Raghib an-Naschaschibi

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Raghib an-Naschaschibi

Raghib an-Naschaschibi (arabisch راغب النشاشيبي, DMG Rāġib an-Našāšībī; auch Ragheb an-Naschaschibi; bei überwiegender Nichtberücksichtigung der Sonnenbuchstaben-Regel auch al-Naschaschibi; * 1881; † April 1951) war ein arabischer Notabler und Bey in Palästina. Er wurde nach den Nabi-Musa-Unruhen[1] 1920 als Ersatz für den beim britischen Gouverneur in Ungnade gefallenen Musa Kazim al-Husaini[1][2][3] als Bürgermeister von Jerusalem eingesetzt und war nach seiner Abwahl ab Dezember 1934[4] Vorsitzender der Nationalen Verteidigungspartei[5] (Hizb al-Difaʿ al-Watani[4][6]). Nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg (Palästinakrieg) 1948 wurde er jordanischer Minister. Jordaniens König verlieh ihm den Titel Ragheb Pascha.[7]

Im Osmanischen Reich rivalisierten verschiedene einflussreiche Familien um Ämter und Einfluss in Jerusalem. Die muslimischen Naschaschibis waren neben den Khalidi, Alami und Husseini eine dieser Familien,[8] womit Raghib an-Naschaschibi in die Elite der palästinensisch-arabischen Gesellschaft geboren wurde. Er schloss ein Ingenieurstudium an der Universität Istanbul ab und wurde Distriktsingenieur in Jerusalem zur Zeit der osmanischen Herrschaft. 1912 wurde er ins Osmanische Parlament gewählt. Die Familie konnte ab den 1920er Jahren[9] hauptsächlich in ländlichen Gebieten einigen Rückhalt in der Bevölkerung gewinnen. Allgemeine Wahlen fanden in dieser Zeit jedoch nicht statt.[9] Für die 1910er Jahre ist Naschaschibi als Mitglied von zwei Freimaurerlogen[10] (Barkai-Loge) verzeichnet. Die Familie Naschaschibi investierte in den Bau von Häusern im Jerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrah.[11]

King-George-Straße in Jerusalem, eingeweiht 1924 in Anwesenheit von Herbert Samuel, Ronald Storrs und Bürgermeister an-Naschaschibi

1920 löste er Musa Kazim al-Husaini aus der rivalisierenden Familie Husaini als Bürgermeister von Jerusalem im britischen Mandatsgebiet ab. Nachdem es in den Wochen nach dem 6. Arabischen Kongress in Jaffa 1923 zu Verstimmungen[12] mit den Hussaini gekommen war, weil ein Mitglied der Familie Hussaini den Vorsitz[12] im Obersten Islamischen Rat übernahmen hatte, gab Raghib an-Naschaschibi im November 1923 die Gründung seiner ersten Partei, der Palästinensischen Arabisch-Nationalen Partei (al-Hizb al-Watani al-Arabi al-Filastini[4][12]), bekannt. Hilfe leistete ihm dabei der Jerusalemer Zweig der Familie al-Dajani.[4][12] Die Mitglieder waren als Muaradah[4][13] bekannt, bei der Wahl in den Obersten Islamischen Rat verbuchten sie 1926 etwa die Hälfte[4] der Sitze. Raghib an-Naschaschibi gehörte der Partei wegen seiner Rolle als Bürgermeister jedoch nicht selbst an.[4] Naschaschibis Verständigungsversuch mit dem Zionisten Chaim Arlosoroff scheiterte daran, dass Naschaschibi anders als dieser an die Palästinenser als das Volk der Juden und Araber glaubte.[3]

1934 gründete der durch Hussein Fakhri al-Khalidi[6] als Jerusalemer Bürgermeister abgelöste Naschaschibi die Nationale Verteidigungspartei[9] (Hizb al-Difa' al-Watani[14]). An der Gründungsveranstaltung der Partei in Jaffa nahmen rund 1000[6] Personen teil, unter ihnen befanden sich auch zahlreiche Christen. Naschaschibi war 1936 ein Gründungsmitglied des Arabischen Hohen Komitees. Vor dem Hintergrund der Dekolonialisierung der arabischen Welt und des Zionismus in Palästina wurde Naschaschibi zu einer der Führungsfiguren der Opposition gegen Amin al-Hussaini, den Großmufti von Jerusalem. Er bündelte politische Kräfte überwiegend im Norden Palästinas, hauptsächlich in Akkon[9] und Nablus,[9][4] wo sich die Bevölkerung durch al-Hussaini nicht vertreten fühlte und unterhielt gute Beziehungen zu Abdallah ibn Husain I.[9][15] Der griechisch-orthodoxe Dichter und Journalist Bulus Shehadeh[16] unterstützte Naschaschibis Politik in seiner Zeitung Mirat es-Shark.[16][6] Hussaini reagierte im März 1935[4] mit der Gründung der Arabisch-palästinensischen Partei (Hizb al-Arabiyya al-Filastiniyya[4]). Mit Vizepräsident Alfred Rock[6] gehörte jedoch auch dieser Partei ein prominenter griechisch-katholischer[6] Christ aus Jaffa an.

