Ultraorthodoxes Judentum

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Charedische Familie in Tel Aviv, 2014
Charedische Frauen und Mädchen in Jerusalem
Chassidische Familie in Borough Park, Brooklyn, New York

Das ultraorthodoxe bzw. charedische Judentum (hebräisch יַהֲדוּת חֲרֵדִית jahadut charedit) ist eine theologisch und sozial konservative, nach Einschätzung von einigen Religionswissenschaftlern fundamentalistische Richtung innerhalb des Judentums.

Fremd- und Selbstbezeichnungen[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die in nichtjüdischen Medien gängige Bezeichnung „ultraorthodox“ wird von den Anhängern selbst zumeist abgelehnt; sie bezeichnen sich selbst als „streng orthodox“ oder „charedisch“. Die im Hebräischen gebräuchliche Bezeichnung für einen Anhänger dieser Richtung ist Charedi (חֲרֵדִי, Mehrzahl Charedim חֲרֵדִים, im Englischen auch Haredim; von charada חֲרָדָה „Furcht“, deutsch etwa „Gottesfürchtiger“, wörtlich „Zitternder“).

Geschichte und Verbreitung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Chassidische Knaben, Polen, Postkarte ca. 1915
Chassidische Juden auf dem Weg zur Synagoge, Rehovot, Israel

Das ultraorthodoxe Judentum entstand im späten 18. Jahrhundert und im Laufe des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die jüdische Aufklärung (Haskalah) und die Emanzipationsbestrebungen von Juden in Mittel- und Osteuropa. Charedische Juden lehnen die Normen der Moderne größtenteils ab und befürworten eine Rückkehr zu – teilweise neu erfundenen – traditionellen Werten.

Ultraorthodoxe Juden gibt es sowohl unter den aschkenasischen wie unter den sephardischen Juden; Letztere machen jedoch nur rund 20 Prozent aus.[1] Die aschkenasischen ultraorthodoxen Juden teilen sich in Gruppen von Chassidim und Mitnagdim. Äußerlich an ihrem uniformen und züchtigen Kleidungsstil erkennbar, unterscheiden sie sich von den übrigen orthodoxen Juden dadurch, dass sie weltlichem Wissen ablehnend gegenüberstehen und ein streng reguliertes, meist auf ein rabbinisches Oberhaupt ausgerichtetes Leben abseits der Mainstream-Gesellschaft, sowohl der jüdischen wie nichtjüdischen, führen.[2]

Die Zahl der ultraorthodoxen Juden wurde 2007 weltweit auf ca. 1,3 bis 1,5 Millionen geschätzt. Davon lebte der größte Teil, ca. 700.000, in Israel. In den USA und Kanada lebten etwa 500.000 ultraorthodoxe Juden.[3] In Europa gibt es im Vereinigten Königreich, in Frankreich, Belgien, Österreich und der Schweiz größere ultraorthodoxe jüdische Gemeinschaften, die größte davon in England, wo im Jahr 2007 rund 46.500 ultraorthodoxe Juden lebten.[4] Das ultraorthodoxe Judentum ist die am schnellsten wachsende jüdische Bevölkerung in Israel, in den USA und in Großbritannien.

Zentren des ultraorthodoxen Judentums (außerhalb Israels) befinden sich unter anderem in New York, besonders in Brooklyn sowie in Kiryas Joel, in Toronto und Montreal, in London, Manchester und Gateshead, in Antwerpen, in Straßburg, in Wien und in Zürich.

Die Charedim in Israel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Ultraorthodoxe jüdische Männer und Kinder beim Einkauf, Bnei Brak, 2010

Anteil an der Bevölkerung[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Israel stellen die Charedim geschätzt bis zu 15 Prozent der Bevölkerung.[5] Allerdings verlässt seit den 2010er Jahren eine wachsende Zahl junger Erwachsener, so genannte „XOs“ (Ex-Orthodoxe), die ultraorthodoxen Gemeinden, nicht zuletzt weil die bisherige Abschottung der Charedim von der säkularen israelischen Gesellschaft sich in Zeiten des Internets nicht mehr wie gewohnt durchsetzen lässt.[6] Demgegenüber nehmen auch säkulare oder gemäßigt religiöse jüdische Israelis den ultraorthodoxen Lebensstil an, so genannte „Chosrim beTschuvah“ (Zum Judentum Zurückkehrende).

