Ariel (Lyrik)

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Cover der deutschsprachigen Erstausgabe des Suhrkamp Verlages

Ariel ist der Titel des zweiten veröffentlichten Gedichtbandes der amerikanischen Lyrikerin Sylvia Plath sowie der Name des titelgebenden Gedichts. Die Gedichte aus Ariel entstanden überwiegend 1962 und 1963 im letzten Jahr vor Plaths Suizid und wurden 1965 postum von ihrem Witwer Ted Hughes herausgegeben. Sie gelten als das literarische Hauptwerk Sylvia Plaths. Die von Erich Fried zusammen mit Carla Wartenberg übersetzte deutsche Ausgabe wurde 1974 von Suhrkamp publiziert.[1] 2008 erschien die von Alissa Walser übersetzte deutsche Erstausgabe der Urfassung ebenfalls bei Suhrkamp.

Zusammenstellungen

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Cover der deutschsprachigen Erstausgabe der Urfassung von 2008

Die Gedichtsammlung Ariel existiert in mehreren Ausgaben. Die ursprünglich von Sylvia Plath geplante Zusammenstellung wurde erst 2004 unter dem Titel Ariel: The Restored Edition publiziert. Ihr Ehemann Ted Hughes gab 1965 bei Faber & Faber eine abweichende Zusammenstellung heraus, zu der er 1981 nachträglich bekannte: „Der schließlich 1965 veröffentlichte Ariel war ein etwas anderer Band, als jener, den sie geplant hatte. Er berücksichtigte die meisten der ungefähr ein Dutzend Gedichte, die sie 1963 geschrieben hatte, obwohl sie diese neuen Stücke selbst, in der Erkenntnis, dass sie einer unterschiedlichen Inspiration entsprangen, als Anfänge eines dritten Buches betrachtete. Es entfielen einige der persönlicheren, aggressiveren Gedichte von 1962, und es wären noch ein oder zwei weitere weggelassen worden, hätte sie diese nicht selbst bereits in Zeitschriften veröffentlicht, so dass sie 1965 weithin bekannt waren.“[2]

Eine 1966 von Harper & Row in den Vereinigten Staaten publizierte Version nahm drei weitere Gedichte auf und beinhaltete 43 Gedichte. Die 1974 bei Suhrkamp erschienene deutsche Fassung folgte der britischen Erstausgabe. Parallel zu dieser Ausgabe veröffentlichte Suhrkamp 2008 eine Neuübersetzung durch Alissa Walser, die der restaurierten Urfassung von 2004 folgte.

Erst 1981, mit Herausgabe der gesammelten Gedichte Sylvia Plaths in The Collected Poems, wurde der Öffentlichkeit in einem Anhang die ursprünglich von der Autorin geplante Zusammenstellung von Ariel bekannt. Ted Hughes, durch den von Eifersucht bestimmten Inhalt der letzten Werke Plaths zu diesem Zeitpunkt ohnehin bereits von vielen ihrer Anhänger stigmatisiert, wurde im Folgenden für seine Veränderungen hart kritisiert. Die amerikanische Literaturkritikerin Marjorie Perloff wies 1984 in ihrem in American Poetry Review erschienenen Essay The Two Ariels: The (Re)Making of the Sylvia Plath Canon[3] nach, dass die ursprünglich geplante Zusammenstellung einen klaren erzählerischen Aufbau gehabt hätte, der mit der Geburt von Plaths Tochter Frieda (in Morning Song) beginnen sollte, ihrer Verzweiflung über die Untreue ihres Ehemanns gefolgt wäre, ehe er in einem rituellen Tod und mit dem Motiv der Wiedergeburt in den Bienengedichten enden sollte. Die von Ted Hughes zusammengestellte Fassung ende dagegen in einer Hinwendung zum Tod.[4]