Die einflussreiche Jaffaer Familie al-Dajani,[15] mit deren prominentesten Vertreter Hasan Sidqi al-Dajani[15] (ermordet im Oktober 1938)[15] war mit den Naschaschibi verbündet. Dajani wurde Sekretär[15] der Nationalen Verteidigungspartei. Auch die den griechisch-orthodoxen Christen Jaffas nahestehende Zeitung Filastin,[15] die Jerusalemer Gewerkschaft Arab Workers Society[15] (AWS) und der Literaturklub al-Muntada al-Adabi,[17] von Jamil al-Husaini,[17] Naschaschibis Neffe[7] Fakhri an-Naschaschibi,[17] Mahmud ʿAziz al-Khalidi[17] sowie dem bereits genannten Hasan Sidqi al-Dajani,[17] waren der von Naschaschibi angeführten Opposition freundlich gesinnt und versuchten, die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Raghib an-Naschaschibi war in zweiter Ehe mit der aus Rhodos stammenden Jüdin Palumba Naschaschibi verheiratet.[3] Im Familienverband der Naschaschibi war durch seine Führungsrolle in AWS und al-Muntada auch Fakhri an-Naschaschibi, im Juli 1934[15] Gründer der AWS, einflussreich, der jedoch schon im November 1941 in Bagdad ermordet wurde.[15][18] Fakhri hatte zu Beginn des Krieges eine Schrift gegen den Nazis veröffentlicht.[18] Seine Ermordung war in der deutschen Propaganda gefeiert worden.[18] Auch zur Familie zählte der Dichter und öffentlich auftretende Sprecher Isaf an-Naschaschibi,[10] der der Jerusalemer Sektion des Komitees für Einheit und Fortschritt[10] angehört hatte, und der Journalist Nasser ad-Din Naschaschibi.[3] Ein Mitglied der Familie Naschaschibi heiratete 1940 Esther Weiner,[3] eine Nichte des hebräischen Schriftstellers Samuel Agnon, dessen Familie die Beziehung aber missbilligte und die Beziehung zu Esther abbrach.[3]

Seine Amtsführung war von Korruption[8][3] begleitet. Auch wenn sich seine Partei formal antibritischer Forderungen bediente, näherte sie sich in Sachfragen häufig britischen Interessen an und war an einem wirtschaftlich stabilen Umfeld interessiert.[9] Jüdische Wähler hatten ihn mit einem Stimmenanteil von 88 %[3] (Muslime 85 %, Christen 75 %[3]) in der Wahl für seine zweite siebenjährige[3] Amtszeit von 1927[8] gegen den von Amin al-Husseini aufgestellten Mitbewerber Arif al-Dadjani[3] unterstützt, wurden aber in ihren Forderungen enttäuscht. Sie entzogen ihm 1934[8] die Gefolgschaft und verhalfen Hussein Fakhri al-Khalidi[8] zum Bürgermeisteramt, der jedoch den jüdischen Vizebürgermeister Daniel Auster[8] ganz entmachtete.

Während des Arabischen Aufstands von 1936–1939 unterstützte der Nashashibi-Clan die Mandatsmacht durch Aufstellung einer paramilitärischen Einheit verhandlungsbereiter Nationalisten,[19] den Fasa'il as-Salam[9][20] unter Fakhri Abd al-Hadi[20] von den Briten „Peace Bands“[2][21][20] genannt. Großbritannien bewaffnete diese.[21] Sie dienten meist dem Selbstschutz[9] arabischer Dorfbewohner gegen Geldforderungen Aufständischer und bildeten sich aus enttäuschten Deserteuren von bewaffneten Gruppen.[20] Eine prononciert islamische Politik, wie sie Hussaini betrieb, vertrat Naschaschibi nicht.[16] Im Juli 1937[4] wurden alle arabischen Parteien Palästinas, mit Ausnahme von Raghib an-Naschaschibis Nationaler Verteidigungspartei, von der britischen Mandatsverwaltung verboten, was Naschaschibi viel Ansehen kostete.[4] Als Folge des Aufstands ging die Bedeutung der Naschaschibi deutlich zurück,[9] die Hussaini gingen hingegen gestärkt[9] aus den Ereignissen hervor. Vom 7. Februar bis 17. März 1939[9] waren Mitglieder des Familienverbands der Nashashibi an der ergebnislosen[9] Londoner St.-James-Konferenz vertreten. Raghib und Fakhri an-Naschaschibi unterstützten am 30. Mai 1939[22] das dritte britische Weißbuch und verurteilten den arabischen Terrorismus.[22]

