Ethnomathematik

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Ethnomathematik bezeichnet eine jüngere Fachrichtung der Mathematikgeschichte und Mathematikpädagogik, die interdisziplinär mit anderen Fächern wie Ethnologie (Völkerkunde) und Anthropologie (Menschenkunde) mathematische oder protomathematische Konzepte und Operationen in ihrem kulturellen Kontext erforscht. Die Ethnomathematik untersucht Arten der Symbolisierung von Zahlen, Mengen und Verhältnissen, des Zählens und des Rechnens, der Perspektivierung, Gliederung und Messung von Zeit und Raum und mögliche andere auf mathematische Konzepte rückführbare kognitive oder physische Operationen anhand von Praktiken wie beispielsweise Spiel, Tanz, Musik und rituellen Handlungen, in der Ordnung von Verwandtschafts- und Sozialbeziehungen, in Wirtschaft und Landwirtschaft, Handwerk, Kunst und Architektur.[1]

Ein Beispiel sind die Sona-Diagramme, die von afrikanischen Völkern in Sambia, Angola und im Kongo zum Beispiel für die Unterstützung von Erzählungen verwendet wurden und werden und auch als Steinbilder erhalten sind. Die geometrischen Algorithmen zu ihrer Erzeugung wurden von Paulus Gerdes erforscht. Ein weiteres Beispiel sind die Kolam genannten Bodenzeichnungen in Indien oder Fadenspiele.[2]

Konzept und Verhältnis zur Geschichte der Mathematik

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der herkömmlichen Darstellung der Geschichte der Mathematik liegt in der Regel ein universalistisches Konzept zugrunde, indem die gleichen körperlichen Voraussetzungen der Menschen und weltweit ähnliche Lebenssituationen auch kultur-, zeit- und sprachübergreifend ähnliche Begriffe und Lösungsmethoden für die Probleme induzierten. Der höchste Entwicklungsstand sei in den klassischen mathematischen Wissenschaften erreicht. Ältere und außereuropäische Kulturen werden oft unter dem Gesichtspunkt ihrer Ausbildung dieser universellen mathematischen Fähigkeiten betrachtet und bewertet.

Die Ethnomathematik setzt dagegen einen relativistischen oder multikulturalistischen Ansatz, der in einer gegebenen Kultur, Ethnie oder sozial definierten Gruppe deren je eigene Ausprägung mathematischer Fähigkeiten unter dem Gesichtspunkt ihrer spezifischen kulturellen, sozialen und institutionellen Prägung und ihrer für diese Kultur (Ethnie, Gruppe) relevanten Entwicklung betrachtet. Leitend ist dabei die Absicht, einem eurozentrischen Konzept von Mathematik entgegenzuwirken, die Kenntnis und das Verständnis vermeintlich primitiver Formen von Mathematik zu verbessern und auch didaktisch und pädagogisch verwertbare Einsichten über die Aneignung und Vermittlung mathematischer Fähigkeiten zu gewinnen.

fThemenliste: Ethnomathematik – Übersicht im Portal:Ethnologie
  • Wasan (traditionelle japanische Form der Mathematik)
  • Marcia Ascher: Ethnomathematics – A Multicultural View of Mathematical Ideas. Brooks/Cole Publishing, Pacific Grove Kalifornien 1991, ISBN 0-534-14880-8.
  • Paulus Gerdes: Ethnomathematik – dargestellt am Beispiel der Sona-Geometrie. Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft, Heidelberg 1997, ISBN 3-8274-0201-8.
  • Paulus Gerdes: Ethnogeometrie – Kulturanthropologische Beiträge zur Genese und Didaktik der Geometrie. Franzbecker Verlag, Bad Salzdetfurth 1990, ISBN 3-88120-189-0.
  • Klaus-Dieter Linsmeier u. a. (Hrsg.): Ethnomathematik – Flechtwerke der Kelten, Astronomie der Chinesen, Knotenschnüre der Inka, Kalender der Maya. Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft, Heidelberg 2006, ISBN 3-938639-41-5 (Spektrum der Wissenschaft Spezial 2, 2006).
  • Arthur B. Powell, Marilyn Frankenstein (Hrsg.): Ethnomathematics. Challenging Eurocentrism in Mathematics Education. State University of New York, Albany NY 1997, ISBN 0-7914-3352-8 (SUNY series, reform in mathematics education).
  • Claudia Zaslavsky: Africa counts – Number and Pattern in African Cultures. 3. Auflage, Lawrence Hill Books, Chicago Ill. 1999, ISBN 1-55652-350-5.
Commons: Mathematics by culture – Sammlung von Bildern und Mediendateien

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Hans Wußing: 6000 Jahre Mathematik – Eine kulturgeschichtliche Zeitreise. 1. Von den Anfängen bis Leibniz und Newton. Springer, Berlin/Heidelberg 2008, ISBN 978-3-540-77189-0, S. 16 ff.
  2. Hans Wußing: 6000 Jahre Mathematik – Eine kulturgeschichtliche Zeitreise. 1. Von den Anfängen bis Leibniz und Newton. Springer, Berlin/Heidelberg 2008, ISBN 978-3-540-77189-0, S. 20−22.