„Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ – Versionsunterschied

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Die '''Lebensweltorientierte Soziale Arbeit''' ist ein Theoriekonzept der Sozialen Arbeit, das auf dem Postulat basiert, dass in allen Unterstützungen von den alltäglichen Erfahrungen und Bewältigungsmustern der Adressaten ausgegangen werden muss. Daraus ergibt sich ein spezifisches Verständnis der Adressaten, ebenso auch spezifische methodische und organisationelle Arrangements der Sozialen Arbeit.
'''Lebensweltorientierung''' ist ein in der [[Soziale Arbeit|Sozialen Arbeit]] von [[Hans Thiersch]] geprägter Begriff. Er gehört heute zum festen Bestandteil der theoretischen sowie praktischen Diskurse der ''Sozialen Arbeit''. Der Begriff ist abgeleitet vom Begriff der [[Lebenswelt]] der Philosophie ([[Edmund Husserl]]) und Soziologie ([[Alfred Schütz]]).


=== Zur Orientierung: Zwei Fallvignetten ===
In die Kritik kam der zunehmend beliebige Gebrauch des Lebensweltbegriffs im Bereich der ''Sozialen Arbeit'' beispielsweise durch [[Peter Fuchs (Soziologe)|Peter Fuchs]] und [[Bernd Halfar]]. In Auseinandersetzung dieser Kritik entwickelt [[Björn Kraus]] eine [[systemisch-konstruktivistische Perspektive#Anwendungen|systemisch-konstruktivistische]] Perspektive der Lebensweltorientierung.
Familienhilfe: Um bei Problemen der Kinder und Heranwachsenden oder der Erwachsenen, also bei Schulschwierigkeiten, Überlastung oder auch Krankheit, helfen zu können, arbeitet eine Fachkraft nicht mit den Einzelnen am eigenen Ort von Beratung oder Gruppentreffs, sondern in einer Familie, an deren Alltag sie teilnimmt; sie sucht die Familie im Zusammenleben in ihren alltäglichen Selbstverständlichkeiten und Handlungsmustern kennen zu lernen, um von da aus mit ihnen Wege zu einem verbesserten Arrangement zu finden.<ref>{{Literatur |Autor=Woog, Astrid |Titel=Soziale Arbeit in Familien: theoretische und empirische Ansätze zur Entwicklung einer pädagogischen Handlungslehre |Auflage=4. Aufl |Verlag=Juventa-Verl |Ort=Weinheim München |Datum=2010 |Reihe=Edition Soziale Arbeit |ISBN=978-3-7799-1208-8}}</ref> Die Sozialarbeiterin sucht die Menschen darin zu respektieren, wie sie miteinander auskommen, und sie zugleich zu sehen, was sie auch können und im Verborgenen vielleicht erhoffen. In der Gemeinsamkeit des Alltagslebens – beim Kochen, Spielen und Sich-Unterhalten oder in gemeinsamen Unternehmungen – soll sich ein Vertrauen entwickeln, das es möglich macht eingeschliffene, aber unglückliche Selbstverständlichkeiten bewusst zu machen und zu problematisieren. Es gilt neue Ressourcen zu entdecken, also Ressourcen im jeweiligen Selbst-, Arbeits- oder Lernverständnis und im Verhältnis zur Umwelt der Kindertagesbetreuung, der Schule, zum Jugendamt oder dem Hausarzt und vor allem auch der Nachbarschaft und der Freundschaften, des Sportvereins oder der Verwandtschaft. Sie öffnet der Familie Wege aus ihrer Isolation in die Nachbarschaft und in gemeinschaftliche Aktivitäten im Gemeinwesen. So soll sich in Phasen auf dem anstrengenden Weg aus dem Ineinander von Verunsicherung, Konflikten und neuen Orientierungen ein gemeinsamer Prozess ergeben. Die Sozialarbeiterin geht von einem Verständnis für den gegebenen Alltag aus, sie vertraut den Möglichkeiten der Adressatinnen, sie deckt in der Alltagslethargie weggedrückte, untragbare Praktiken auf, sie agiert in einem vorsichtigen, sich allmählich in den Möglichkeiten weiterentwickelnden, von allen getragenen Prozess.


Mobile Jugendarbeit (Straßensozialarbeit) mit Gruppen von Jugendlichen<ref>{{Literatur |Autor=Bollig, Christiane |Titel=Praxishandbuch Mobile Jugendarbeit |Verlag=Frank & Timme |Ort=Berlin |Datum=2020 |ISBN=978-3-7329-0608-6}}</ref>:  Die Jugendlichen treffen sich oft in der Flucht aus ihren Familien und in bewusster Abkehr von Schule, Ausbildung und deren Erwartungen an eigenen Orten, sie hängen miteinander ab, unternehmen etwas gemeinsam, hören Musik oder spielen an ihren Handys. Wenn der Sozialarbeiter diese Jugendlichen an ihren Treffpunkten aufsucht, sieht er sie nicht primär von den Auffälligkeiten der Jugendlichen aus – Krach mit oder Sich-Verschließen gegenüber ihrer Familie, Lernprobleme und Schulverweigerung oder öffentliche Provokationen –, sondern als Jugendliche an einen Ort, an dem sie etwas gelten und mit ihren Interessen Anerkennung finden in der Gemeinsamkeit der Gruppe. Sie sieht aber auch die Schwierigkeiten, die riskanten Unternehmungen und die Probleme in und mit der Öffentlichkeit, die gesundheitlichen Problemen und Risiken mit Alkohol und Drogen, die Spannungen innerhalb der Gruppe. Die Arbeit des Sozialarbeiters ist heikel – Jugendliche, die sich protestierend in ihre eigene Welt zurückziehen, sind misstrauisch. Es muss also gelingen, Vertrauen zu gewinnen, die Gruppe muss sie als nützlich erfahren, es gilt, den Lebensraum der Gruppe zu sichern und für die gegebenen Bedürfnisse Äußerungsformen zu finden, die nicht gefährlich und gefährdend sind. Dabei braucht es die Balance zwischen dem Werben um Vertrauen, den Anregungen zu gemeinsamen, zugänglichen und attraktiven Aktivitäten und den Arrangements für elementare Versorgungsleistungen. In solchen Unterstützungen im Alltag können sich den Jugendlichen dann auch Perspektiven für ein Leben neben und jenseits der Gruppe eröffnen.
Nach der Analyse von Literaturverzeichnissen in sozialarbeitswissenschaftlichen Publikationen kommt Jochem Kotthaus zum Ergebnis: „Dort werden zum Thema »Lebenswelt(orientierung)« immer wieder Namen wie Alfred Schütz, [[Jürgen Habermas]] sowie Peter Berger und Thomas Luckmann (im soziologischen Verständnis) und Hans Thiersch sowie Björn Kraus (im Kontext Sozialer Arbeit) zu finden sein – aus gutem Grund. Diese sind absolut unverzichtbar, um Lebenswelt(orientierung) bearbeiten zu können.“<ref>Jochem Kotthaus 2014: FAQ Wissenschaftliches Arbeiten. Opladen, Toronto: Barbara Budrich UTB.</ref>


== Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ==
=== Zur Entstehung des Konzepts Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ===
Das Konzept der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit ist in den 1970er Jahren im Kontext der generellen Gesellschaftskritik in der damaligen Bundesrepublik entstanden. Gegenüber der damaligen Praxis eines autoritären und stigmatisierenden Umgang mit den Adressaten und der Verwaltungsdominanz entstand ein neues kritisches Bewusstsein der gesellschaftlichen und sozialen Funktion der Sozialen Arbeit. Von da aus entwickelte der Tübinger Sozialpädagoge Hans Thiersch<ref>Hans Thiersch, seit 1970 Professor für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik an der Universität Tübingen, s. https://www.hans-thiersch.de.</ref> das Konzept einer alltags- und lebensweltorientierten Sozialen Arbeit. Deren spezifische Aufgaben, Unterstützungen und Hilfen in belasteten Lebensverhältnissen zu leisten, wurde im Konzept in einer neuen Weise im Horizont der alltäglichen Bewältigungserfahrungen der Adressaten. Es klinkt sich damit in eine allgemeine gesellschaftliche Problemlage ein, denn die Frage nach dem Alltag war im letzten Jahrhundert zunehmend zum Thema geworden. Angesichts der gegebenen Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse und angesichts der zunehmenden Differenzierung und Organisation der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse erweist sich die Bewältigung des Lebens im Alltag zunehmend als zentrales Problem der Lebensgestaltung. Man redet vom alltäglichen Chaos in Familien; Alltagsprobleme bestimmen Erzählungen, Biografien und Autobiografien und ebenso sozialwissenschaftliche und philosophische Konzepte. Vor diesem Hintergrund entwickelt lebensweltorientierte Soziale Arbeit ihr eigenes Theoriekonzept mit einem spezifischen Verständnis der Adressaten und des sozialpädagogischen Handelns und seiner Organisationen. Das Konzept hat sich seit den 1990erJahren als eines der maßgeblichen Theoriekonzepte für Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit durchgesetzt. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit versteht sich als Rahmenkonzept einer Sozialen Arbeit, das es gegen gesellschaftliche Tendenzen und gegen Widerstände in der Struktur der eigenen Arbeit durchzusetzen gilt. Zwar konnte es in Ansätzen, in Projekten und Tendenzen realisiert werden, es bleibt aber in der Realität der gesellschaftlichen Machtstrukturen und der institutionellen und professionellen Widersprüche über weite Strecken Programm. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist als Aufgabe „work in progress“.
Erstmals wurde der Begriff der Lebensweltorientierung Ende der 1970er in Thierschs [[Idee|Konzept]] einer „lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“ eingeführt. Thiersch versucht, das Wesen eines professionellen sozialpädagogischen Selbstverständnisses und einer Struktur institutionalisierter Hilfen zu bestimmen. Lebensweltorientierung bedeutet, in Abkehr von klassischen – medizinisch geprägten ([[Anamnese]], [[Diagnose]], [[Therapie]]) – Hilfeformen, die individuellen sozialen Probleme der Betroffenen in deren [[Alltag]] in den Blick zu nehmen sowie den Selbstdeutungen und Problembewältigungsversuchen der Betroffenen mit Respekt und Takt, aber auch mit wohlwollend-kritischer [[Provokation]] im Zielhorizont eines „gelingenderen Alltags“ zu begegnen. Hier wird deutlich, wie Thiersch seine Lebensweltorientierung im Sinne des Alltagsverständnis nach Schütz versteht. Solchermaßen verstandene und strukturierte „lebensweltorientierte“ Hilfe ist zunächst in die sozialen Strukturen auf personaler/lokaler Ebene eingebettet, mischt sich aber auch – in gleichsam anwaltlicher Funktion für die betroffenen Menschen – in die sozialpolitische Gestaltung der soziale Probleme mitbedingenden gesellschaftlichen Rahmenverhältnisse ein.


=== Theoretische Hintergründe ===
Der genannte Respekt vor fremden Lebensentwürfen und deren [[Akzeptanz]] erschweren eine [[Standardisierung]] der Arbeitsabläufe in der Sozialen Arbeit. Von den Fachkräften wird ein hohes Maß an kritisch-[[Reflexion (Philosophie)|reflexiver]] Bewertung ihrer [[Arbeit (Philosophie)|Arbeit]] und ihrer [[Soziale Rolle|Rolle]] in der Lebenswelt der Betroffenen erwartet.
Das Konzept Lebensweltorientierung steht in der hermeneutischen Tradition der Pädagogik (Dilthey<ref>{{Literatur |Autor=Dilthey, Wilhelm |Titel=Gesammelte Schriften |Band=Bd. 4 |Verlag=B. G. Teubner Verlagsgesellschaft/Vandenhoek & Ruprecht |Ort=Stuttgart und Göttingen |Datum=1974}}</ref>, Nohl<ref>{{Literatur |Autor=Nohl, Herman |Titel=Pädagogik aus dreißig Jahren |Verlag=Schulte-Bulmke |Ort=Frankfurt am Main |Datum=1949}}</ref>) und seiner Weiterführung in einer kritischen Pädagogik, die im Interaktionismus fundiert ist (Mollenhauer<ref>{{Literatur |Autor=Klaus Mollenhauer |Titel=Erziehung und Emanzipation |Auflage=7. Aufl |Verlag=Juventa-Verl |Ort=München |Datum=1977 |ISBN=978-3-7799-0062-7}}</ref>). Die Sicht der Adressaten ist bestimmt in der phänomenologischen Frage nach der Lebenswelt (Husserl<ref>{{Literatur |Autor=Husserl, Edmund |Titel=Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie |Sammelwerk=Husserliana 6. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie . |Auflage=2 |Verlag=Martinus Nijhoff |Ort=Den Haag |Datum=1962 |Seiten=314–348}}</ref>) und nach den Mustern des alltäglichen Verhaltens (Schütz<ref>{{Literatur |Autor=Schütz, Alfred |Titel=Gesammelte Aufsätze, 3 Bde. |Verlag=Nijhoff |Ort=Den Haag |Datum=1971}}</ref>, Berger/Luckmann<ref>{{Literatur |Autor=Berger, Peter L., Luckmann, Thomas |Titel=Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie |Verlag=Fischer |Ort=Frankfurt am Main |Datum=1969}}</ref>); eine kritische Alltagstheorie (Bourdieu<ref>{{Literatur |Autor=Pierre Bourdieu et al. |Titel=Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft |Sammelwerk=Édition discours |Band=9 |Verlag=UVK, Universitäts-Verlag Konstanz, |Ort=Konstanz |Datum=1997 |ISBN=3-87940-568-9}}</ref>, Kosik<ref>{{Literatur |Autor=Kosík, Karel |Titel=Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik der Menschen und der Welt |Verlag=Suhrkamp |Ort=Frankfurt am Main |Datum=1967}}</ref>) wird mit neueren Arbeiten zur Gesellschaftstheorie verbunden (Habermas<ref>{{Literatur |Autor=Habermas, Jürgen |Titel=Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bände. |Verlag=Suhrkamp |Ort=Frankfurt am Main |Datum=1981 |ISBN=978-3-518-28775-0}}</ref>, Beck<ref>{{Literatur |Autor=Ulrich Beck |Titel=Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. |Verlag=Suhrkamp |Ort=Frankfurt am Main |Datum=1986 |ISBN=978-3-518-11365-3}}</ref>, Reckwitz<ref>{{Literatur |Autor=Andreas Reckwitz |Titel=Die Gesellschaft der Singularitäten |Verlag=Suhrkamp |Ort=Frankfurt am Main |Datum=2019 |ISBN=978-3-518-58742-3}}</ref>). In Bezug auf das pädagogische Handeln und seine institutionellen Organisationen sieht sich das Konzept in vielfältigen Bezügen zu Pestalozzi<ref>{{Literatur |Autor=Johann Heinrich Pestalozzi |Titel=Gesammelte Werke |Hrsg=Emilie Bosshard u.a. |Band=Band VII und VIII |Verlag=Rascher |Ort=Zürich |Datum=1954}}</ref>, Bernfeld<ref>{{Literatur |Autor=Siegfried Bernfeld |Titel=Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung |Verlag=Suhrkamp |Ort=Frankfurt am Main |Datum=1967}}</ref>, Korczak<ref>{{Literatur |Autor=Janusz Korczak |Titel=Wie man ein Kind lieben soll |Verlag=Vandenhoek & Ruprecht |Ort=Göttingen |Datum=1967}}</ref> und Nohl<ref>{{Literatur |Autor=Herman Nohl |Titel=Pädagogik aus dreißig Jahren |Verlag=Schulte-Bulmke |Ort=Frankfurt am Main |Datum=1949}}</ref> und der breiten neueren Fachdiskussion. In der sozialethischen Bestimmung der Sozialen Arbeit steht das Konzept in der Tradition der Aufklärungsideen von Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit; es konkretisiert sie im gesellschaftskritischen Modell Heimanns<ref>{{Literatur |Autor=Eduard Heimann |Titel=Soziale Theorie des Kapitalismus |Verlag=Suhrkamp |Ort=Frankfurt am Main |Datum=1980 |ISBN=978-3518110522}}</ref>: Die herrschenden Kapital- und Machtverhältnisse stehen im Kampf gegen die sozialen Interessen; diese Interessen müssen im Kompromiss, der die Demokratie und den Sozialstaat im Horizont der Menschenrechte bestimmt. Dieses Konzept kann in fachlicher Parallele gesehen werden zum Ansatz der Sozialpsychiatrie (Dörner/Plog<ref>{{Literatur |Autor=Klaus Dörner, Ursula Plog |Titel=Irren ist menschlich |Verlag=Psychiatrie-Verlag |Ort=Wunsdorf |Datum=1978 |ISBN=3884140019}}</ref>) und der Gemeindepsychologie (Keupp<ref>{{Literatur |Autor=Heinrich Keupp, Dodo Rerrich |Titel=Psychosoziale Praxis. Gemeindepsychologische Perspektiven |Verlag=Urban und Schwarzenberg |Ort=München/Wien |Datum=1982 |ISBN=3541103213}}</ref>) oder auch des medizinischen Modells der Salutogenese<ref>{{Internetquelle |url=https://www.bmfsfj.de/resource/blob/93144/f5f2144cfc504efbc6574af8a1f30455/13-kinder-jugendbericht-data.pdf |titel=13. Jugendbericht. |hrsg=Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend |datum=2009 |abruf=2023-10-20}}</ref>. Im allgemeinen gesellschaftlichen Kontext ergeben sich vielfältige Parallelen zu zivilgesellschaftlichen und sozialen Bewegungen und vor allem zur feministischen Diskussion von alltäglicher Sorgearbeit, von Care (Bitzan<ref>{{Literatur |Autor=Maria Bitzan |Titel=Das Soziale von den Lebenswelten her denken |Hrsg=Roland Anhorn u.a. |Sammelwerk=Politik der Verhältnisse – Politik des Verhaltens |Verlag=Springer VS |Ort=Wiesbaden |Datum=2019 |ISBN=978-3658179533 |Seiten=51–69}}</ref>; Brückner/Thiersch<ref>{{Literatur |Autor=Margit Brückner, Hans Thiersch |Titel=Care und Lebensweltorientierung |Hrsg=Werner Thole u.a. |Sammelwerk=Soziale Arbeit im öffentlichen Raum |Verlag=VS Verlag |Ort=Wiesbaden |Datum=2005 |ISBN=978-3-322-89006-1 |Seiten=137 – 150}}</ref>).


