Entschleunigung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Mit Entschleunigung wird umgangssprachlich ein Verhalten beschrieben, aktiv der beruflichen und privaten Beschleunigung des Lebens entgegenzusteuern, d. h. wieder langsamer zu werden oder sogar zur Langsamkeit zurückzukehren.

Ziele und Bedeutung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Dem Streben nach Verlangsamung liegt die Auffassung zugrunde, dass die gesellschaftliche und vor allem wirtschaftliche Entwicklung in den entwickelten Industriegesellschaften eine Eigendynamik gewonnen habe, die Hektik und sinnlose Hast in alle Lebensbereiche hineintrage und dabei jedes natürliche und insbesondere menschliche Maß ignoriere. Dem Streben der Berufswelt nach Komplexität, Effektivität, Hast, Hektik, schneller, höher, weiter und mehr wird die Entschleunigung entgegengesetzt. Dabei geht es nicht um Langsamkeit als Selbstzweck, sondern um angemessene Geschwindigkeiten und Veränderungen in einem umfassenden Sinn: im Umgang mit sich selbst, mit den Mitmenschen und mit der umgebenden Natur. Die schnelllebige Welt bietet wenig Beständigkeit und Zeit zum Durchatmen. Zeit wird zum kostbaren Gut. Steigende Anforderungen im Beruf und vielzählige Aufgaben des Alltags, bei gleichzeitig immer neuen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung: Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Zeit für die wichtigen Dinge im Leben zu kurz kommt.[1] In der Konsequenz möchten sie entschleunigen und wünschen sich mehr Zeit für sich, ihre Familie und Freunde.

Der Entschleunigung, der Wiederentdeckung der Langsamkeit, hat sich der Verein zur Verzögerung der Zeit verschrieben.

Zunehmende Bedeutung erfährt Entschleunigung in der Ratgeberliteratur zur Stressbewältigung sowie der interdisziplinär angelegten Glücksforschung.[2][3] Auch im Bereich des Gesundheitstourismus wird das Thema einer verlangsamten Lebensführung unter gesundheitsförderlichen Aspekten vermehrt aufgegriffen.[4][5]

Definitionen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Entschleunigung zeigt Wesensmerkmale der Faulheit und Muße, ohne wie diese negativ besetzt zu sein. Während Entschleunigung als Verzicht weiterer Beschleunigung nicht unbedingt eine Drosselung der gewohnten Geschwindigkeit beinhaltet, enthält das ältere Wort „Verlangsamung“ die Tendenz, das Fortschritts­denken in Frage zu stellen.

Der Begriff Entschleunigung wird auch im Rahmen ökologisch orientierter Politik benutzt. In der Verkehrspolitik wird beispielsweise die generelle Einführung von Tempolimits gefordert sowie der sinnvolle Ausbau von Bundesstraßen statt neuer Autobahnen. Die Entschleunigung findet sich auch in den Konzepten der Wachstumskritik, wie sie von der wachstumskritischen Bewegung gefordert werden.

Entschleunigungsmaßnahmen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Entschleunigungsmaßnahmen können z. B. sein:

  • die Enthaltsamkeit (Askese),
  • die Führung eines Einfachen Lebens,
  • eine Verringerung des Ressourcenverbrauchs,
  • allgemeiner im biologischen Sinne auch alles, was den Energie- und Stoffumsatz verringern hilft.

In sozialer und kultureller Perspektive entwickeln sich zunehmend Maßnahmen mit dem Ziel der Entschleunigung, welche sich unter dem Begriff der Slow-Bewegung zusammenfassen lassen.

Zu den Initiativen der Slow-Bewegung zählen z. B.:

  • Slow Food, Entschleunigung durch langsames und genussvolles Essen
  • Cittàslow, Steigerung der Lebensqualität in Städten
  • Slowretail, für individuelle Läden und Handel mit mehr Wert
  • Slow Travel, bewusstes Reisen, Verzicht auf Pauschaltourismus und schnelle Fortbewegungsmittel
  • entschleunigter Journalismus, der Verzicht auf Effekthascherei und Eilmeldungen im Journalismus[6]

Begriffsgeschichte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der Begriff Entschleunigung (Ent-Schleunigung) wurde erstmals 1979 von Jürgen vom Scheidt in seinem Buch Singles – Alleinsein als Chance eingeführt,[7] danach in drei weiteren seiner Bücher behandelt.

Das Wort tauchte weiter Anfang der 1990er in Publikationen der Evangelischen Akademie Tutzing und des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie auf. Die Idee ist aber älter und mindestens bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgbar, als es in England Tendenzen gab, Eisenbahnen Geschwindigkeiten von mehr als zehn Kilometern pro Stunde zu verbieten.