Bevorzugte Wohnorte[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die meisten charedischen Einwohner hat Jerusalem; dort prägen sie ganze Stadtviertel, wie etwa Me'a Sche'arim und Geula. Auch die Städte Bnei Brak und Bet Schemesch gehören zu den Orten mit großer ultraorthodoxer Bevölkerung. Manche Charedim leben auch in Siedlungen in der Westbank, so etwa in Betar Illit, Immanuel und Modi’in Illit.[7]

Berufstätigkeit[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In Israel gehen weniger als 50 Prozent der charedischen jüdischen Männer (Stand 2015)[8] einer regulären Arbeit nach, sondern verbringen ihre Zeit offiziell ausschließlich in einer religiösen Lehranstalt, der Jeschiwa, mit dem Studium der religiösen Schriften, vor allem Tanach und Talmud. Sie werden in der Regel vom Staat finanziell unterstützt. Dagegen sind 78 Prozent der charedischen Frauen berufstätig, die mitunter eine bessere Berufsausbildung haben als die theologische Studien betreibenden Männer.[9]

Junge charedische Männer in Jerusalem

Ehe und Familie[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

In der Regel heiraten ultraorthodoxe Männer und Frauen im Alter von 18 bis 20 Jahren und haben im Durchschnitt 7,2 Kinder.[10]

Ultraorthodoxe Juden lehnen wie orthodoxe Juden generell eine inter-konfessionelle „Mischehe“ zwischen Juden und Nicht-Juden ab. Derartige Verbindungen seien gemäß jüdischem Recht (Halacha) verboten. Der ehemalige israelische Innenminister Arje Deri verurteilte es scharf, als Zeitungen berichteten, Jair Netanjahu, Sohn von Premier Benjamin Netanjahu, sei mit einer nichtjüdischen norwegischen Frau liiert.[11][12] Die von dem ultraorthodoxen Führer Shlomo Helbrans gegründete Sekte Lev Tahor steht im Verdacht, die Menschenrechte ihrer Mitglieder zu missachten, und wird mit Kindesmissbrauch in Zusammenhang gebracht.[13]

Sozialer Status[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Etwa 53 Prozent der ultraorthodoxen israelischen Juden lebten 2018 nach Zahlen des israelischen Zentralbüros für Statistik unter der Armutsgrenze. Gründe dafür sieht das Haredim-Institut für Öffentliche Angelegenheiten in der ultraorthodoxen Lebensweise, in der Geld und der wirtschaftliche Status einen eher geringen Stellenwert haben. Die Hauptgründe für das niedrige Pro-Kopf-Einkommen sind die verhältnismäßig niedrige Beschäftigungsrate, das religiös dominierte Bildungssystem, das junge Heiratsalter sowie die großen Familien.[14]

Wehrpflicht[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Charedische Frau beim Gebet an der Westmauer in Jerusalem

In den Anfangsjahren Israels wurden etwa 400 charedische Juden von der Wehrpflicht befreit. Seit den 1950er Jahren leisten nur sehr wenige charedische Männer den für Juden und Jüdinnen in Israel verpflichtenden Armeedienst. 2012 entschied das Oberste Gericht, dass die obligatorische Befreiung ultraorthodoxer Talmudschüler vom Militärdienst verfassungswidrig ist. Am 12. März 2014 beschloss die Knesset ein Gesetz, das den Umfang von in der Bevölkerung als ungerecht wahrgenommenen Ausnahmen und Aufschüben des Militärdienstes begrenzte. Dadurch stieg der Anteil ultraorthodoxer Juden, die Wehrdienst leisten, stark an. Für 2013 wurde ihre Zahl auf 60.000 bis 70.000 geschätzt.[15] 2017 gab es 2.848 Freistellungen und 27.440 Dienstaufschübe.[16]

Verhältnis zum Staat Israel[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Charedische Ehepaare in Jerusalem
Charedische Männer in der jüdischen Siedlung Beitar Illit
Jüdische Frau aus der Haredi Burqa Sekte mit Boschiya

In seiner Haltung zum Staat Israel ist das ultraorthodoxe Judentum, sowohl in Israel wie außerhalb, gespalten. Manche Gruppierungen lehnen den Staat Israel in seiner heutigen Form ab, da ihrer Ansicht nach nur der Messias einen jüdischen Staat wiedererrichten darf; hierzu gehören u. a. Neturei Karta und die in der Organisation Edah HaChareidis zusammengeschlossenen Gruppen. Andere beteiligen sich trotz ihrer Ablehnung des Zionismus aktiv an der israelischen Politik; Beispiele hierfür sind Agudat Jisra’el und Degel haTora als Vertretung ultraorthodoxer Aschkenasim. Eine dritte Gruppe, besonders sephardische Juden, die von der Partei Schas vertreten werden, befürwortet den Zionismus, lehnt aber einen säkularen Staat ab.

In Israel haben ultraorthodoxe Gruppierungen und Parteien, sowohl zionistische wie nichtzionistische, seit der Staatsgründung einen bedeutenden politischen Einfluss, da ohne ihre Unterstützung oft keine Regierungsmehrheiten zustande kommen.[17] Einen ebenfalls großen Einfluss auf die israelische Gesellschaft übt das Oberrabbinat aus, dem zwei Oberrabbiner, ein aschkenasischer und ein sephardischer, vorstehen.