=== Alltäglichkeit, Alltagswelten, Lebenslagen ===
Wie Thiersch es 2014 in einem Vortrag ausdrückte:<ref>{{YouTube|id=WPTOn8Tk2xw|m=15|sec=26|title=Hans Thiersch: Lebensweltliche Orientierung|abruf=2020-11-12}}</ref>
Lebensweltorientierte Soziale Arbeit hat ihren Ausgang in den Fragen nach dem Alltag ihrer Adressaten, nach deren eigenen alltäglichen Handlungs- und Deutungsmustern. Diese Fragen beziehen sich auf drei Ebenen. Auf der einen wird thematisiert, wie alle Menschen in ihren Lebensverhältnissen sich in der Welt finden und versuchen, mit ihrem Leben zurande zu kommen. Diese erste, gleichsam anthropologisch allgemeine Ebene der Alltäglichkeit konkretisiert sich – das ist die zweite Ebene – in Alltagswelten zum Beispiel der Familie, des Jugendlebens, der Schule und der Arbeit; in diesen Alltagswelten gelten die allgemeinen Muster alltäglicher Lebensbewältigung in der Unterschiedlichkeit der konkreten Gestaltungen. Beide, Alltäglichkeit und Alltagswelten, sind bestimmt – und das ist die dritte Ebene – durch soziale, kulturelle und materielle Strukturen, also durch die Lebenslagen (s. dazu auch Björn Kraus<ref>{{Literatur |Autor=Björn Kraus |Titel=Lebenswelt und Lebensweltorientierung – eine begriffliche Revision als Angebot an eine systemisch-konstruktivistische Sozialarbeitswissenschaft |Sammelwerk=Kontext. Zeitschrift für Systemische Therapie und Familientherapie |Nummer=37/02 |Verlag=Vandenhoeck & Ruprecht |Ort=Göttingen |Datum=2006 |Seiten=116–129}}</ref>). Die Vorderbühne von Alltäglichkeit und Alltagswelten ist durch die Hinterbühne der Lebenslagen geprägt; Alltäglichkeit und Alltagswelten sind die Schnittstelle des Alltäglich-Konkreten und des Gesellschaftlich-Strukturellen, des Subjektiven und des Objektiven. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit sieht den Alltag auf diesen drei Ebenen, sie setzt auf der Ebene der Alltagswelten in den Bewältigungsaufgaben der Alltäglichkeit an und agiert darin im Horizont der Lebenslagen, die die Alltäglichkeit und die Alltagswelten bestimmen.


==== Das Alphabet der Alltäglichkeit ====
{{Zitat|Und ich glaube, dass das ganz wichtig ist, dass man sich das bewusst macht, dass die Frage nach der Lebenswelt der Menschen zunächst die Frage ist, wie sie sich in diesem Code – ob sie mit ihrem Leben zurande kommen, ob sie es bewältigen oder nicht bewältigen – darstellen, wie sie unter der Frage, wie sie damit zurande kommen, die Wirklichkeit sehen und die Wirklichkeit gestalten. Ich zitiere eine Satz von Alfred Schütz, der, denke ich, für uns in der Wissenschaft ungeheuer provozierend ist, der gesagt hat: Im Alltag interessiert nicht die Frage der Kausalität, interessiert nicht die Frage der eindeutigen Definition, interessiert nicht die Frage wahr oder falsch, sondern es interessiert: Komme ich zurande oder nicht zurande. Der […] Zugangsmodus, der Bewältigungsmodus des Alltags ist pragmatisch: Komme ich zurande. Darin, wenn ich es richtig sehe, liegt für uns in der sozialen Arbeit die ungeheure Provokation. Wir haben es mit Adressaten zu tun, deren Lebenszugang nicht die nach wissenschaftlicher Rekonstruktion, nach Kausalbestimmung, nach eindeutigen Aussagen ist, sondern deren Interesse zunächst darin liegt: Kommen sie mit dem Problem, das sie haben, zurande oder nicht zurande. Indem wir in der Sozialarbeit mit ihnen zu tun haben, ist deutlich, dass sie dazu Hilfen brauchen, zum Beispiel wissenschaftlicher und professionell begründeter Art. Aber es kommt darauf an, dass diese Hilfe sich einfügt, in das Verstehen, das Erleben und in die Erfahrung, die die Menschen in ihrem Alltag haben, weil es ihnen sonst fremd bleibt. Das heißt, das eigentlich professionelle Problem […] ist: Wie kann ich vermitteln, die Welt […] der Logik des Alltags und der Lebensbewältigung mit „komme ich zurande oder nicht zurande“ […] aufklären, stützen, indem ich einer anderen Logik, nämlich einer professionell-wissenschaftlichen Logik, in meinen Berufsvollzügen folge. Wie kann ich beides aufeinander beziehen, und zwar so, dass ich damit diejenigen, die in ihrem Leben stecken und denen wir helfen wollen, nicht überfahre, vergewaltige oder – mit Jürgen Habermas geredet – kolonialisiere.}}
Die alltäglichen Bewältigungsmuster lassen sich in ihren Besonderheiten als Alphabet der Alltäglichkeit fassen. Im Alltag wollen die Menschen zurechtkommen, sie wollen zu essen haben, sie lieben ihre Kinder, sie sorgen sich umeinander, sie haben Angst vor Katastrophen. Diese Bewältigungsmuster zeigen ein spezifisches Verhältnis zur Wirklichkeit: Menschen finden sich in einer gegebenen sozialen Welt und ihren Handlungs- und Verstehensmustern, in ihnen wollen sie bestehen, sie übernehmen und verändern sie. Menschen finden sich in ihrem Leib, sie finden sich in einer in Zeit und Raum strukturierten Umwelt, in sozialen Beziehungen, sie verstehen und handeln in einem Ineinander von Gefühlen und Überlegungen. Sie suchen für die ihnen zukommenden Aufgaben Routinen, also Ordnungen, auf die sie sich verlassen können. Menschen handeln pragmatisch, sie wollen mit den gestellten Aufgaben zurechtkommen, sie agieren im Modus des Erledigens und wollen sich in ihm behaupten. Fragen nach Hintergründen und Bedingungen ihres Handelns treten demgegenüber zurück, es gilt die Bewältigung im Hier und Jetzt in der Unmittelbarkeit der eigenen Erfahrungen. Darin wollen sie sich vor den anderen und damit vor sich selbst achten können; sie suchen in ihren Erledigungsaufgaben in den Verhältnissen Anerkennung. In dieser Welt der Alltäglichkeit aber finden sie sich in Ambivalenzen. Menschen leben in einem Leib, der es ihnen möglich macht, Aufgaben zu erfüllen und sich gleichsam mit sich einverstanden zu erfahren, oder sie in Unzulänglichkeiten oder Krankheiten beschränkt; sie finden sich in einer Zeit, die strukturiert sein kann und Perspektiven eröffnet oder von der Angst vor einer ungewissen Zukunft bestimmt ist; sie finden sich in einem Raum, in dem sie für ihre Interessen einen Ort finden und sich zuhause fühlen, oder in einem Raum, in dem für sie kein Platz ist, der sie beengt oder ängstigt. Routinen können jene elementaren Sicherheiten darstellen, ohne die Menschen – und Kinder und Heranwachsende zumal – sich nicht in die Offenheit der Welt trauen können, sie können zugleich aber das Verhalten auf enge Gewohnheiten festlegen, einschränken und zur Angst vor Veränderung und Neuerung führen. Pragmatismen können das Leben erleichtern, können in Großzügigkeit, Verschlagenheit und Witz unübliche und hilfreiche Wege zur Problemlösung sehen, aber sie können auch zu einer Schlamperei führen, die alle Konzentration und weiterführende Anstrengungen unterläuft – „‘s passt schon“ ist hier die verharmlosende Maxime.