Literarisch kann das Werk von Adalbert Stifter ex post als Beispiel einer entschleunigten Welt herangezogen werden. In seinem Hauptwerk Der Nachsommer ist ein bestimmendes Motiv, jede Bewegung zu verlangsamen und den Fluss der Zeit anzuhalten. Der Titel von Sten Nadolnys Roman Die Entdeckung der Langsamkeit wurde zu einem Schlagwort für einen entschleunigten Lebensstil.[8]

Dokumentationen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Florian Opitz: Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 2012.

Siehe auch[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  • Klaus Peter Müller: Keine Zeit zum Leben. Philosophische Essays zur Zeiterfahrung in der Moderne. Tectum Verlag, Marburg 2012, ISBN 978-3-8288-2956-5.
  • Hartmut Rosa: Beschleunigung und Entfremdung – Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Suhrkamp, 2013, ISBN 978-3-518-58596-2 (im englischen Original 2010, im Französischen 2012 erschienen).
  • Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-518-29360-5.
  • Florian Opitz: Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Riemann Verlag, 2011, ISBN 978-3-570-50128-3.
  • Oliver Bidlo: Rastlose Zeiten. Die Beschleunigung des Alltags. Oldib Verlag, Essen 2009, ISBN 978-3-939556-13-8.
  • Fritz Reheis: Nachhaltigkeit, Bildung und Zeit. Zur Bedeutung der Zeit im Kontext der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung in der Schule. Schneider, Baltmannsweiler 2005, ISBN 3-89676-964-2.
  • Fritz Reheis: Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus. Riemann, München 2003, ISBN 3-570-50049-7.
  • Fritz Reheis: Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung. 2., erw. Auflage. Primus, Darmstadt 1998, ISBN 3-89678-068-9.
  • Dagmar Vinz: Entschleunigung. In: Ulrich Brand, Bettina Lösch, Stefan Thimmel: ABC der Alternativen. Von „Ästhetik des Widerstands“ bis „Ziviler Ungehorsam“. VSA Verlag, Hamburg 2007, ISBN 978-3-89965-247-5, S. 50–51.
  • Werner Tiki Küstenmacher: Simplify your Life. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-593-37441-2.
  • Christiane Bender: Modernisierung durch Beschleunigung. In: Dietrich Henckel, Christiane Bender, Gerd Haeffner, Karlheinz A. Geißler (Hrsg.): Beschleunigen, Verlangsamen. Stuttgart/Berlin/Köln 2001, ISBN 3-17-016813-4, S. 39–78.
  • Klaus Backhaus, Holger Bonus (Hrsg.): Die Beschleunigungs-Falle oder der Triumph der Schildkröte. Schäffer-Poeschel, Stuttgart 1994, ISBN 3-7910-0877-3.
  • Peter Kafka: Gegen den Untergang. Schöpfungsprinzip und globale Beschleunigungskrise. Hanser, München/Wien 1994, ISBN 3-446-17834-1.

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Wiktionary: Entschleunigung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Stiftung für Zukunftsfragen - eine Initiative von British American Tobacco: Persönliche Ziele für 2016 – Zwischen Entschleunigung und Sparsamkeit. (Memento vom 12. Januar 2016 im Internet Archive) In: Forschung Aktuell. 266, 36. Jg., 31. Dezember 2015.
  2. Manfred Nelting: Schutz vor Burn-out: Ballast abwerfen – kraftvoller leben. Mosaik, München 2012.
  3. Konstanze Kuchenmeister: Mein Glücksrezept: so meistern Sie jede Lebenskrise aus eigener Kraft. Gräfe & Unzer, München 2012.
  4. Entspannung zur Gesundheitsförderung (Memento vom 11. November 2013 im Internet Archive) (PDF; 317 kB). Gesundheitsförderung Schweiz. Abgerufen am 7. November 2013.
  5. Wellness & Gesundheit. Was ist Entschleunigung? (Memento vom 11. November 2013 im Internet Archive) Website von Rheinland-Pfalz Tourismus. Abgerufen am 7. November 2013.
  6. Le Masurier, Megan (2015). What is Slow Journalism?. Journalism Practice. 9 (2): 138–152. doi:10.1080/17512786.2014.916471
  7. Jürgen vom Scheidt: Singles: Alleinsein als Chance des Lebens. Heyne, München 1979, ISBN 3-453-01041-8, S. 98.
  8. Simone Birkel: Zukunft wagen, ökologisch handeln: Grundlagen und Leitbilder kirchlich-ökologischer Bildung im Kontext nachhaltiger Entwicklung. LIT, Münster 2002, ISBN 3-8258-6265-8, S. 42.