Die Einhaltung des Sabbats[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Charedim in Bnei Berak, Israel (Besuch des US-Botschafters Daniel Shapiro)

Für ultraorthodoxe Juden (wie für alle orthodoxen Juden) ist der Sabbat eines der wichtigsten Ereignisse. Die Einhaltung des Sabbats ist so wichtig, dass gesagt wird: „Der Sabbat wiegt alle Gebote auf, wer den Sabbat vorschriftsmäßig hält, hat damit gleichsam die ganze Thora anerkannt; und wer ihn entweiht, ist, als ob er die ganze Thora abgeleugnet hätte.“[18] Dabei sind insbesondere die Sabbat-Regeln von besonderer Bedeutung. Am Sabbat gibt es 39 verbotene Hauptarbeiten (alles planvolle zielgerichtete Tun, das mit dem Werktag verbunden ist, fällt unter dieses Verbot).[19] Eine Ausnahme ist zum Beispiel, wenn ein Menschenleben gefährdet ist. Um diese Regeln einhalten zu können, ohne auf Annehmlichkeiten verzichten zu müssen, werden gewisse Hilfsmittel erdacht, welche die Regeln nicht verletzen: Für diese Fälle gibt es Erleichterungen, etwa spezielle, auf „indirekter Verursachung“ (aramäisch Grama genannt) basierende Lichtschalter.[20]

Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Dokumentationsfilm[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Commons: Ultraorthodoxes Judentum – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

  1. Isabel Kershner: Israel’s Ultra-Orthodox Protest Schools Ruling. In: The New York Times. 17. Juni 2010
  2. Nathaniel Deutsch: The Forbidden Fork, the Cell Phone Holocaust, and Other Haredi Encounters with Technology. In: Contemporary Jewry. Jg. 29 (2009), Heft 1, S. 3–19 (DOI:10.1007/s12397-008-9002-7).
  3. „Majority of Jews will be Ultra-Orthodox by 2050“. Website der University of Manchester. 23. Juli 2007 (englisch)
  4. Britain’s Jewish population on the rise. In: The Daily Telegraph. 20. Mai 2008
  5. Eva Lell: Geschlechter-Streit. ard-telaviv.de, 16. August 2019, archiviert vom Original am 1. September 2019; abgerufen am 9. November 2023.
  6. Daniela Segenreich: «Ich kann nicht zurück in die Sklaverei». Jahr für Jahr verlieren die ultrareligiösen Gemeinden in Israel mehr Mitglieder – schuld daran ist vor allem das Internet. In: Neue Zürcher Zeitung vom 26. Juli 2016, S. 35.
  7. Dan Ephron: Israel’s Ultra-Orthodox Problem. In: The Daily Beast. 2. Januar 2012, archiviert vom Original am 2. Januar 2012; abgerufen am 9. November 2018 (englisch).
  8. Mareike Enghuser: Koscher gründen. Jüdische Allgemeine, 6. März 2017
  9. Lee Cahaner & Gilad Malach: Employment. idi.org.il, 31. Dezember 2022, abgerufen am 9. November 2023 (englisch).
  10. Steffi Hentschke: Um Gottes willen. In: Zeit Online. 10. September 2020, abgerufen am 11. September 2020.
  11. Streit-ueber-Jair-Netanjahus-Freundin. In: TAZ. Abgerufen am 8. Juni 2022.
  12. Thorsten Schmitz: Netanjahus Junior ist brisant verliebt. Süddeutsche Zeitung, 29. Januar 2014, abgerufen am 9. November 2023.
  13. Peter Münch: So unerbittlich wie die Taliban. Süddeutsche Zeitung, 11. Oktober 2011, abgerufen am 9. November 2023.
  14. Haredim trotz hoher Armutsquoten sehr zufrieden. In: Israelnetz.de. 20. Dezember 2018, abgerufen am 13. Januar 2019.
  15. Ultraorthodoxe Demonstranten legen Jerusalem lahm. handelsblatt.com, 2. März 2014, archiviert vom Original am 24. September 2015; abgerufen am 9. November 2023.
  16. Zahl der Haredim in der Armee stark gestiegen. In: Israelnetz.de. 5. Dezember 2018, abgerufen am 28. Dezember 2018.
  17. Peter Lintl: Die Ultraorthodoxen, die Armee und warum sich nichts ändern wird. In: fokus-nahost.de
  18. Schulchan Aruch, 404.
  19. Religiöse Grundlagen: Sabbat auf der Webseite „Jüdische Geschichte und Kultur“ des Lessing-Gymnasiums in Döbeln, abgerufen am 5. September 2016.
  20. Am siebten Tage: Helfer in der Not: Rabbiner Halperin erfindet in Jerusalem schabbattaugliche Technik, Jüdische Allgemeine vom 6. September 2007, abgerufen am 20. November 2017.