In dieser Ambivalenz sind die gegebenen Selbstverständlichkeiten die Basis der Lebenserfahrungen und Lebensaufgaben, sie müssen aber im Widerstreit zwischen bornierten, einengenden Möglichkeiten und offenen, freieren Möglichkeiten verstanden werden. Alltagserfahrungen sind – so Kosik<ref>{{Literatur |Autor=Karel Kosík |Titel=Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik der Menschen und der Welt |Verlag=Suhrkamp |Ort=Frankfurt am Main |Datum=1967}}</ref> – in ihrer Konkretheit zugleich „pseudokonkret“ und „Praxis“: die pseudokonkrete Unmittelbarkeit der Alltäglichkeit muss in ihrer Borniertheit aufgebrochen und destruiert werden, damit die in ihr gegebenen Möglichkeiten der Praxis freigesetzt werden können. So ist der Alltag bestimmt im Kampf gegen die rasche Zufriedenheit oder Resignation im Gegebenen, gegen die Tabuisierung und Verdrängung von Unzulänglichkeiten, die als Stigma versteckt werden und in der verängstigten Abwehr von Veränderungen; es geht um den Konflikt des Gegebenen mit dem Möglichen. Die Menschen haben ein Wissen, dass es auch anders sein könnte, freundlicher, besser; in der Erfahrung von Unzulänglichkeit, Trauer, Schmerz und Wut in den Verhältnissen geht es immer auch – mit Ernst Bloch geredet – um die Arbeit an der konkreten Utopie, „von der wir nichts haben, als die Bewegung daraufhin“[iii], es geht um das Gelingendere, um die Offenheit zu einem ‚gelingenderen Alltag‘, um Bewegungen hin zum Gelingenderen.
Thierschs Konzept einer „lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“ ist ein Versuch neben anderen (vgl. z. B. das Konzept einer [[Systemische Soziale Arbeit|systemischen Sozialen Arbeit]] von [[Peter Lüssi]] oder Mario Bunge), die [[Soziale Arbeit]] theoretisch zu begründen. Jedoch ist die Theoriediskussion in Deutschland in den letzten Jahren völlig auf sein Konzept eingeschwenkt, hat es weitergeführt, ausgearbeitet, vertieft und ergänzt. Spätestens seit dem [[Kinder- und Jugendbericht#8. Jugendbericht 1990|Achten Jugendbericht der Bundesregierung]] (BmfJFG 1990) gilt die „Lebensweltorientierung“ als ein zentrales Paradigma der Kinder- und Jugendhilfe, für die sie ursprünglich entwickelt wurde. Anfang der Jahrhundertwende ist das Konzept der Lebensweltorientierung in vielen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit ([[Behindertenhilfe]], Drogenhilfe, Obdachlosenhilfe, [[Psychiatrie]]…), in Theorie und Praxis aufgenommen worden und in stetigem Gebrauch. Dies verdeutlicht die Vielseitigkeit und Tragfähigkeit des Konzepts. Das Konzept Lebensweltorientierte Soziale Arbeit wurde immer wieder heftig kritisiert. Dafür lassen sich vor allem drei Gründe ausmachen.


==== Alltagswelten ====
# Es wurde verharmlosend verstanden und entsprechend schwach in der Praxis umgesetzt und führte so zu wenig theoretischer und praktischer Umorientierung.
Das Grundmuster eines Alphabets der Alltäglichkeit realisiert sich in den Alltagswelten, zum Beispiel in der Familie, in der Jugendwelt, in der Genderkultur, in der Schule oder in der Arbeit (siehe dazu auch Böhnischs Konzept von Milieus<ref>{{Literatur |Autor=Lothar Böhnisch |Titel=Milieu und Milieubildung |Verlag=Beltz Juventa |Ort=Weinheim/Basel |Datum=2023 |ISBN=978-3-7799-7558-8}}</ref>). Die Allgemeinheit des Grundmusters der Alltäglichkeit zeigt sich in der konkreten Unterschiedlichkeit der Lebenswelten, alles Verstehen bewegt sich in dieser Spannung des Allgemeinen und des Konkreten. Diese verschiedenen Alltagswelten werden im Nebeneinander und Nacheinander des Lebenslaufs erfahren, wichtig sind vor allem auch Übergänge zwischen den Lebenswelten, von der Familie in die Kindertagesbetreuung und die Schule usw.
# Es ließ manche Bereiche (z.&nbsp;B. betriebswirtschaftliche) völlig unterbelichtet, da es unter großem Zeitdruck entwickelt werden musste.<ref>Hans Thiersch hat in jüngster Zeit in mehreren Artikeln diese Kritik aufgegriffen und theoretisch nach gelegt. Vor allem aber hat er sein Konzept in seinen grundlegenden Forderungen präzisiert und radikalisiert.</ref>
# Es kam zu einem inflationären Gebrauch des Begriffes.


==== Lebenslagen''' ''' ====
{{Absatz|links}}
Alltäglichkeit und Alltagswelten sind geprägt durch die Strukturen der Gesellschaft, die als Lebenslagen verstanden werden. Ich deute in Stichworten an: Lebenslagen sind bestimmt durch die Machtverhältnisse, also die Unterschiede an materiellem und sozialem Kapital, sie sind bestimmt durch Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern und der kulturellen und sozialen Herkunft sowie durch die Imperative der Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft. Die virtuellen Welten werden mächtig und die ökologischen Perspektiven bedrohlich. Und: Die Gesellschaft bietet im Nebeneinander der Lebenswelten unterschiedliche Lebensformen an und darin die Möglichkeit eines eigenen, selbstbestimmten Lebensentwurfs, in der die Einzelnen sich in ihrer Eigenart als Person, in ihrer „Singularität“ (Reckwitz<ref>{{Literatur |Autor=Andreas Reckwitz |Titel=Die Gesellschaft der Singularitäten |Verlag=Suhrkamp |Ort=Frankfurt am Main |Datum=2019 |ISBN=978-3-518-58742-3}}</ref>) repräsentieren.


In diesen Konstellationen werden die Aufgaben der Alltagsbewältigung aufwendig und kompliziert: Der Mensch in seinem Leib wird sich zunehmend zu einer Aufgabe der Sorge und der Gestaltung bis hin zum Optimierungswahn, die Lebensmöglichkeiten in Zeit und Raum öffnen sich. Routinen sind nicht selbstverständlich, sie müssen begründet werden, Pragmatismen müssen ausgewiesen werden gegenüber den Erwartungen, dass Handlungen nachvollziehbar sind. Die Orientierung am Gelingenderen sieht sich der Offenheit und Konkurrenz unterschiedlicher Lebensentwürfe ausgesetzt. In diesen Konstellationen wird Alltagsbewältigung zur Auseinandersetzung zwischen der elementaren Gestaltung von Alltäglichkeit und offeneren Möglichkeiten. Menschen können sich wählen und müssen sich wählen, die Gestaltung des Lebenslaufs wird zum Risiko und Abenteuer der Freiheit.
Dies geht laut [[Björn Kraus]] mit einer {{"|begrifflichen Unschärfe, um nicht zu sagen Beliebigkeit einher.}}<ref>Björn Kraus: ''Lebenswelt und Lebensweltorientierung – eine begriffliche Revision als Angebot an eine systemisch-konstruktivistische Sozialarbeitswissenschaft.'' Kontext. Zeitschrift für Systemische Therapie und Familientherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Heft 37/02, 2006 S. 116–129. http://www.pedocs.de/frontdoor.php?source_opus=12387</ref> Auch Peter Fuchs und Bernd Halfar kritisieren die Anwendung der Begrifflichkeit der Lebensweltorientierung:


==== Belastungen und Krisen im Alltag ====
{{Zitat|So wurde der Begriff ‚Lebenswelt‘ ohne gründlichen Kontakt mit seinem phänomenologischen und sprachanalytischen Kontexten aufgegriffen. Nun liegt er geschunden und abgemagert vor, nur noch tauglich zu suggerieren, man hätte mehr gesagt, wenn man statt vom ‚Leben‘ eines Jugendlichen von seiner ‚Lebenswelt‘ spricht.|ref=<ref>Peter Fuchs, Bernd Halfar: ''Soziale Arbeit als System. Zur verzögerten Ankunft des Systembegriffs in der Sozialen Arbeit''. Blätter der Wohlfahrtspflege 3+4 2000, S. 56</ref>}}
Solches Leben in der Alltagsbewältigung kann misslingen, Menschen kommen in ihren Anstrengungen um Bewältigung nicht zurecht. Die Ressourcen reichen nicht, die Sicherheiten in der Arbeit, in der Familie und im Freundeskreis brechen weg. Menschen geraten in Überforderung, in Hilflosigkeit, in Angst und Panik; sie retten sich in bornierte Alltagswelten, sie sichern sich, indem sie sich gegen andere absichern und sie ausgrenzen. In Verzweiflung und Hilflosigkeit verhärten sie sich, sie entwickeln Ausweichstrategien, in denen sie sich nicht selten erst recht verfangen; soziale Konflikte, Verunsicherung, Beschämung, Angst bestätigen und verstärken sich gegenseitig. Anstrengungen um eine neue Sicherheit erscheinen eher als Zumutung. Menschen geraten in Einsamkeit oder in abseitige Vorstellungen und Lebensmuster, in Sucht oder psychische Erkrankung. In diesen Schwierigkeiten sucht lebensweltorientierte Soziale Arbeit die Menschen zu unterstützen.
[[Datei:Thiersch Kraus 2014 Grosse cc-by 4.0.jpg|mini|Hans Thiersch und Björn Kraus diskutieren ihre Zugänge zur Lebenswelt und Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit – 2014 in Freiburg]]
In Auseinandersetzung mit dieser Kritik entwickelt Kraus eine [[systemisch-konstruktivistische Perspektive]] der Lebensweltorientierung, welche durch die kontrastierende Gegenüberstellung von [[Lebenslage]] und Lebenswelt der „begrifflichen Unschärfe“ entgegenwirken soll.<ref>Björn Kraus: ''Lebenswelt und Lebensweltorientierung – eine begriffliche Revision als Angebot an eine systemisch-konstruktivistische Sozialarbeitswissenschaft.'' Kontext. Zeitschrift für Systemische Therapie und Familientherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Heft 37/02, 2006 S. 116–129. http://www.pedocs.de/frontdoor.php?source_opus=12387, Björn Kraus: ''Erkennen und Entscheiden. Grundlagen und Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus für die Soziale Arbeit''. Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2013. S. 152.</ref> Zu den Unterschieden und Anschlüssen der Lebenswelt-Theorien von Hans Thiersch und Björn Kraus fand im Jahr 2014 eine ausführlich dokumentierte Auseinandersetzung mit den beiden Theoretikern statt.<ref>Thiersch, Hans & Kraus, Björn (2014): {{Webarchiv|url=https://www.eh-freiburg.de/news-detail/zwei-perspektiven-hans-thiersch-und-bjoern-kraus-diskutieren-ueber-lebensweltliche-orientierung/426 |wayback=20170214101154 |text=Lebensweltliche Orientierung. Zwei Perspektiven im Gespräch. |archiv-bot=2019-09-17 11:23:03 InternetArchiveBot }}</ref>


=== Theoretischer Hintergrund ===
=== Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ===
Indem lebensweltorientierte Soziale Arbeit von den Schwierigkeiten im Alltag ausgeht, fragt sie nach Verhältnissen, die allen Menschen gemeinsam sind. Sie unterstützt Menschen in den Schwierigkeiten heutiger Normalität und vor allem die, die in diesen Schwierigkeiten besonders belastet sind und deshalb besondere Hilfen und einen besonderen Aufwand brauchen. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit erweitert damit den Adressatenkreis bis in die Mitte der Gesellschaft, sie wird Bestandteil der sozialen Kommunalpolitik. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit sieht ihre Adressaten in der Auseinandersetzung mit dem Alltag und setzt auf Unterstützung in Alltagsschwierigkeiten, sie findet im Kontext der kommunalen Hilfen ihr spezifisches Aufgabenfeld neben Schule/Ausbildung, Medizin/Psychiatrie, Polizei/Justiz. Weil dieses Aufgabenfeld aber – entsprechend der erst neueren Akzentuierung der alltäglichen Bewältigungsprobleme – sich erst im vorigen Jahrhundert formiert hat, bleibt die gesellschaftliche Stellung der Sozialen Arbeit unter den anderen sozialen und Bildungsagenturen bisher eher nachgeordnet und prekär.
# [[Phänomenologisch]]e Wurzeln
# [[Systemisch-konstruktivistische Perspektive]]
# [[Hermeneutik|Hermeneutisch]]-[[pragmatisch]]e [[Erziehungswissenschaft]]
# Kritische [[Alltagstheorie]]
# Analyse gesellschaftlicher Strukturen


Indem lebensweltorientierte Soziale Arbeit Menschen in ihrer Alltäglichkeit sieht, sieht sie sie nicht primär von sozialen Problemen oder Lebensschwierigkeiten aus, sondern versteht diese Schwierigkeiten als Anstrengungen der Lebensbewältigung, die unter gegebenen Umständen zu schwierigen und unglücklichen Lebensmustern führen. Erst darin und von da aus ergeben sich die besonderen Aufgaben der Hilfe und Unterstützung. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit wendet sich also im Verständnis ihrer Adressaten gegen die Definition der Menschen von solchen Problemen und Schwierigkeiten aus, analog dazu, wie die neuere Pädagogik nicht nach „Behinderten“, sondern nach „Menschen mit Behinderung“ fragt.
==== Phänomenologische Wurzeln ====
* Vertreter: [[Edmund Husserl]], [[Alfred Schütz]], [[Peter L. Berger]], [[Thomas Luckmann]], [[Erving Goffman]]
Ansatzpunkt ist auch hier wieder der [[Alltag]]. Dieser ist die ausgezeichnete [[Wirklichkeit]] für die Menschen und ist strukturiert durch die subjektiv erlebte Zeit, die erfahrenen Räume und die erlebten sozialen und kulturellen Bezüge. In der Bewältigung des Alltags formen sich [[Deutungsmuster]] und Handlungsstrategien, wird Bedeutsames von Unbedeutsamem unterschieden. Insofern prägt der Alltag die Menschen, aber prägen die Menschen auch den Alltag.


In ihrem Ansatz in den Bewältigungsaufgaben des Alltags sieht lebensweltorientierte Soziale Arbeit immer vor allem auch die Ressourcen, die Stärken und Potentiale, die in der Anstrengung um Lebensbewältigung und in der Lebenswelt gegeben sind. Diese Potentiale nimmt sie wahr, nutzt und stärkt sie. Sie sieht immer auch die indirekten Möglichkeiten von Hilfe und Unterstützung und stützt sie und agiert erst von da aus, gleichsam in sie eingebettet, in intensiveren sozialarbeiterischen Möglichkeiten.
==== Systemisch-konstruktivistische Lebensweltorientierung ====
* Vertreter: [[Björn Kraus]]
Der systemisch-konstruktivistische Lebensweltbegriff berücksichtigt dessen phänomenologische Wurzeln (Husserl und Schütz), greift diese auf und führt sie im Rahmen [[relational-konstruktivistischer]]<ref>Björn Kraus: Plädoyer für den Relationalen Konstruktivismus und eine Relationale Soziale Arbeit. in Forum Sozial (2017) 1 pp. 29–35 http://www.pedocs.de/frontdoor.php?source_opus=15381</ref> Theorienbildung weiter (womit die systemisch-konstruktistische Lebensweltorientierung wesentliche Grundlage der [[Relationalen Sozialen Arbeit]] ist).
Dabei wird ein Ansatz entworfen, der nicht nur die Perspektive eines egologischen Lebensweltbegriffs in den Blick nimmt, sondern der auch die u.&nbsp;a. von [[Jürgen Habermas|Habermas]] betonten Relevanz sozialer und materieller Umweltbedingungen zu berücksichtigen vermag. Die Grundlage hierfür ist die bei Kraus zentrale Grundannahme einer ''grundsätzlichen Doppelbindung menschlicher Strukturentwicklung.''<ref>Björn Kraus: ''Erkennen und Entscheiden. Grundlagen und Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus für die Soziale Arbeit''. Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2013, S. 66.</ref>