Auch Sylvia Plaths Tochter Frieda Hughes betonte im Vorwort der Urfassung, dass der Band nach Plaths Planung mit dem Wort „Liebe“ beginnen und mit „Frühling“ enden sollte. Sie billigte allerdings auch die Auswahl ihres Vaters, die seiner Absicht entsprang, aus dem hinterbliebenen Material „das bestmögliche Buch“ zu machen, in dem auch die letzten Arbeiten von 1963 noch Eingang finden sollten. Ihr Fazit zu den unterschiedlichen Versionen war: „Jede Ausgabe hat ihre eigene Bedeutung, auch wenn ihre Geschichten eine einzige sind.“[5]

In der tabellarischen Gegenüberstellung der verschiedenen Ausgaben finden sich unter „Plan“ Sylvia Plaths geplante und 2004 restaurierte Ausgabe, die britische Ausgabe von 1965, der die deutsche Ausgabe von 1974 folgte, und die US-Ausgabe von 1966. Weiterhin sind die Originaltitel, die deutschen Titel in der Übersetzung von Erich Fried und Alissa Walser sowie die Entstehungsdaten[6] angegeben. Die Gedichte lassen sich per Mausklick auf den Spaltenkopf nach den unterschiedlichen Ausgaben, ihren Titeln und dem Datum ihrer Niederschrift sortieren.

Plan GB 65 US 66 Originaltitel Deutscher Titel
(Fried 1974)
Deutscher Titel
(Walser 2008)
Entstehungsdatum
1 1 1 Morning Song Morgenlied Morgenlied 19. Feb. 1961
2 2 2 The Couriers Die Kuriere Die Kuriere 4. Nov. 1962
3 The Rabbit Catcher Der Hasenfänger 21. Mai 1962
4 Thalidomide Contergan 8. Nov. 1962
5 4 4 The Applicant Der Bewerber Der Kandidat 11. Okt. 1962
6 Barren Woman Unfruchtbare Frau 21. Feb. 1961
7 5 5 Lady Lazarus Madame Lazarus Lady Lazarus 23. –29. Oktober 1962
8 6 6 Tulips Tulpen Tulpen 18. März 1961
9 A Secret Ein Geheimnis 10. Okt. 1962
10 The Jailer Der Schließer 17. Okt. 1962
11 7 7 Cut Geschnitten Schnitt 24. Okt. 1962
12 8 8 Elm Ulme Ulme 19. Apr. 1962
13 9 9 The Night Dances Die Nachttänze Die Nacht tanzt 6. Nov. 1962
14 The Detective Der Detektiv 1. Okt. 1962
15 12 12 Ariel Ariel Ariel 27. Okt. 1962
16 13 13 Death & Co. Tod & Co. Tod & Co. 14. Nov. 1962
17 Magi Die drei Weisen 1960
18 14 Lesbos Lesbos 18. Okt. 1962
19 The Other Die Andere 2. Juli 1962
20 Stopped Dead Plötzlicher Tod 19. Okt. 1962
21 10 10 Poppies in October Mohnblumen im Oktober Mohn im Oktober 27. Okt. 1962
22 The Courage of Shutting-Up Der Mut, den Mund zu halten 2. Okt. 1962
23 14 15 Nick and the Candlestick Nick und der Kerzenleuchter Nick und der Kerzenständer 29. Okt. 1962
24 11 11 Berck-Plage Berck-Plage Berck-Plage 30. Juni 1962
25 15 16 Gulliver Gulliver Gulliver 6. Nov. 1962
26 16 17 Getting There Hinkommen Anreise 6. Nov. 1962
27 17 18 Medusa Medusa Medusa 16. Okt. 1962
28 Purdah Parda 29. Okt. 1962
29 18 19 The Moon and the Yew Tree Der Mond und der Eibenbaum Der Mond und die Eibe 22. Okt. 1961
30 19 20 A Birthday Present Ein Geburtstagsgeschenk Ein Geburtstagsgeschenk 2. Okt. 1962
31 20 22 Letter in November Brief im November Brief im November 11. Nov. 1962
32 Amnesiac Amnesisch 21. Okt. 1962
33 21 23 The Rival Der Rivale Die Rivalin Juli 1961
34 22 24 Daddy Papi Daddy 12. Okt. 1962
35 23 25 You’re Du bist Du bist Januar / Februar 1961
36 24 26 Fever 103° 39,5° Fieber 39,4° Fieber 20. Okt. 1962
37 25 27 The Bee Meeting Das Bienentreffen Das Bienenmeeting 3. Okt. 1962
38 26 28 The Arrival of the Bee Box Die Ankunft der Bienenkiste Die Ankunft der Bienenkiste 4. Okt. 1962
39 27 29 Stings Stiche Stiche 6. Okt. 1962
[7] 30 The Swarm 7. Okt. 1962
40 28 31 Wintering Überwintern Überwintern 9. Okt. 1962
3 3 Sheep in Fog Schaf im Nebel 2. Dez. 1962 / 28. Jan. 1963
21 Mary’s Song 19. Nov. 1962
29 32 The Hanging Man Der Erhängte 27. Juni 1960
30 33 Little Fugue Kleine Fuge 2. Apr. 1962
31 34 Years Jahre 16. Nov. 1962
32 35 The Munich Mannequins Die Münchner Mannequins 28. Jan. 1963
33 36 Totem Totem 28. Jan. 1963
34 37 Paralytic Paralytik 29. Jan. 1963
35 38 Balloons Ballons 5. Feb. 1963
36 39 Poppies in July Mohnblumen im Juli 20. Juli 1962
37 40 Kindness Milde 1. Feb. 1963
38 41 Contusion Quetschung 4. Feb. 1963
39 42 Edge Rand 5. Feb. 1963
40 43 Words Worte 1. Feb. 1963