Ende 1947, kurz vor dem Palästinakrieg, gelang es den Hussainis, Raghib an-Naschaschibi und seine Familie aus dem Arabischen Hohen Komitee zu drängen. Naschaschibi, der bereits vor dem Krieg einen Anschluss an Transjordanien angestrebt hatte, wurde nach dem Krieg jordanischer Minister. Er war zunächst als Gouverneur[7] des Westjordanlandes für palästinensische Flüchtlinge zuständig. Am 5. Januar 1951[8] wurde er Hüter der beiden Harams[7] in Jerusalem und Hebron. Das Amt, das ihn zum Oberintendanten[1] des Haram al-Scharif im von Jordanien beanspruchten und administrativ integrierten Ostjerusalem machte, war jedoch nur symbolischer[1] Natur. 1950 wurde er Landwirtschaftsminister. Das vom König angebotene Amt des Ministerpräsidenten Jordaniens hatte er abgelehnt.[7] Naschaschibis Neffe Nassereddin an-Naschaschibi wurde jordanischer königlicher Kammerherr.[7] Naschaschibi starb nach erfolgloser Behandlung im Auguste Viktoria Hospital[7] im April 1951 an Krebs[7] und wurde im Garten seiner Villa[7] beerdigt. Die Villa in der heutigen Naschaschibi-Straße[3] musste dem Bau des Jerusalemer Ambassador-Hotels[7] weichen.