Diese liegen in der Chance der Distanz, die es erlaubt, die Verhältnisse auch von außen zu sehen und darin auch in ihren Hintergründen und Bedingtheiten zu erkennen und organisationelle Rahmungen und Räume zur Unterstützung und für Veränderungen zu öffnen und spezifische methodische Kommunikationsmuster zu nutzen. Soziale Arbeit sucht und findet in den Problemen der Adressaten die Ansatzpunkte für ihre sozialarbeiterischen Möglichkeiten, übersetzt sie in ihre Aufgaben und Möglichkeiten und entwirft und erprobt gemeinsam mit den Adressaten, welche Möglichkeiten hin zu einem gelingenderen Leben sich realisieren lassen.
{{Zitat|Einerseits ist die Lebenswirklichkeit eines jeden Menschen dessen subjektives Konstrukt, andererseits ist dieses Konstrukt nicht beliebig, sondern – bei aller Subjektivität – auf Grund der strukturellen Koppelung des Menschen an seine Umwelt – eben durch die Rahmenbedingungen dieser Umwelt beeinflusst und begrenzt.|ref=<ref>Björn Kraus: Macht – Hilfe – Kontrolle. Grundlegungen und Erweiterungen eines systemisch-konstruktivistischen Machtmodells. In: Björn Kraus, Wolfgang Krieger (Hrsg.): Macht in der Sozialen Arbeit – Interaktionsverhältnisse zwischen Kontrolle, Partizipation und Freisetzung. 4. überarb. u. erw. Auflage. Jacobs, Lage 2016, S. 101–130. Online verfügbar http://www.pedocs.de/frontdoor.php?source_opus=12325</ref>}}


Die Zugänge der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit müssen in unterschiedlichen Dimensionen bestimmt werden, durch allgemeine Struktur- und Handlungsmaximen, durch eine spezifisch geprägte Kommunikation zwischen Professionellen und Adressaten und durch eine spezifische Kultur der Organisationen. Diese drei Dimensionen sollen nacheinander skizziert werden.
Auf diesem Verständnis aufbauend, kann eine Trennung zwischen individueller Wahrnehmung sowie sozialen und materiellen Rahmenbedingungen vorgenommen werden. Kraus greift zwecks systemisch-konstruktivistischer Konkretisierung des Lebensweltbegriffs den Begriff der [[Lebenslage]] auf und stellt beide Begriffe kontrastiv gegenüber. Dabei gebraucht Kraus die konstruktivistische Unterscheidung zwischen [[Wirklichkeit]] wie [[Realität]].<ref>Vgl. Gerhard Roth: ''Die Selbstreferentialität des Gehirns und die Prinzipien der Gestaltwahrnehmung.'' In: Gestalt Theory Heft 7-1985. S. 228–244.</ref>


=== Struktur- und Handlungsmaximen ===
{{Zitat|Das Eine ist die subjektive Konstruktion unter den Bedingungen des Anderen. Mit anderen Worten: Die Lebenswelt ist ebenso die subjektive Konstruktion eines Menschen wie die Wirklichkeit und diese subjektive Konstruktion vollzieht sich unter den Bedingungen der Lebenslage bzw. der Realität.|ref=<ref>Björn Kraus: ''Erkennen und Entscheiden. Grundlagen und Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus für die Soziale Arbeit''. Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2013. S. 152.</ref>}}
Die Struktur- und Handlungsmaximen – Alltagsnähe, Regionalisierung/ Sozialraumorientierung, Prävention, Integration/Inklusion, Partizipation und Einmischung – sind zuerst 1990 im Achten Jugendbericht<ref>{{Internetquelle |url=https://www.bmfsfj.de/resource/blob/163072/ceeaefa98df48397c8fc1de70ba3741c/achter-jugendbericht-data.pdf |titel=8. Jugendbericht |hrsg=Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit |datum=1990 |abruf=2023-10-20}}</ref> dargestellt worden. Diese Maximen wurden im Laufe der Zeit weiterentwickelt, sie müssen angesichts der sich verändernden gesellschaftlichen und sozialpolitischen Situation immer wieder neu pointiert und erweitert werden.


====Alltagsnähe====
Diese kontrastierende Gegenüberstellung leistet eine begriffliche Präzisierung der Lebensweltorientierung und ermöglicht einen differenzierten Gebrauch (und damit eine Umorientierung der Praxis.) Somit kann im ersten Schritt die subjektive Erlebenswelt der Klienten begrifflich von deren materiellen und sozialen Bedingungen unterschieden werden, um dann in einem zweiten Schritt die Relevanz dieser Bedingungen für die subjektive Wirklichkeitskonstruktion in den Blick nehmen.


Mit Alltagsnähe – fundiert im Verstehen der Adressatinnen – wird ein Gestaltungsprinzip für sozialpädagogisches Handeln bezeichnet, das von der Präsenz der Sozialen Arbeit in der alltäglichen Lebenswelt der Adressaten ausgeht. Soziale Arbeit muss im Alltag erreichbar sein, es gilt das Primat der niedrigschwelligen ambulanten Hilfen. Entsprechend den unterschiedlichen Problemlagen entsteht das neue verzweigte Gefüge von Angeboten, in dem die Adressaten entweder in ihrem Alltag beraten, in ihrem Alltag gestützt und begleitet werden oder auch, wo es notwendig erscheint, in einem eigenen, wiederum lebensweltlich strukturierten Angebot Hilfen finden. Die Entwicklung eines Systems der flexiblen und integrierten Hilfen wird als Aufgabe gesehen.
Es stellt sich allerdings die Frage, wie sich an der Lebenswelt eines Menschen orientiert werden kann, wenn diese dessen subjektive [[Radikaler Konstruktivismus|Konstruktion]] ist? Einem außenstehenden Beobachter ist bestenfalls die Lebenslage zugänglich. Doch gerade diese Einsicht stellt einen entscheidenden Gewinn dar – sie verhindert nämlich vorschnelles Urteilen und die Idee, man könne nur über das Erfassen der Lebensbedingungen eines Menschen (Lebenslage) dessen subjektive Wirklichkeit (Lebenswelt) erkennen und verstehen. Diese Erkenntnis ist gewinnbringend für die soziale Arbeit, welche der Lebenswelt eines Menschen möglichst interessiert und urteilsfrei begegnen sollte. Beliebigkeit ist damit jedoch nicht gefordert. Es bleibt dennoch die Möglichkeit, den [[Adressat (Soziale Arbeit)|Adressaten]] beispielsweise Handlungsoptionen aufzuweisen oder Ideen über gelingendere Lebensführung vorzustellen. Nur können im Bereich der Hilfe Entscheidungen nicht mehr für, sondern nur noch mit den Adressaten getroffen werden. Nach diesem Verständnis ist die Klientel Experte in eigener Sache.


====Regionalisierung/ Sozialraumorientierung====
Allerdings weist Kraus darauf hin, dass dies nicht im Bereich der Kontrolle ([[Kindeswohl|Wächteramt des Staates]]) gilt, da in diesem Fall die Haltung der Neutralität zu enden hat. ''„Es gilt gesellschaftlichen Konsens durchzusetzen“''.<ref>Björn Kraus: ''Erkenntnistheoretisch-konstruktivistische Perspektiven auf die Soziale Arbeit.'' In: Wolfgang Krieger (Hrsg.): ''Systemische Impulse – Theorieansätze, neue Konzepte und Anwendungsfelder systemischer Sozialer Arbeit.'' 2010 S. 14.</ref> Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass diese Entscheidung nicht einer objektiven Wahrheit entspricht, sondern auf konsensuellen Übereinkünften als Ergebnis kommunikativer Aushandlungsprozesse basiert. (Die Auseinandersetzung mit den Grenzen und Möglichkeiten zwischenmenschlicher Einflussnahme innerhalb eines solchen Modells führt bei Kraus zur Entwicklung eines systemisch-konstruktivistischen Machtansatzes in dem er zwischen [[Björn Kraus#Konstruktivistische Machttheorie|„instruktiver Macht“ und „destruktiver Macht“]] unterscheidet.<ref>Vgl. Björn Kraus: ''Erkennen und Entscheiden. Grundlagen und Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus für die Soziale Arbeit''. Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2013. S. 126.</ref>)