Gedichte (Auswahl)

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Laut Elisabeth Bronfen bewegt sich Sylvia Plaths Lyrik in drei großen Themenbereichen: In der Naturerfahrung wird die Fremdheit und Andersartigkeit der Natur spürbar. Die Thematik der Verwandlung des Ichs ist gespalten zwischen der Sehnsucht nach Auslöschung, Transformation und Erneuerung. Die Familienbilder kreisen zumeist um die Figur des Vaters und das Trauma des frühen Verlusts.[8]

In Ariel, dem Titelgedicht, wird der Ritt auf einem Pferd zur Verwandlung der Reiterin. In der körperlichen Verausgabung und Aufgabe aller sozialen Identität („Abgestorbene Hände, tote Verbindlichkeiten“) verliert die Reiterin ihren Namen und wird zu Lady Godiva, verschmilzt mit dem Pferd („Wie eins wir werden“) und der Natur („eins mit dem Trieb“) und verwandelt sich in einen reinen, materielosen Flug, dem Morgen entgegen:

„Und ich
Bin der Pfeil,
Der Tau, der verfliegt“[9][10]

The Moon and the Yew Tree

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Die Natur von The Moon and the Yew Tree (Fried: Der Mond und der Eibenbaum, Walser: Der Mond und die Eibe) wandelt sich von einer nächtlichen Landschaft, der erst durch einen Betrachter Leben eingehaucht wird, in eine unpersönliche, fremde Welt. Fühlt das lyrische Ich sich zu Beginn als Schöpfer seiner Wahrnehmung („als wäre ich Gott“), erweist sich die Verlässlichkeit seiner Sinne bald als trügerisch („Ich kann einfach nicht sehen, wo es langgeht“). Die an die Silhouette eines Menschen erinnernde Eibe lenkt den Blick auf den ebenfalls personifizierten Mond („Er hat sein eignes Gesicht“). Dieser wird zum fremden Gegenüber. Noch erwartet der Betrachter eine menschliche Güte von der Natur („Wie gerne würde ich an Zärtlichkeit glauben“) und stellt sich den – im Englischen weiblichen – Mond als Mutter vor. Das lyrische Ich, das sich vorher noch als Schöpfer glaubte, nimmt eine demütige Haltung ein („So weit bin ich gefallen“). Doch der Mond gehorcht nicht den religiösen Erwartungen („Sie ist nicht lieb wie Maria“), die Welt erweist sich als blind gegenüber dem Betrachter, er erreicht sie mit seiner Vision nicht:

„Der Mond sieht davon nichts. Er ist nackt und wild.
Und die Botschaft der Eibe ist Schwärze – Schwärze und Schweigen.“[11][12]

