Gehen, ging, gegangen

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Gehen, ging, gegangen ist ein Roman von Jenny Erpenbeck über die Flüchtlingskrise 2015, der 2015 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und 2018 in englischer Übersetzung auf der Longlist zum Man Booker International Prize (GB) stand.

Inhalt

Richard, als Altsprachen-Professor kürzlich emeritiert, lebt allein. Seine Frau ist vor fünf Jahren gestorben, seine jüngere Geliebte hat ihn verlassen. Er kann gut von seiner Pension leben, bewohnt ein Haus in der Nähe von Berlin, das er nach der Wende gekauft hat. In dem See, an den das Grundstück grenzt, ist im Sommer jemand ertrunken.

Auf dem Alexanderplatz treten zehn männliche Flüchtlinge aus afrikanischen Ländern in einen Hungerstreik. Sie weigern sich, ihre Namen zu nennen. Durch einen Bericht in den Abendnachrichten wird Richard auf die Problematik aufmerksam und beginnt, sich über die Situation der Protestierenden zu informieren. Er erkennt, dass sie, ähnlich wie er, unter dem Arbeitsverbot leiden. Durch die Untätigkeit sind auch sie gezwungen, sich ausschließlich mit sich selbst und ihren oft sehr schmerzlichen Erinnerungen zu beschäftigen. Er beschließt, darüber eine Recherche zu machen, und beginnt, Gespräche mit ihnen zu führen. Er trifft sie zunächst auf dem Oranienplatz, wo sie über zwei Jahre hinweg ein Protestcamp errichtet hatten, um auf die Mängel der europäischen Asylpolitik aufmerksam zu machen. Im Zuge einer „Vereinbarung“ mit dem Berliner Senat werden sie bald darauf in verschiedenen Unterkünften (im Roman „Heim“ genannt) untergebracht, um wenige Monate später, nach „Prüfung der Einzelfälle“, wieder nach Italien, ihr Erstaufnahmeland, zurückgewiesen zu werden. Dort hatten sie aber bereits, bevor sie nach Deutschland kamen, vergeblich versucht, Arbeit zu finden.

Richard begleitet die Flüchtlinge mit seinen Recherchen ungefähr ein Jahr durch diese verschiedenen Phasen hindurch. In seinen Aufzeichnungen bezeichnet er anfangs einige der Männer mit Namen aus der griechischen und deutschen Mythologie („Apoll“, „Tristan“), die ihm durch seinen Beruf vertrauter klingen als deren afrikanische Namen, die anderen nennt er später bei ihren bürgerlichen Vornamen („Ali“, „Karon“, „Osarobo“, „Rashid“, „Rufu“). Richard wird im Zuge der Gespräche, die er mit den afrikanischen Männern führt, in deren Alltag verwickelt, begleitet sie zu Terminen bei Anwälten und zu Sprachkursen, übersetzt amtliche Schreiben für sie, beschafft ihnen kleine Jobs, erteilt ihnen selbst Deutschunterricht. Einem bringt er die Anfangsgründe des Klavierspiels bei, einen anderen lädt er zu Weihnachten zu sich nach Haus ein.

Während er so mehr und mehr über das Leben der afrikanischen Männer erfährt, informiert er sich parallel dazu durch Lektüre und Internetrecherche über geografische und politische Hintergründe und Fluchtursachen in deren westafrikanischen Herkunftsländern.

Schließlich wird er selbst politisch aktiv, so meldet er zum ersten Mal in seinem Leben eine Demonstration an, erlebt Räumungen und Konflikte der Flüchtlinge mit Behörden und mit der Berliner Polizei. Um der Familie eines Ghanaers das Überleben in Ghana zu ermöglichen, kauft er für 3000 Euro ein Grundstück in Ghana. Ein Einbruch in sein Haus wird für ihn und seine Freunde zum Anlass, über ihre eigenen Vorurteile, über Vertrauen und Privatbesitz grundlegende Überlegungen anzustellen.

Nachdem die meisten der Oranienplatz-Aktivisten, mit denen Richard in Kontakt ist, auf die Straße gesetzt wurden, nehmen er und seine Freunde in ihrem bürgerlichen Umfeld einige der Flüchtlinge bei sich zu Hause auf oder geben ihnen in Büros und Ladenlokalen zumindest einen Schlafplatz.

