Einzelpsychologie

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Der Begriff Einzelpsychologie wurde von Sigmund Freud in seiner 1939 erschienenen Schrift „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ verwendet.[1][2](a) Der Terminus „Einzelpsychologie“ wird hier gebraucht, um auf bestimmte Auffälligkeiten der jüdischen Religionsgeschichte hinzuweisen. Freud erläutert sie anhand der Massenpsychologie als einer für eine bestimmte Kultur oder ein bestimmtes Kollektiv spezifischen Wissenschaft.[3] Im Gegensatz dazu bedeutet Einzelpsychologie die Untersuchung der einzelnen Person, isoliert und für sich genommenen, ja eines „geradezu hermetisch abgeschlossenen individuellen Seelenlebens“, unabhängig von allen Erkenntnissen der Massenpsychologie.[4] Diese Unterscheidung ist bis heute gültig. Als synonym werden auch heute Bezeichnungen wie ›Einpersonenpsychologie‹ verwendet.[5](a) Allgemeiner kann auch von einer Psychologie geschlossener Systeme, also von einer Psychologie der Einpersonenbeziehung, Zweipersonenbeziehung (Dyade), Drei- und Mehrpersonenbeziehung gesprochen werden.[6]

Sinnzusammenhang des Begriffs Einzelpsychologie in den Freudschen Schriften

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Für den Autor der Schrift „Der Mann Moses“ stellt sich die Frage, ob analoge Entsprechungen für die darin thematisierten Besonderheiten der geschichtlichen jüdischen Überlieferung, nämlich des von Freud erkannten Phänomens einer frühen geschichtlichen Latenz, in der Psychologie des Einzelnen feststellbar sind. Als solche Latenz in der jüdischen Geschichte und Überlieferung betrachtet Freud die längere Zeitdauer, während der sich die mosaischen Lehren letztlich durchsetzten.[2](b) Für Freud stellte sich die Frage, weil seine Erkenntnisse in der Massenpsychologie für ihn ein relativ neues Gebiet darstellten.[3] Die massenpsychologische Bestätigung angesprochener einzelpsychologischer Phänomene der Latenz stellte für ihn einen weiteren Nachweis für die Gültigkeit seiner Religionstheorie dar und sollte ihr somit zu größerer Glaubwürdigkeit verhelfen. Freud hatte sich von Anfang seiner psychologischen Untersuchungen an mit Einzelfallstudien befasst. Solche frühe Schriften stellten etwa seine Falldarstellungen über Hysterie dar.[7] Erst im Laufe der Jahre konnte er durch die Auswertung dieser Fälle von neurotischen Störungen seine psychoanalytische Theorie erweitern, sie insbesondere auf gesellschaftliche und universalgeschichtliche Tatbestände ausbreiten und somit verallgemeinern. Im speziellen Falle der Latenz verfolgte Freud den umgekehrten Weg, indem er von sozialpsychologischen Tatsachen ausgehend entsprechende Fragen auf dem Gebiet der Einzelpsychologie stellte.

Zur Methode des Analogiebeweises

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Nicht nur angestoßen durch Fragen der Entwicklung psychischer Störungen, sondern auch durch die Beschäftigung mit seelischen Strukturen hatte sich Freud mit prägenden Einflüssen durch Erziehung, Gesellschaft und Kultur befasst. Dabei fanden sich Parallelen zwischen individueller Lebensgeschichte und menschlicher Universalgeschichte. Diese Analogien waren auch für Ernst Häckel (1834–1919) auffällig und kamen in seiner Lehre der Phylogenie zum Ausdruck. Aufnahme fanden diese Anschauungen auch bei Stanley Hall (1844–1924). Er formulierte das psychogenetische Grundgesetz in Anlehnung an Häckels und Darwins Lehre. Auch Freud bediente sich dieser Methode. Er hatte sich dabei immer häufiger auch mit der Frühgeschichte der Menschheit befasst, so etwa in seiner Schrift Totem und Tabu.[8] Bereits Carl Gustav Jung (1875–1961) hat in seiner 1916 erschienenen Schrift „La Structure de l'Inconscient“ (Die Struktur des Unbewußten) die Kollektivpsyche als den älteren Anteil seelischer Funktionen vom persönlichen Unbewussten als dem neueren Anteil abgegrenzt. Da die Inhalte der Kollektivpsyche ebenso bewusst sein können, ist die Überwindung der unbewussten participation mystique Aufgabe einer jeden Individuation.[9]