In den letzten Jahrzehnten ist das Prinzip von Regionalisierung bzw. Sozialraumorientierung für die Soziale Arbeit in vielfältigen Aspekten konkretisiert worden. Regionalisierung meint zunächst die Orientierung der Angebote der Sozialen Arbeit an den räumlichen Gegebenheiten der unterschiedlichen Alltagswelten – der Familie, der Jugend, der Alten, der Stadt – und die Nutzung von Hilfen im regionalen Nahraum. Darüber hinaus zielt dieses Prinzip auf die Gestaltung von öffentlichen Räumen, die abgestimmt sind auf die jeweiligen Bedürfnisse und Interessen bestimmter Bevölkerungsgruppen, und es zielt ab auf die Stadtplanung sowie auf die Wohnungs- und Verkehrspolitik. In diesem Kontext setzt lebensweltorientierte Soziale Arbeit auf einen Lebensraum, der geprägt ist durch Kooperation und Koordination mit zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Dieses Prinzip der Regionalisierung/Sozialraumorientierung wird auch immer wieder als eigenes – neben der Lebensweltorientierung stehendes – Leitprinzip der Sozialen Arbeit ausgelegt, was dazu geführt hat, dass hier vielfältige Differenzierungen entwickelt wurden. Aber das Konzept Lebensweltorientierung insistiert darauf, dass Sozialraumorientierung eine Maxime unter den anderen ist, weil sie nur so der Komplexität in der heutigen Alltagsbewältigung gerecht wird.
==== Hermeneutisch-pragmatische Erziehungswissenschaft ====
* Vertreter: [[Wilhelm Dilthey]], [[Herman Nohl]], [[Erich Weniger]], [[Heinrich Roth (Pädagoge)|Heinrich Roth]], [[Klaus Mollenhauer]]
[[Pädagogik]] knüpft am [[Alltag]] und an der je individuell interpretierten [[Welt]] der Menschen an mit dem Ziel, diesen Alltag und die Menschen in ihrem Bewältigungshandeln besser zu verstehen, um dann wiederum über dieses tiefere [[Verstehen]] den Adressaten angemessener helfen zu können. Seit der mit Heinrich Roth in Verbindung gebrachten „realistischen Wende“ soll Pädagogik nicht mehr nur als theoretisch-philosophische Wissenschaft verstanden und praktiziert, sondern durch [[Empirie|empirische]] Forschungen untermauert werden.


Sozialraumorientierung bezieht sich aber nicht nur auf den real erfahrenen, sondern ebenso auf den virtuellen Raum, der virtuelle Raum ist eine Erweiterung der Lebenswelt. Hier lassen sich die Aufgaben angesichts des rasanten Tempos der Entwicklungen kaum überschauen. Die neuen Kommunikationsformen, die Fülle der verfügbaren Informationen und der in ihnen wirksamen (in den spezifischen Algorithmen strukturierten) Verständnis- und Handlungsmuster verlangen neue Entscheidungskompetenzen. Das Verhältnis von realem und virtuellem Raum muss im Wissen um die unterschiedlichen Strukturprinzipien und Kommunikationsformen neu bestimmt werden. Da sich in der Verfügbarkeit und Nutzung der Medien ressourcenbestimmt neue gravierende Ungleichheiten zeigen, gilt es auf Gerechtigkeit in den Zugängen zu insistieren.
Roths Assistent Klaus Mollenhauer läutete schließlich die „kritische Wende“ der Pädagogik ein und formulierte [[Emanzipation]] als vorrangiges Ziel von Pädagogik: den Adressaten zu helfen, sich von überkommenen Verhältnissen zu emanzipieren.


==== Kritische Alltagstheorie ====
====Prävention====
* Vertreter: [[Ágnes Heller]], [[Karel Kosík]], [[Pierre Bourdieu]]
Die kritischen Alltagstheoretiker betonen, dass man den Alltag nicht romantisch verklären darf, nur weil auf den ersten Blick alles irgendwie klappt. Vielmehr ist der Alltag doppelbödig: Einerseits entlasten pragmatische Routinen, bieten Sicherheit, ermöglichen Produktivität, andererseits erzeugen sie aber auch Enge und Engstirnigkeit, Unbeweglichkeit, und behindern menschliches Leben in seinen [[Grundbedürfnis]]sen und Möglichkeiten. Einerseits finden Kämpfe um bessere Lebensverhältnisse statt, motiviert durch Bedürfnisse, Träume, Hoffnungen oder Wut, andererseits verzagen Menschen auch aus Trauer und Resignation.


Prävention will Menschen befähigen, Herausforderungen in den Möglichkeiten und Bedrohungen einer prinzipiell offenen Zukunft möglichst gut zu bewältigen. Prävention ist in der Sozialen Arbeit – ebenso wie in der Pädagogik – zunächst eine Selbstverständlichkeit: Es geht um die Gestaltung einer gelingenderen Gegenwart, um von hier aus Voraussetzungen für die Bewältigung weiterer, zukünftiger Aufgaben zu schaffen, es geht um die Gestaltung des Alltags im Horizont des Gelingenderen. Prävention bezieht sich auf Bewältigungsaufgaben im Horizont von Zeit. Neben dieser grundlegenden primären Prävention meint sekundäre Prävention die besondere Achtsamkeit auf absehbare problematische Entwicklungen, die etwa durch Situationen der Not und Verarmung, der Verunsicherung, der besonderen Belastungen in Krisen gegeben sind. Tertiäre Prävention meint die nachgehenden Unterstützungen in der Rückkehr in wieder „normale“ Lebensverhältnisse.
Lebensweltorientierte Sozialpädagogik muss also den Alltag und die [[Ressource]]n respektieren, aber auch Engstirnigkeiten und Verfahrenes konstruktiv [[Kritik|kritisieren]] und verborgene Chancen aufzeigen. Dafür muss sie die Balance in Widersprüchen finden – mit dem Ziel eines gelingenderen Alltags.


In der neuen Diskussion führt das Wissen um die Gefährdungen zur sexualisierten Gewalt zu neuer gesteigerter Aufmerksamkeit und zu differenzierten Arrangements im Kinder- und Jugendschutz, aber auch in den Regelungen des professionellen Handelns. So sehr damit die Aufgaben von Prävention neu gewichtet werden müssen, so bleibt doch bestehen, dass Prävention in sich ambivalent ist: Wenn sich der Blick in die Zukunft auf Risiken und Gefährdungen konzentriert, dann kann das dazu führen, dass das Leben nur im Horizont möglicher Katastrophen, gleichsam vom „worst case“ aus, gesehen wird und dass die in den Bewältigungsmustern des Alltags angelegten Potenziale übersehen und nicht genutzt werden. Belastete Situationen erscheinen dann prinzipiell als Risiko, dem es vorzubeugen gilt, so es das Versicherungsdenken mit seinen immer neuen und absichernden Arrangements der Vorsorge verlangt. Und schließlich: Prävention als Aufgabe, sich auf drohende und absehbare Gefährdungen einzustellen und ihnen entgegenzuwirken, gewinnt eine neue und elementare Bedeutung angesichts der ökologischen und klimatischen Entwicklungen und der damit auf uns zukommenden neuen sozialen Verwerfungen. Der Mensch ist im Alltag auf seine Bewältigungsaufgaben im Hier und Jetzt konzentriert und deshalb unwillig, sich darüber hinaus auf die Verhältnisse einer ferneren Zukunft einzustellen. Hans Jonas hat dagegen schon vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass wir eine Ethik brauchen, in der es nicht nur um die Gestaltung von Gegenwart, sondern um Gegenwart im Horizont von Zukunft geht. So evident im Alltag der Unwille ist, die gegebenen Verhältnisse zu überschreiten, so deutlich sind gerade hier auch die vielfältigen Notwendigkeiten und Möglichkeiten, sich auch in den Alltagsgewohnheiten und Selbstverständlichkeiten neu zu orientieren (Böhnisch)
==== Analyse gesellschaftlicher Strukturen ====
Alltag findet in der Lebenswelt statt: Diese Lebenswelt ist immer schon vorgeprägt durch die [[Gesellschaft (Soziologie)|Gesellschaft]], die Lebenswelt ist wie die Bühne in einem Theater, auf der sich das Leben abspielt, wobei das Leben auf der Bühne durch die Vorgaben hinter den Kulissen bestimmt wird (z. B. Rollenmuster von Frau und Mann). In der Lebenswelt treffen also [[Objektivität|objektive]] gesellschaftliche Ansprüche und Vorgaben auf [[Subjektivität|subjektiv]] persönlich-individuelle Muster und Bedürfnisse. Die Lebenswelt stellt also gleichsam die Schnittmenge dar, in der sich das befindet, was in einem jeweiligen Leben möglich ist.


====Integration/ Inklusion====
Deshalb benötigt die [[Soziale Arbeit]] für ihr [[Soziales Handeln|Handeln]] umfangreiches Wissen über materielle, soziale, ideologische [[Ressource]]n z.&nbsp;B. [[Arbeit (Philosophie)#Aufhebung des Arbeitsbegriffs seit Mitte des 20. Jahrhunderts|Arbeitswelt]], [[Geschlechterrolle]]n, [[Migration (Soziologie)|Migrationskultur]], [[Armut]]/ [[Reichtum]] etc. und über den je individuellen Umgang der Betroffenen damit. Dieses Wissen erhält die Soziale Arbeit über [[Empirie#Empirische Forschung und alltägliche Erfahrung|empirische Forschungen]].