Am Ende des Romans, als Richard die Afrikaner zu seiner Geburtstagsparty in den Garten einlädt, kommt zum ersten Mal die ihnen allen gemeinsame Einsamkeit zur Sprache. Während die jungen Männer sich an die Zeit in ihrem Leben erinnern, als sie noch in einen Familienalltag und liebevolle Beziehungen eingebunden waren, erzählt der verwitwete Richard in aller Offenheit von Fehlern, die er während seiner Ehe gemacht hat. „Damals (…) ist mir klargeworden, dass das, was ich aushalte, nur die Oberfläche von all dem ist, was ich nicht aushalte.“ Die geflüchteten Männer verstehen ihn – denn so ging es ihnen auch bei der Überfahrt von Libyen nach Europa: Auf leichten Booten haben sie sich gerettet, die Angst vor dem tiefen, unergründlichen Meer aber blieb die ganze Zeit über gegenwärtig.

Übersicht und Inhalt der Kapitel

Ausgaben

Rezensionen (Auswahl)

Literaturwissenschaftliche Beiträge

  • Claudia Franziska Brühwiler: Flucht – Grenzgang – Ankunft. Politische Theorie zwischen Literatur, Philosophie und Sozialwissenschaft. In: Michael G. Festl, Philipp Schweighauser (Hrsg.): Literatur und Politische Philosophie. Subjektivität, Fremdheit, Demokratie. Wilhelm Fink Verlag, 2018, S. 199–214.
  • Maria Behre: „GIVE US A PLACE“ – Politischwerden auf dem Oranienplatz. Jenny Erpenbecks Roman „Gehen, ging, gegangen“ (2015), gelesen mit Hannah Arendts politischer Philosophie. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik. Jahrgang 39, Heft 1: Hannah Arendt. Siebert-Verlag, 2017, ISSN 0945-6295, S. 58–65.
  • Alexandra Ludewig: Jenny Erpenbecks Roman 'Gehen, Ging, Gegangen' (2015). Eine zeitlose Odyssee und zeitspezifische unerhörte Begebenheit In: Thomas Hardtke, Johannes Kleine, Charlton Payne (Hrsg.): Niemandsbuchten und Schutzbefohlene. Flucht-Räume und Flüchtlingsfiguren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Paderborn 2017, ISBN 978-3-8471-0681-4, S. 269–285. (vandenhoeck-ruprecht-verlage.com)
  • Sophie Salvo: The Ambivalent Didacticism of Jenny Erpenbeck’s 'Gehen, Ging, Gegangen'. In: The Germanic Review. Band 94, 2019, S. 345–362. doi:10.1080/00168890.2019.1659225
  • Monika Shafi: Nobody Loves a Refugee: The Lessons of Jenny Erpenbeck’s Novel 'Gehen, ging, gegangen'. In: Gegenwartsliteratur. Band 16, 2017, S. 185–208.
  • Brangwen Stone: Trauma, Postmemory, and Empathy: The Migrant Crisis and the German Past in Jenny Erpenbeck’s 'Gehen, ging, gegangen'. In: Humanities. 6/88, 2017, S. 57–68. doi:10.3390/h6040088
  • Christiane Lubkoll: Flucht und Vertreibung als Fokus politischer Reflexion. Neue Bestimmungen von 'Exilliteratur' in der Gegenwart (Ulrike Draesner, Jenny Erpenbeck, Abbas Khider). In: Christiane Lubkoll, Manuel Illi, Anna Hampel (Hrsg.): Politische Literatur. Begriffe, Debatten, Aktualität. Stuttgart 2018, S. 283–306. doi:10.1007/978-3-476-04773-1

Zur Rezeption

„Dass Erpenbecks Buch trotz Favoritenrolle nicht den Deutschen Buchpreis zugesprochen bekam, ist auch der Scheu der Jury zuzuschreiben, ein solch kontrovers diskutiertes Thema für eine Saison in den Mittelpunkt des literarischen Lebens zu stellen“, so die Einschätzung von Andreas Platthaus in der Frankfurter Allgemeinen.[1]

Einzelnachweise

  1. Andreas Platthaus: Seid politisch! Und sie kann es doch: Wie Literatur die Welt verbessert. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 19. Oktober 2015, S. 9.