In Fever 103° (Fried: 39,5° Fieber, Walser: 39,4° Fieber) wird die Glut eines Fiebers für eine Kranke zur Reinigung des Ichs von allen Sünden wie sozialen Bindungen. Die innere Erleuchtung führt zu einem gottgleichen Zustand:

„Zu rein bin ich für dich, für irgendeinen.
Dein Körper
Tut mir weh, wie die Welt Gott weh tut.“

Gleichzeitig ermöglicht die gefährliche Strahlung, Rache zu nehmen („Erstickt die Alten, die Sanftmütigen“) und dem Ehemann zu drohen, im Falle seiner Untreue wie „Hiroshima-Asche“ in ihn einzudringen. Am Ende legt die Fiebernde ihre abgetragenen Identitäten ab und steigt wie Maria Himmelfahrt auf:

„Ich denke, ich hebe ab
Ich denke, ich steige auf –
Bleitropfen flattern, und ich, Liebster, eine
Reine Acetylen-
Jungfrau“.[13][14]

In Lady Lazarus (Fried: Madame Lazarus) steht ein weiblicher Lazarus von den Toten auf. Sein Wunder wird zur öffentlichen Darbietung, sein Selbstmord zu einer Inszenierung, seiner künstlerischen Berufung:

„Sterben
Ist eine Kunst, wie alles andere auch.
Ich kann es besonders gut.“

Doch die Betrachtung ist nicht umsonst, sondern kostet „wirklich hohe Gebühren“. Lady Lazarus wandelt sich vom Opfer („Ich bin Ihr Werk / Ihr Wertgegenstand“) zum Täter, die Rache nimmt an den Herren, die sie zu beherrschen glauben:

„Gefahr.
Aus dieser Asche steig ich
Auf mit rotem Haar
Und esse Männer ganz und gar.“[15][16]

Daddy (Fried: Papi, er bezeichnete das Gedicht als „unübersetzbar“[17]) wird zur Abrechnung einer Tochter mit ihrem Vater. Sylvia Plath erklärte: „Das ist ein Gedicht, das von einem Mädchen mit einem Elektra-Komplex gesprochen wird. Ihr Vater starb, als sie dachte, er wäre Gott.“ Doch der Vater sei auch ein Nazi und die Mutter von jüdischer Abstammung. Beides stehe sich in der Vorstellung der Tochter gegenüber: „sie muß die furchtbare kleine Allegorie noch einmal durchspielen, bevor sie von ihr frei ist“.[18]

„Daddy, ich mußte dich töten.
Doch bevor ich dazu kam, starbst du“

Nachdem die Tochter die Ablösung von ihrem gottgleichen Vater verpasst hat, schafft sie ihn neu für einen nachträglichen Vatermord. Sie deutet ihn um zu einem Nazi-Schergen („Einen Mann in Schwarz mit Mein-Kampf-Gesicht“), die einstmalige Anbetung wird als Erniedrigung des Opfers verstanden („Pro Faschist eine Frau, die ihn verehrt, / Den Stiefel im Gesicht“). Nicht mehr der Tod des Vaters führt zum Abbruch der Kommunikation, sondern dessen deutsche Sprache, die den Klang der Deportationszüge annimmt. Erst durch eine Vampiraustreibung („In deinem fettschwarten Herzen steckt ein Pfahl“) sagt sich die Tochter endgültig von der Vergangenheit los: „Daddy, du Drecksack, jetzt hab ich genug.“[19][20]