Abgrenzung vom Begriff der Individualpsychologie nach Alfred Adler

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Die Verwechslung mit dem Begriff der Individualpsychologie nach Alfred Adler liegt nahe. Dazu muss jedoch auf die einschlägige Literatur verwiesen werden. Die Bezeichnung „Individualpsychologie“ geht auf eine Verkürzung der Bezeichnung für diese von Adler gewählte Richtung der Psychologie zurück. Sie nannte sich ursprünglich „Vergleichende Individualpsychologie und Psychotherapie“ und meinte damit gerade nicht eine Beschränkung auf die Untersuchung der einzelnen, isoliert genommenen Person (→ Elementenpsychologie). Adler grenzte sich damit u. a. von den Dispositionspsychologen ab, die das individuelle Verhalten aus inneren Veranlagungen heraus erklären. Er betonte mit seiner „Positionspsychologie“ die Bedeutung des sozialen Feldes (→ Feldpsychologie, Gemeinschaftsgefühl) und unterstrich die unterschiedlichen Arten der theoretischen und praktischen Bezugnahme auf eher feste existentielle Bedingungen wie auf das Erbmaterial und die Erblehre oder die Verwendung von Besitz einerseits und die dabei verfolgten inneren Zielsetzungen andererseits. Damit vertrat Adler eher holistische Prinzipien, die auf notwendige Bezüge von Soma und Psyche und deren Konsequenzen in der persönlichen Verantwortlichkeit hinweisen.[10][11] Freund verwendete den Begriff Individualpsychologie selbst als synonyme Bezeichnung für die Einzelpsychologie ungeachtet seiner sich seit 1911 entwickelnden Differenzen mit Adler.[4][2](c)

Kritik an der orthodoxen Psychoanalyse und neue Felder der Wirksamkeit

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Die von Freud vertretene Psychoanalyse hat nicht nur den Blick auf kulturspezifische psychische Faktoren der individuellen Entwicklung geöffnet, sondern auch auf die Bedeutung frühkindlicher Gesetzmäßigkeiten bei der Sozialisation hingewiesen. Freud bezeichnete die durch familiäre Gruppenbeziehung bestimmten Faktoren als infantile Sexualität. Von besonderer Bedeutung war für Freud die frühe Mutter-Kind-Dyade sowie die spätere ödipale Konstellation. Psychopathologische Erscheinungen werden jedoch von der orthodoxen Psychoanalyse als intrapsychische Konflikte aufgefasst. Diese Konflikte verweisen nach strenger Freudscher Auffassung nur auf interpsychische Auffälligkeiten der Familiensoziologie, sind jedoch nicht mit ihnen gleichzusetzen oder gar für sie als ursächlich im Sinne einer einlinigen Kausalität anzusehen. Die psychoanalytisch orientierte Familientherapie hat daher Anregungen nur von solchen Theoretikern erfahren, die das interpersonelle Geschehen wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt haben.[12] Der Fall von Daniel Paul Schreber war hier von Bedeutung und gab zu unterschiedlicher Interpretation Anlass. Gilles Deleuze und Félix Guattari übten Kritik an dem einseitigen Familialismus, wie er nach ihrer Auffassung von Freud vertreten wurde, ohne die gesellschaftlichen Aspekte genügend zu würdigen.[13] Industrialisierung und Kapitalismus haben in der Tat die Geschichte der Psychiatrie im 19. Jahrhundert und insbesondere die Anstaltspsychiatrie entscheidend geprägt. Alfred Adlers Kritik an der Freudschen Theorie erlebte erst ab ca. 1980 in der Bundesrepublik, aber nicht nur hier, eine „Renaissance“.[4] Mit dem von Michael Balint 1959 geprägten Begriffspaar des Philobaten und des Oknophilen wurden Persönlichkeitstypen bezeichnet, bei denen die vielfältigen eingangs genannten geschlossenen psychologischen Bezugssysteme näher umrissen wurden, die auch Adlers vielseitigen Konzepten der Individualpsychologie nahestehen.[5](b)

