führen könnte.[21]

COVID-19

Im Zuge der COVID-19-Pandemie hat sich Viola Priesemann der Modellierung von Infektionsgeschehen zugewandt. Sie erforscht, welche Strategien der Pandemieeindämmung effizient und effektiv sind.[8] Ihre Forschungsgruppe wies dabei besonders auf die Schwierigkeiten des Test-Trace-and-Isolate-Ansatzes (TTI) hin, der von vielen Regierungen angewendet wurde. Die Modelle legen nahe, dass die Anwendung dieser Strategie allein nicht ausreiche, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Sie müsse mit weiteren Maßnahmen, etwa Kontaktbeschränkungen und erweiterten Hygienekonzepten, kombiniert werden.[22] Außerdem zeigten die Forscher, dass es Kipppunkte im Verlauf der Infektionsausbreitung gäbe. Bei geringen Fallzahlen sei eine Infektionskontrolle viel einfacher. Jenseits des Kipppunkts werde es immer schwieriger, die Kontrolle wiederzuerlangen.[23][24]

Parallel dazu entwickelte die Forschungsgruppe um Priesemann ein hierarchisches Bayes-Modell, um die Auswirkungen nicht-pharmazeutischer Interventionen (NPIs) anhand europäischer Daten zu modellieren.[25]

Priesemann gehörte zu den Beratern der Bundesregierung und wurde 2021 auch in den Expertenrat der Bundesregierung zu COVID-19 berufen, der die Aufgabe hatte, Empfehlungen zur Pandemiebewältigung zu erarbeiten.[26]

Priesemann war Mitautorin und Erstunterzeichnerin mehrerer Stellungnahmen von außeruniversitären Forschungseinrichtungen, z. B. des John-Snow-Memorandums[27] und der 7. Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina zur Coronavirus-Pandemie.[28] Sie ist Initiatorin pan-europäischer Stellungnahmen,[29][30] die die Notwendigkeit eines gemeinsamen europäischen Vorgehens bei der Eindämmung von COVID-19 betonten und einen Aktionsplan vorlegten. Sie unterstützte zudem eine strikte Zero-Covid-Strategie.[31]

Die Wochenzeitung Die Zeit veröffentlichte im Dezember 2020 ein mehrseitiges Dossier darüber, wie Priesemann und ihre Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut die COVID-Pandemie mathematisch erforschen.[7]

Schriften (Auswahl)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Juhan Aru, Jaan Aru, Viola Priesemann, Michael Wibral, Luiz Lana, Gordon Pipa, Wolf Singer, Raul Vicente: Untangling cross-frequency coupling in neuroscience, Current Opinion in Neurobiology, Volume 31, 2015, Pages 51-61, https://doi.org/10.1016/j.conb.2014.08.002.
  • Wilting J, Priesemann V: 25 years of criticality in neuroscience - established results, open controversies, novel concepts. Curr Opin Neurobiol. 2019 Oct;58:105-111. doi:10.1016/j.conb.2019.08.002.

Auszeichnungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Antje Höning, Martin Kessler: Corona-Expertin Viola Priesemann: „Eine Maskenpflicht an Schulen ist extrem hilfreich“. 27. November 2021, abgerufen am 26. April 2023.
  2. a b Georg-August-Universität Göttingen: Priesemann übernimmt Professur an der Universität Göttingen. Abgerufen am 24. November 2022.
  3. Kristina Toussaint: Jülicher Minerva-Preis: Wie Viola Priesemann ungeplant zur Corona-Expertin wurde. 17. Oktober 2022, abgerufen am 10. Februar 2023.
  4. a b Benjamin Cramer, David Stöckel, Markus Kreft, Michael Wibral, Johannes Schemmel, Karlheinz Meier, Viola Priesemann: Control of criticality and computation in spiking neuromorphic networks with plasticity. In: Nature Communications. Band 11, Nr. 1, 5. Juni 2020, ISSN 2041-1723, S. 2853, doi:10.1038/s41467-020-16548-3 (Online [abgerufen am 5. Februar 2021]).
  5. a b Johannes Zierenberg, Jens Wilting, Viola Priesemann: Homeostatic Plasticity and External Input Shape Neural Network Dynamics. In: Physical Review X. Band 8, Nr. 3, 20. Juli 2018, ISSN 2160-3308, S. 031018, doi:10.1103/PhysRevX.8.031018 (Online [abgerufen am 5. Februar 2021]).
  6. a b c Michael Wibral, Joseph T. Lizier, Viola Priesemann: Bits from Brains for Biologically Inspired Computing. In: Frontiers in Robotics and AI. Band 2, 2015, ISSN 2296-9144, S. 5, doi:10.3389/frobt.2015.00005 (frontiersin.org [abgerufen am 27. November 2021]).
  7. a b Judith Rauch: Viola Priesemann – die Corona-Jägerin. Emma, 28. April 2021.
  8. a b Jonas Dehning, Johannes Zierenberg, F. Paul Spitzner, Michael Wibral, Joao Pinheiro Neto, Michael Wilczek, Viola Priesemann: Inferring change points in the spread of COVID-19 reveals the effectiveness of interventions. In: Science. Band 369, Nr. 6500, 10. Juli 2020, ISSN 0036-8075, doi:10.1126/science.abb9789, PMID 32414780.
  9. Antje Höning, Martin Kessler: Corona-Expertin Viola Priesemann: „Eine Maskenpflicht an Schulen ist extrem hilfreich“. 27. November 2021, abgerufen am 10. Februar 2023: „Sie gehört zu den führenden Experten und Expertinnen in der Corona-Krise“
  10. Corona: Verhindert das Sommerwetter den Lockdown? Merkel-Beraterin weckt Hoffnungen. Frankfurter Rundschau, 1. April 2021, abgerufen am 12. Februar 2023.
  11. Kim Björn Becker: Corona-Expertenrat wird nach 33 Sitzungen aufgelöst. In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 17. April 2023]).
  12. Viola Priesemann, Michael Wibral, Mario Valderrama, Robert Pröpper, Michel Le Van Quyen: Spike avalanches in vivo suggest a driven, slightly subcritical brain state. In: Frontiers in Systems Neuroscience. Band 8, 2014, ISSN 1662-5137, doi:10.3389/fnsys.2014.00108 (Online [abgerufen am 28. Oktober 2020]).
  13. Viola Priesemann, Mario Valderrama, Michael Wibral, Michel Le Van Quyen: Neuronal Avalanches Differ from Wakefulness to Deep Sleep – Evidence from Intracranial Depth Recordings in Humans. In: PLOS Computational Biology. Band 9, Nr. 3, 21. März 2013, ISSN 1553-7358, S. e1002985, doi:10.1371/journal.pcbi.1002985, PMID 23555220, PMC 3605058 (freier Volltext).
  14. uni-goettingen.de
  15. Elisabeth-Schiemann-Kolleg. Max-Planck-Gesellschaft, abgerufen am 28. Oktober 2020.
  16. MBExC – Multiscale Bioimaging – Cluster of Excellence. Abgerufen am 28. Oktober 2020.
  17. Mitglieder - Die Junge Akademie. Abgerufen am 25. Juni 2021.
  18. Habilitationen und Berufungen November 2020. In: forschung-und-lehre.de. Deutscher Hochschulverband, 2. Dezember 2020, abgerufen am 20. Dezember 2020.
  19. Jens Wilting, Viola Priesemann: Inferring collective dynamical states from widely unobserved systems. In: Nature Communications. Band 9, Nr. 1, 13. Juni 2018, ISSN 2041-1723, S. 2325, doi:10.1038/s41467-018-04725-4 (Online [abgerufen am 5. Februar 2021]).