Entstehungsgeschichte

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Obgleich sowohl in Sylvia Plaths geplanter Zusammenstellung von Ariel als auch in der Herausgabe durch Ted Hughes einige ältere Gedichte Aufnahme fanden, sah Hughes das Mitte April 1962 entstandene Elm als das „erste wahre Ariel-Gedicht“ an, in dem Plath zu der eigenen Stimme ihrer letzten Gedichte fand.[21] Die Mehrzahl der für Ariel geplanten Gedichte entstand im äußerst produktiven Oktober 1962. Sylvia Plaths Privatleben wurde zu dieser Zeit durch ihre Trennung von Ted Hughes dominiert, die ihren verbalen Niederschlag in Gedichten wie The Rival, The Jailer oder Purdah fand, die kaum verhüllt gegen ihren Ehemann und dessen Geliebte gerichtet waren. Auch andere Ereignisse aus Plaths Privatleben wurden literarisch verarbeitet: sommerliche Ausritte auf einem Pferd namens Ariel führten zum Titelgedicht, ihre Imkerei zu den Bienengedichten von The Bee Meeting bis Wintering,[22] ein Autounfall aus dem September 1962 wurde in Lady Lazarus zu einem Todeserlebnis überhöht.[23]

Über ihre Arbeitsbedingungen als alleinstehende Mutter schrieb Sylvia Plath am 18. Oktober in einem Brief, „daß ich jeden Morgen um 4 Uhr aufstehe und schreibe, bis die Kinder wach werden“.[24] Im Gegensatz zum oft in den Gedichten vermuteten impulsiven Ausbruch stehen die zahlreichen Überarbeitungen jedes einzelnen Gedichts. Die Entwürfe zu 67 Gedichten aus dieser Zeit füllen im Archiv des Smith College insgesamt sieben knapp 8 Zentimeter dicke Ordner.[25] Als Schreibpapier verwendete Sylvia Plath oft die Rückseiten früherer Werke, wobei sich thematische Einflüsse der Rückseiten auf die Gedichte nachweisen lassen, etwa von der Überarbeitung ihres Romans Die Glasglocke auf Elm[26] oder von Hughes Theaterstück The Awakening auf Berck-Plage.[27] Gegenüber Plaths früheren Gedichten zeichneten sich ihre neuen Arbeiten durch eine größere Freiheit in der Form sowie durch Plaths neu entdeckte Technik der Vokalisierung aus. In einem Interview beschrieb sie: „Die Klarheit, die diese neuen Gedichte vielleicht haben, rührt daher, daß ich sie mir selbst vorspreche, laut vorspreche.“[28]

Sylvia Plath konnte selbst einschätzen, wie weit sie die neuen Gedichte als Lyrikerin vorwärts brachten. Am 16. Oktober schrieb sie an ihre Mutter: „[…] ich bin eine geniale Schriftstellerin; ich habe es in mir. Ich schreibe jetzt die besten Gedichte meines Lebens; Sie werden mir einen Namen machen.“[29] Als sie Mitte November den Gedichtband zusammenstellte, nannte sie ihn zuerst: The Rival and Other Poems, später A Birthday Present, The Rabbit Catcher und Daddy, ehe sie ihm den endgültigen Namen Ariel verlieh.[30] Über die Meinung des befreundeten Kritikers Al Alvarez, der Gedichtband sollte „den Pulitzer-Preis gewinnen“, befand sie in einem Brief vom 14. Dezember 1962: „Natürlich wird er das nicht.“[31] Tatsächlich sollte nicht Ted Hughes Version von Ariel den Pulitzer-Preis gewinnen, sondern im Jahr 1982 Plaths lyrisches Gesamtwerk The Collected Poems, das auch die von Hughes ursprünglich gestrichenen Gedichte enthielt.

Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Ariel gab der Dichter Robert Lowell den Ton vor, der sich später durch viele Rezensionen zog. Er nannte Sylvia Plath eine der „großen klassischen Heroinen“ und fuhr fort: „Diese Gedichte spielen Russisches Roulette mit sechs Patronen im Zylinder. […] Alles in diesen Gedichten ist persönlich, bekenntnishaft, gefühlt, aber mit einem Gefühl von kontrollierter Halluzination, der Autobiografie eines Fiebers.“[32] George Steiner zog den autobiografischen Zusammenhang noch weiter: „Diese Gedichte gehen enorme Risiken ein […]. Sie sind ein bitterer Triumph, der Nachweis der Fähigkeit der Poesie, der Realität die größere Beständigkeit der Vorstellung zu verleihen. [Sylvia Plath] konnte von ihnen nicht wieder zurückkehren.“[33] Auch Al Alvarez spielte auf den Suizid der Dichterin an: „Auf eine merkwürdige Weise lesen sich die Gedichte, als ob sie posthum geschrieben worden wären. Es gehörte nicht nur große Intelligenz und Einsicht dazu, dieses Material zu bearbeiten, es bedurfte auch einer Form von Tapferkeit. Lyrik von diesem Grad ist eine mörderische Kunst.“[34]