Einzelnachweise

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  1. Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. [1939] Philipp Reclam jun., Stuttgart 2010; ISBN 978-3-15-018721-0; S. 92*16 (Seitenzahl*Zeilenzahl) zu Stw. „Einzelpsychologie“
  2. a b c Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. [1939] In: Gesammelte Werke, Bd. XVI, „Werke aus den Jahren 1932–1939“, Fischer Taschenbuch, Frankfurt / M 1999, ISBN 3-596-50300-0;
    (a) S. 177 zu Stw. „Einzelpsychologie“;
    (b) S. 170 ff. zu Stw. „›Latenzzeit‹ (als einzelpsychologische Metapher) in der jüdischen Religionsgeschichte“;
    (c) S. 207 zu Stw. „Synonymer Gebrauch des Begriffs ›Individualpsychologie‹ zusammen mit dem der ›Einzelpsychologie‹ durch Freud ungeachtet seiner Differenzen mit Alfred Adler“.
  3. a b Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. [1921] In: Gesammelte Werke, Band XIII, „Jenseits des Lustprinzips – Massenpsychologie und Ich-Analyse – Das Ich und das Es“ (1920–1924), Fischer Taschenbuch, Frankfurt / M 1999, ISBN 3-596-50300-0; S. 71 ff.
  4. a b c Willy Köhler: Eine fröhliche Wissenschaft. Buchbesprechung des ›Wörterbuch für Individualpsychologie‹. FAZ vom 6. Juni 1986.
  5. a b Wolfgang Loch: Zur Theorie, Technik und Therapie der Psychoanalyse. S. Fischer Conditio humana (hrsg. von Thure von Uexküll & Ilse Grubrich-Simitis 1972, ISBN 3-10-844801-3:
    (a) S. 246 zu Stw. „Einpersonenpsychologie“;
    (b) S. 223 ff. zu Stw. „Michael Balints Studien der frühen Objektbeziehungen“.
  6. M. Gitelson: The Curative Factors in Psycho-Analysis. Kap. I. The First Phase of Psychoanalysis, Int. J. Psycho-Anal., 43, (1962) S. 204 zu Stw. „geschlossene Systeme“.
  7. Sigmund Freud: Krankengeschichten. [1892] In: Gesammelte Werke, Band I, „Studien über Hysterie. Frühe Schriften zur Neurosenlehre“, Fischer Taschenbuch, Frankfurt / M 1999, ISBN 3-596-50300-0; S. 99–251 zu Stw. „Falldarstellungen über Hysterie“.
  8. Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker [1912/1913]. Gesammelte Werke in Einzelbänden, Band IX, S. Fischer-Verlag, 3. Auflage, 1952
  9. Carl Gustav Jung: Zwei Schriften über Analytische Psychologie. Gesammelte Werke. Walter-Verlag, Düsseldorf 1995, Paperback, Sonderausgabe, Band 7, ISBN 3-530-40082-3; S. 275 ff., § 442 ff.
  10. Reinhard Brunner (Hrsg.) u. a.: Wörterbuch der Individualpsychologie. Ernst Reinhard München 1985, ISBN 3-497-01100-2; Wb.-Lemma „Individualpsychologie“: S. 216 f.
  11. Paul Rom: Alfred Adler und die wissenschaftliche Menschenkenntnis. Waldemar Kramer Verlag, Frankfurt am Main 1966; S. 63.
  12. Dieter H. Frießem (Hrsg.): Kritische Stichwörter zur Sozialpsychiatrie. Wilhelm Fink, München, 1979, ISBN 3-7705-1689-3; S. 303 zu Stw. „Familientherapie“.
  13. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie. Bd. I, Suhrkamp, Frankfurt, 1977, stw 224, ISBN 978-3-518-27824-6; S. 16 zu Stw. „Wunschproduktion und gesellschaftliche Produktion“.