Einzelnachweise

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  1. a b c d Vincent Lemire, avec Katell Berthelot, Julien Loiseau et Yann Potin: Jérusalem, histoire d’une ville-monde des origines à nos jours. In: Collection Champs histoire. Éditions Flammarion, Paris 2016, ISBN 978-2-08-138988-5, S. 370, 391.
  2. a b James L. Gelvin: The Israel-Palestine Conflict – One Hundred Years of War. 2. Auflage. Cambridge University Press, Cambridge 2007, ISBN 978-0-521-71652-9, S. 110, 113.
  3. a b c d e f g h i j k l Menachem Klein: Jerusalem: geteilt, vereint – Araber und Juden in einer Stadt. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-633-54289-5, S. 13, 69, 97, 110, 116 f., 131 (gekürzte deutschsprachige Ausgabe von Lives in Common. Arabs and Jews in Jerusalem, Jaffa, and Hebron, C. Hurst & Co. Publishers, 2014; übersetzt von Eva-Maria Thimme).
  4. a b c d e f g h i j k l Mark Tessler: A History of the Israeli-Palestinian Conflict. In: Mark Tessler (Hrsg.): Indiana Series in Middle East Studies. 2. Auflage. Indiana University Press, Bloomington and Indianapolis 2009, ISBN 978-0-253-22070-7, S. 224, 228 f.
  5. Jean-Claude Lescure: Le conflict israélo-palestinien en 100 questions (Kapitel 12: Quelles différences entre nationalisme arabe et nationalisme palestinien?). In: Collection Texto. 2. Auflage. Éditions Tallandier, Paris 2020, ISBN 979-1-02104253-7, S. 47.
  6. a b c d e f Gudrun Krämer: Geschichte Palästinas – Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel (= Beck’sche Reihe. Nr. 1461). Verlag C. H. Beck, München 2002, ISBN 3-406-47601-5, S. 300 f.
  7. a b c d e f g h i j Simon Sebag Montefiore: Jerusalem – Die Biographie. 4. Auflage. Nr. 17631. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-596-17631-1, S. 635, 681 (Originalausgabe: Jerusalem. The Biography. Weidenfels & Nicolson, London 2011; übersetzt von Ulrike Bischoff und Waltraud Götting).
  8. a b c d e f g Meron Benvenisti: Jérusalem, une histoire politique. Essai. In: Collection « Hébraïca ». Éditions Solin/Éditions Actes Sud, Arles 1996, ISBN 2-7427-0772-7, S. 93, 112, 115 f. (übersetzt von Katherine Werchowski und Nicolas Weill).
  9. a b c d e f g h i j k l m Amnon Cohen, préface de Michel Abitbol et Abdou Filali-Ansary: Juifs et musulmans en Palestine et en Israël – Des origines à nos jours. In: Collection Texto. 2. Auflage. Éditions Tallandier, Paris 2021, ISBN 979-1-02104776-1, S. 116 f., 122 f., 132, 137 ff.
  10. a b c Michelle U. Campos: Ottoman Brothers – Muslims, Christians, and Jews in Early Twentieth-Century Palestine. Stanford University Press, Stanford (California) 2011, ISBN 978-0-8047-7068-2, S. 97/129, 189, 294.
  11. Hisham Khatib: Palestine and Egypt under the Ottomans – Paintings, Books, Photographs, Maps and Manuskripts. Tauris Parke Books (I. B. Tauris), London/New York 2003, ISBN 1-86064-888-6, S. 50.
  12. a b c d Bichara Khader: L’Europe et la Palestine : des croisades à nos jours. In: Jean-Paul Chagnollaud (Hrsg.): Collection Comprendre le Moyen-Orient. Éditions L’Harmattan/Éditions Bruylant (Bruylant-Academia)/Éditions Fides et Labor, Paris-Montréal/Bruxelles/Genève 1999, ISBN 978-2-7384-8609-7, S. 146.
  13. Baruch Kimmerling, Joel S. Migdal: The Palestinian People, a History. 2. Auflage. Harvard University Press, Cambridge (Massachusetts) 2003, ISBN 0-674-01129-5, S. 107.
  14. Simha Flapan: The Birth of Israel – Myths and Realities. Croom Helm Publisher, London and Sydney 1987, ISBN 0-7099-4911-1, S. 62.
  15. a b c d e f g h i Zachary Lockman: Comrades and Enemies – Arab and Jewish Workers in Palestine, 1906–1948. University of California Press, Berkeley 1996, ISBN 0-520-20419-0, S. 188 ff., 223, 261.
  16. a b c Paola Pizzo: La croce e la kefiah – Storia degli arabi cristiani in Palestina. Salerno Editrice, Roma 2020, ISBN 978-88-6973-524-0, S. 76 f.
  17. a b c d e Benny Morris: Vittime – Storia del conflitto arabo-sionista, 1881–2001. In: Collana La Storia – Le Storie. 6. Auflage. BUR Rizzoli (Mondadori Libri), Milano 2019, ISBN 978-88-17-10756-3, S. 51 (Originalausgabe: Righteous Victims: A History of the Zionist-Arab Conflict, 1881–1999, Alfred A. Knopf (publisher), New York 1999; übersetzt von Stefano Galli).
  18. a b c Michael Joseph Cohen: Britain’s Moment in Palestine – Retrospect and Perspectives, 1917–48. In: Efraim Karsh, Series Editor (Hrsg.): Israeli History, Politics and Society Series. Band 55. Routledge (Taylor & Francis Group), London/New York 2014, ISBN 978-0-415-72985-7, S. 283, 402.
  19. Benny Morris: One State, Two States. Resolving the Israel/Palestine Conflict. Yale University Press, New Haven (Connecticut) 2010, ISBN 978-0-300-16444-2, S. 102 f.
  20. a b c d Mustafa Kabha: The courts of the Palestinian Arab revolt, 1936–39. In: Amy Singer, Christoph K. Neumann, Selçuk Akşin Somel (Hrsg.): Untold Histories of the Middle East – Recovering voices from the 19th and 20th centuries (= Benjamin C. Fortna, Ulrike Freitag [Hrsg.]: SOAS/Routledge Studies on the Middle East. Band 12). Routledge (Taylor & Francis Group), London/New York 2011, ISBN 978-0-415-57010-7, Kap. 10, S. 197–213, hier S. 198, 201.
  21. a b Daniel Todman: Britain’s War – Into Battle, 1937–1941. 2. Auflage. Penguin Books, London 2017, ISBN 978-0-14-102691-6, S. 163 (Erstauflage bei Allen Lane, 2016).
  22. a b Catherine Nicault: Une histoire de Jérusalem – De la fin de l’Empire ottoman à la guerre de Six Jours (= Collection Biblis histoire). 2. Auflage. CNRS Éditions (Centre national de la recherche scientifique), Paris 2012, ISBN 978-2-271-07455-3, S. 232.