Einen moralischen Einwand gegen Ariel erhob Irving Howe: „Das sind Gedichte, die aus einem extremen Zustand heraus geschrieben wurden, einem Bewusstseinszustand, in welchem die Sprecherin, im praktischen Sinne also Sylvia Plath selbst, die Wahrnehmung des Publikums hinter sich gelassen hat, und sich um niemand anderen mehr sorgt – sogar nicht einmal mehr von dessen Anwesenheit Kenntnis erlangt – als um sich selbst. Sie schreibt mit einer halluzinatorischen, abgeschotteten Inbrunst. […] Es liegt etwas zutiefst Monolithisches, Fixiertes in der Stimme, die in diesen Gedichten zum Vorschein kommt, einer unmodulierten und asozialen Stimme.“[35] Im Besonderen kritisierte Howe den „unzulässigen Holocaustvergleich“ in Plaths Gedicht Daddy als „etwas Ungeheuerliches, vollkommen Unangemessenes, wenn verworrene Gefühle zu seinem Vater bewusst in einen Vergleich mit dem historischen Schicksal der europäischen Juden gestellt werden“.[36] Obwohl Howe in den Gedichten keine Großartigkeit erkannte, kam er dennoch zum Schluss, dass sie bemerkenswert seien, da sie ein neues Element von Erfahrung in die Poesie eingeführt und damit die literarische Moderne ein kleines Stück vorangebracht hätten.[37]

Die kritische Aufnahme von Plaths letzten Gedichten war mehrheitlich positiv bis begeistert. In The Times Literary Supplement wurde Ariel als „eine der wundervollsten Gedichtsammlungen, die seit langem veröffentlicht wurden“ bezeichnet.[38] The Critical Quarterly urteilte über Sylvia Plaths letzte Gedichte: „Sie gehören zu der Handvoll von Schriften, aus denen künftige Generationen versuchen werden, uns kennenzulernen und zu benennen.“[39] Peter Dale, der Herausgeber des Lyrikmagazins Agenda, war überzeugt: „[Die Gedichte] werden ewig gelesen werden“.[40] Auch der kommerzielle Erfolg von Ariel war unerwartet groß. In den ersten zwei Jahrzehnten nach der Publikation betrug die Gesamtauflage bereits eine halbe Million Exemplare. Ariel wurde zu einer der meistverkauften Gedichtsammlungen des 20. Jahrhunderts.[41] Von der deutschen Ausgabe wurden bis 2008 27.000 Exemplare verkauft.[42] Über die Übersetzung von Erich Fried urteilte Werner Vordtriede, sie sei „eine diskrete Lesehilfe und oft überzeugend im Duktus“, doch gingen bei der wörtlichen Übertragung „Rhythmus, Witz und konzise Eleganz leicht verloren“.[43]

Die Neuausgabe der Ursprungsfassung durch den Suhrkamp Verlag wurde in den deutschsprachigen Feuilletons allgemein begrüßt. Marius Meller bezeichnete es als konsequent, dass Alissa Walser den kompletten Band neu übertragen hatte, da sich einzelne Gedichte nicht in den eigenwilligen Sprachstil der Nachdichtung Frieds eingefügt hätten.[44] Für Tobias Döring ermöglichte der Vergleich der Übersetzungen „den unschätzbaren Vorzug, […] den Prozess des Abwägens wie Nuancierens lyrischer Sprachgebung bewusst nachzuvollziehen.“[45] Werner von Koppenfels sah Alissa Walser gar „in lebhaftem Wettstreit mit Erich Frieds älterer Version.“ Während für ihn bei Walser „eine geschmeidigere Kolloquialität Einzug hält“, betonte er im Gegenzug, „wie viel gewandter Fried mit Klang und Rhythmus umzugehen weiss.“[46] Für Heinz Schlaffer kam „Walser von Fried nicht los, gerade weil sie penibel bemüht ist, die von Fried gefundenen Lösungen zu umgehen.“ Da ihr manches besser, manches schlechter gelinge, zog er das Fazit: „Gut also, dass es beide Bände gibt.“[47]