  20. Viola Priesemann, Michael Wibral, Mario Valderrama, Robert Pröpper, Michel Le Van Quyen: Spike avalanches in vivo suggest a driven, slightly subcritical brain state. In: Frontiers in Systems Neuroscience. Band 8, 2014, ISSN 1662-5137, S. 108, doi:10.3389/fnsys.2014.00108, PMID 25009473 (frontiersin.org [abgerufen am 27. November 2021]).
  21. Patricia Wollstadt, Kristin K. Sellers, Lucas Rudelt, Viola Priesemann, Axel Hutt: Breakdown of local information processing may underlie isoflurane anesthesia effects. In: PLOS Computational Biology. Band 13, Nr. 6, 6. Januar 2017, ISSN 1553-7358, S. e1005511, doi:10.1371/journal.pcbi.1005511, PMID 28570661 (plos.org [abgerufen am 27. November 2021]).
  22. Sebastian Contreras, Jonas Dehning, Matthias Loidolt, Johannes Zierenberg, F. Paul Spitzner: The challenges of containing SARS-CoV-2 via test-trace-and-isolate. In: Nature Communications. Band 12, Nr. 1, 15. Januar 2021, ISSN 2041-1723, S. 378, doi:10.1038/s41467-020-20699-8, PMID 33452267 (nature.com [abgerufen am 27. November 2021]).
  23. Jonas Dehning, Johannes Zierenberg, F. Paul Spitzner, Michael Wibral, Joao Pinheiro Neto: Inferring change points in the spread of COVID-19 reveals the effectiveness of interventions. In: Science. Band 369, Nr. 6500, 10. Juli 2020, ISSN 0036-8075, S. eabb9789, doi:10.1126/science.abb9789, PMID 32414780 (science.org [abgerufen am 27. November 2021]).
  24. Matthias Linden, J. Dehning, Sebastian B. Mohr, J. Mohring, M. Meyer-Hermann: The foreshadow of a second wave: An analysis of current COVID-19 fatalities in Germany. 2020 (semanticscholar.org [abgerufen am 27. November 2021]).
  25. Jonas Dehning, F. Paul Spitzner, Matthias C. Linden, Sebastian B. Mohr, Joao Pinheiro Neto: Model-based and model-free characterization of epidemic outbreaks. 18. September 2020, S. 2020.09.16.20187484, doi:10.1101/2020.09.16.20187484v1.full.pdf+html (medrxiv.org [abgerufen am 27. November 2021]).
  26. Corona-Expertenrat | Bundesregierung. Abgerufen am 12. September 2022.
  27. (61) Coronavirus-Update: Winter is coming. In: ndr.de. 21. Oktober 2020, abgerufen am 20. Dezember 2020.
  28. Leopoldina: 7. Ad-hoc-Stellungnahme. 8. Dezember 2020 (PDF online auf leopoldina.org [abgerufen am 25. November 2021]).
  29. Viola Priesemann, Melanie M. Brinkmann, Sandra Ciesek, Sarah Cuschieri, Thomas Czypionka: Calling for pan-European commitment for rapid and sustained reduction in SARS-CoV-2 infections. In: The Lancet. Band 397, Nr. 10269, 9. Januar 2021, ISSN 0140-6736, S. 92–93, doi:10.1016/S0140-6736(20)32625-8, PMID 33347811.
  30. Viola Priesemann, Rudi Balling, Melanie M. Brinkmann, Sandra Ciesek, Thomas Czypionka: An action plan for pan-European defence against new SARS-CoV-2 variants. In: The Lancet. Band 397, Nr. 10273, 6. Februar 2021, ISSN 0140-6736, S. 469–470, doi:10.1016/S0140-6736(21)00150-1, PMID 33485462.
  31. Irene Berres, Nina Weber: #Zerocovid schnell erklärt: Was ist das Ziel, wie soll es erreicht werden? In: Der Spiegel. 18. Januar 2021, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 13. Januar 2023]).
  32. Lebenslauf auf viola-priesemann.de, abgerufen am 26. Dezember 2020.
  33. Mitgliedschaft - Die Junge Akademie. Abgerufen am 10. Juli 2021.
  34. Communitas-Preis für Viola Priesemann. Abgerufen am 21. Februar 2021.
  35. siehe Viola Priesemann erhält die Medaille für naturwissenschaftliche Publizistik 2021, Pressemitteilung der DPG, abgerufen am 6. Juli 2021
  36. Manuel Maidorn: Auszeichnung für interdisziplinäre Forschung: Viola Priesemann erhält Arthur-Burkhardt-Preis. idw Informationsdienst Wissenschaft, 25. Oktober 2022, abgerufen am 27. Oktober 2022.