  • Sylvia Plath: Ariel. Übersetzt von Erich Fried. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-518-01380-7.
  • Sylvia Plath: Ariel. Übersetzt von Alissa Walser. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, ISBN 3-518-42023-2.
  • Sylvia Plath: Ariel. The Restored Edition. A Facsimile of Plath’s Manuscript. Herausgegeben von Frieda Hughes und David Semanki. Faber & Faber, London 2004, ISBN 0-571-23609-X (englisch).

Sekundärliteratur

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Einzelnachweise

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  1. Sylvia Plath: Ariel. In: Bibliothek Suhrkamp. Band 380. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974, S. 176.
  2. “The Ariel eventually published in 1965 was a somewhat different volume from the one she had planned. It incorporated most of the dozen or so poems she had gone on to write in 1963, though she herself, recognizing the different inspiration of these new pieces, regarded them as the beginnings of a third book. It omitted some of the more personally aggressive poems from 1962, and might have omitted one or two more if she had not already published them herself in magazines—so that by 1965 they were widely known.” In: Sylvia Plath: The Collected Poems. Harper Perennial, New York 1981, ISBN 0-06-090900-5, S. 15.
  3. Ein Nachdruck des Artikels findet sich in: Neil Fraistat (Hrsg.): Poems in Their Place: The Intertextuality and Order of Poetic Collections. University of North Carolina Press, Chapel Hill 1986, ISBN 0-8078-1695-7, S. 308–333.
  4. Vgl. Haymann: Sylvia Plath. Liebe Traum und Tod. Heyne, München 1992, ISBN 3-453-05756-2, S. 290–291.
  5. Plath: Ariel (2008), S. 10, 12, 18.
  6. Gemäß: Perloff: The Two Ariels: The (Re)Making of the Sylvia Plath Canon.
  7. Das Gedicht fand sich zwar im ursprünglichen Inhaltsverzeichnis zwischen Stings und Wintering, aber nicht im von Sylvia Plath zusammengestellten Manuskript. Es wurde somit nicht in die restaurierte Fassung aufgenommen. Vgl. Vorwort von Frieda Hughes zur restaurierten Fassung.
  8. Bronfen: Sylvia Plath, S. 114–115.
  9. Plath: Ariel (2008), S. 79–81.
  10. Vgl. Bronfen: Sylvia Plath, S. 158.
  11. Plath: Ariel (2008), S. 147–149.
  12. Vgl. Bronfen: Sylvia Plath, S. 126–129.
  13. Plath: Ariel (2008), S. 179–183.
  14. Vgl. Bronfen: Sylvia Plath, S. 157–158.
  15. Plath: Ariel (2008), S. 41–47.
  16. Vgl. Bronfen: Sylvia Plath, S. 158–160.
  17. Plath: Ariel (1974), S. 176.
  18. Zitiert nach: Bronfen: Sylvia Plath, S. 143.
  19. Plath: Ariel (2008), S. 169–175.
  20. Vgl. Bronfen: Sylvia Plath, S. 143–146.
  21. Ted Hughes: On Sylvia Plath. In: Raritan, Vol. 14, No. 2, Fall, 1994, S. 1–10.
  22. Linda Wagner-Martin: Sylvia Plath. Eine Biographie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-518-38486-4, S. 267.
  23. Wagner-Martin: Sylvia Plath, S. 271.
  24. Sylvia Plath: Briefe nach Hause 1950–1963. Fischer, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-596-11358-X, S. 504.
  25. Tracy Brain: The Other Sylvia Plath. Longman, Edinburgh 2001, ISBN 0-582-32730-X, S. 22.
  26. Vgl. Brain: The Other Sylvia Plath, S. 105–111.
  27. Vgl. Jack Folsom: Death and Rebirth in Sylvia Plath’s „Berck-Plage“.
  28. Bronfen: Sylvia Plath, S. 116.
  29. Plath: Briefe nach Hause, S. 501.
  30. Wagner-Martin: Sylvia Plath, S. 288.
  31. Plath: Briefe nach Hause, S. 526.
  32. „[one of these] great classical heroines. […] These poems are playing Russian roulette with six cartridges in the cylinder. […] Everything in these poems is personal, confessional, felt, but the manner of feeling is controlled hallucination, the autobiography of a fever.“ Zitiert nach: Brain: The Other Sylvia Plath, S. 5–6.
  33. „These poems take tremendous risks […]. They are a bitte triumph, proof of the capacity of poetry to give to reality the greater permanence of the imagined. She could not return from them.“ Zitiert nach: Brain: The Other Sylvia Plath, S. 5.
  34. „In a curious way, the poems read as though they were written posthumously. It needed not only great intelligence and insight to handle the material, it also took a kind of bravery. Poetry of this order is a murderous art.“ Zitiert nach: Brain: The Other Sylvia Plath, S. 5.
  35. „They are poems written out of an extreme condition, a state of being in which the speaker, for all practical purposes Sylvia Plath herself, has abandonned the sense of audience and cares nothing about – indeed is hardly aware of – the presence of anyone but herself. She writes with a hallucinatory, self-contained fervor. […] There ist something utterly monolithic, fixated about the voice that emerges in these poems, a voice unmodulated and asocial.“ In: Irving Howe: The Plath Celebration: A Partial Dissent. In: Edward Butscher (Hrsg.): Sylvia Plath. The Woman and the Work. Dodd, Mead & Company, New York 1985, ISBN 0-396-08732-9, S. 233.
  36. „illegitimate comparison with the Holocaust […] something monstrous, utterly disproportionate, when tangled emotions about one’s father are deliberately compared with the historical fate of the European Jews“ In: Howe: The Plath Celebration: A Partial Dissent, S. 230, 232–233.
  37. […] „The poems Sylvia Plath wrote in this state of being are not ‚great‘ poems, but one can hardly doubt, that they are remarkable. For they do bring into poetry an element of experience, that, as far as I know, is new, and thereby they advance the thrust of literery modernism by another inch or so.“ In: Howe: The Plath Celebration: A Partial Dissent, S. 230, 233–234.
  38. „[…] one of the most marvellous volumes of poetry published for a very long time.“ Unsigned Review Along the Edge In: Linda Wagner-Martin (Hrsg.): Sylvia Plath. The Critical Heritage. Routledge, London 1997, ISBN 0-415-15942-3, S. 60.
  39. „They are among the handful of writings by which future generations will seek to know us and give us a name.“ Zitiert nach der amerikanischen Ausgabe von Ariel.
  40. „They will be read forever“. Peter Dale: Oh Honey Bees Come Build. In: Linda Wagner-Martin (Hrsg.): Sylvia Plath. The Critical Heritage. S. 68.
  41. Janet Badia: The „Priestess“ and Her „Cult“. In: Anita Helle (Hrsg.): The Unraveling Archive. Essays on Sylvia Plath. The University of Michigan Press, Ann Arbor 2007, ISBN 0-472-06927-6, S. 162.
  42. Ankündigung des Suhrkamp Verlags zur Neuausgabe von Ariel.
  43. Werner Vordtriede: Der Weg des Todes. In: Die Zeit, Nr. 44/1974.
  44. Marius Meller: Mitreißende Lyrik einer tragischen Dichterin. Deutschlandradio Kultur, 26. Februar 2009.
  45. Tobias Döring: Die Bienen nehmen es, wie es kommt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Januar 2009.
  46. Werner von Koppenfels: Der Pfahl im Herzen. In: NZZ, 10. Januar 2009.
  47. Heinz Schlaffer: Sterben kann ich besonders gut. In: Süddeutsche Zeitung, 16. Januar 2009.