Die Aufgaben, die sich aus dem Verhältnis der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen in der Alltäglichkeit und der Unterschiedlichkeit der Alltagswelten stellen, lassen sich mit den Begriffen Integration bzw. Inklusion bezeichnen. Die Frage nach der Inklusion bezieht sich zunächst auf Menschen mit Behinderungen, auf Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund und unterschiedlicher geschlechtlicher Orientierung; sie erweitert sich zu den generellen Fragen der Diversität und den Erkenntnissen der Intersektionalität. Inklusion fordert die Ansprüche und Rechte unterdrückter und benachteiligter Gruppen ein, deren Leben durch die machtvolle Selbstbehauptung der „Normalen“ und Erfahrungen der Stigmatisierung, Demütigung, Beschämung und Entwürdigung beeinträchtigt ist und sieht darin vor allem auch eine Aufgabe der „Normalen“. Unterhalb einer wohlfeilen Unterstellung, dass das Postulat der Gleichheit schon die Realisierung der Gleichheit bedeute, wird es in der Dramatik der Auseinandersetzungen um die Gestaltung des Alltags (im Zusammenspiel neuer gesetzlicher Vorgaben und deren Umsetzung in die Alltäglichkeit der Lebensgestaltung, des Lernens, Wohnens und Arbeitens) darauf ankommen, die prinzipielle Gleichheit aller mit dem Respekt und der Aufmerksamkeit für die Unterschiedlichkeiten und die damit gegebenen besonderen gesellschaftlichen und alltäglichen Aufgaben zu vermitteln. Es gilt der Grundsatz, dass alle Menschen gleich sind und ihnen gleiche Rechte zustehen, dass aber die jeweiligen Unterschiede und Eigenheiten respektiert und anerkannt werden müssen und dass, wo es nötig ist auch Unterstützungen institutionalisiert werden.
=== Menschenbild ===
Der Mensch findet sich in einer schon vorhandenen, schon vor ihm von anderen Menschen geprägten [[Welt]] vor:
* Er erfährt diese Welt nicht unmittelbar, so wie sie ist, sondern gefärbt durch die bereits vorhandenen und vorgegebenen Muster, „Welt“ wird ihm vermittelt ([[Symbol]]e und Materialisierung von Werten), und zwar im alltäglichen Leben: als offene versus geschlossene Räume, als geordnete versus chaotische Zeit, als verlässliche versus fragile, sowie als stützende, fördernde versus belastende und unterdrückende [[Soziale Beziehung|Beziehungen]] und Kultur.
* Der Mensch will sein Leben leben, seine [[Bedürfnis]]se und Träume erfüllen, versucht sich in den vielfältigen Aufgaben zu bewähren und diese irgendwie zu meistern, ist darin immer relativ geschickt (noch ungeachtet dessen, was nachvollziehbar oder vernünftig ist), manchmal bleibt er aber hinter seinen Möglichkeiten und denen der Welt um ihn herum zurück.
* Weil das so ist, muss eine lebensweltorientierte Soziale Arbeit kritisch sein: muss sie grundsätzlich den Arrangierungsleistungen der Menschen Respekt entgegenbringen, aber auch [[Elend]] und [[tabu]]isierte [[Macht]]- und [[Unterdrückung]]sstrategien sehen und Veränderungen anregen und provozieren (dieses Ausbalancieren erfordert [[Taktgefühl|Takt]]).


Die Frage der Integration/Inklusion als allgemeines gesellschaftliches Prinzip gewinnt in den derzeitigen Verhältnissen neues und dramatisches Gewicht. Alltäglichkeit insistiert auf der Unhintergehbarkeit der je eigenen, konkreten Erfahrungen. Die Unübersichtlichkeit und Verunsicherung der gegebenen Verhältnisse führt zu Formen einer aggressiven Desintegration. Man weiß, was Sache ist, man hat es gesehen und erlebt, man ist unmittelbar berührt, die Freunde sehen es ebenso; wer es anders sieht, ist fremd und anders, man grenzt sich ab und die anderen aus – ein solches Denken verbindet sich dann immer wieder mit altautoritären, demokratiefeindlich rechten, fremdenfeindlichen und antisemitischen Begründungen. Die „Blasen“ in den sozialen Medien und die populistischen Ideologien lassen diese Tendenzen zu einer Macht werden, die die Integration gefährdet. Dagegen braucht es eine dezidierte Destruktion dieser bornierten Alltagserfahrungen, eine entschiedene Konfrontation mit dem Gelingenderen im Horizont der Menschenrechte, gestützt durch die unbedingte Verpflichtung zur Faktenprüfung.
=== Arbeits- und Selbstverständnis ===
Das Arbeits- und Selbstverständnis des Konzepts zeichnet sich vor allem durch folgende Überlegungen aus:


====Partizipation====
;1. versteht sich als professionell und selbstkritisch handelnde
* [[Profession]]ell, weil [[Ehrenamt]] allein heute nicht mehr zur Bewältigung der sozialen Probleme ausreicht, darin aber
* immer misstrauisch gegenüber [[institution]]ellen und professionellen Entwicklungen, weil diese dazu neigen, sich zu verselbständigen und von den Problemen des Alltags zu [[Entfremdung|entfremden]].
* D.h. lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist immer selbstkritisch und betont immer wieder, dass man an den Erfahrungen, dem Selbstverständnis und den Bewältigungsaufgaben der Adressaten anknüpfen muss.


Eine weitere Maxime für die lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist das gemeinsame Engagement aller Beteiligten in der Verhandlung und Gestaltung gemeinsamer Aufgaben; sie repräsentiert sich in unterschiedlichen Bereichen unterschiedlich und ist gegenwärtig ein wichtiges Entwicklungselement in verschiedenen Arbeitsfeldern. Partizipation in der Bedeutung von „Einbeziehung“, „Teilhaben-Lassen“ hat auch den Ton von gönnerhaftem Gewähren. Gemeint ist dagegen die Beteiligung der Adressaten an den sie betreffenden Entscheidungen und die Mitwirkung und Mitgestaltung ihrer lebensweltlichen Belange. Das verlangt die Institutionalisierung der Interessenvertretung der jeweils Betroffenen, wie es z.B. in der Kooperation mit Eltern und Ehemaligen (den Care-Leavern) in der Heimerziehung arrangiert wird, aber auch in der zunehmenden Einrichtung von Ombudsstellen.
;2. zielt auf soziale Gerechtigkeit
* [[Soziale Gerechtigkeit]] bedeutet, dass die Chancen, an der [[Gesellschaft (Soziologie)|Gesellschaft]] und ihren Möglichkeiten teilzuhaben, gerecht verteilt sein müssen (jeder muss grundsätzlich mitmachen und mitbestimmen können),
* was das heißt, muss im jeweiligen Fall ausgehandelt werden, ist aber nicht beliebig, sondern an den Zielen [[Solidarität]], Produktivität/ Kreativität, sinnvolles Leben und [[Autonomie]] orientiert.


====Einmischung====
;3. mischt sich ein in die Gestaltung der Rahmenbedingungen
* Weil das Geschehen auf der Bühne von den Vorgaben hinter den Kulissen bestimmt wird, kann Soziale Arbeit nicht bloß vorne herumbasteln und sozusagen die „Schauspieler reparieren“, sondern muss auch hinter die Kulissen gehen und sich dort einmischen und Verhältnisse verändern.
* Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist [[politisch]].


Die Maxime der Einmischung thematisiert die Position der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit im Gefüge des Sozialstaats und in der Gesellschaft, wobei Einmischung auf unterschiedlichen Ebenen praktiziert wird. Einmischung insistiert darauf, dass Unterstützungen auf der Vorderbühne der alltäglichen Bewältigungsmuster immer offen sein müssen zur Gestaltung und Veränderung der Hinterbühne und der sie bedingenden Verhältnisse. Sie stärkt und ermutigt die Adressaten, sie verlangt die politische Anwaltschaft der Sozialarbeiter für die Probleme ihrer Adressaten in den politischen Auseinandersetzungen. Der Terminus „Einmischung“ betont die Aufgabe, in politischen Gremien Gehör und Möglichkeiten zur Mitwirkung zu erlangen; die Politik der Coronakrise und die in ihr gegebene beschämende, ja skandalöse Nachrangigkeit der Fragen alltäglicher Bewältigungsprobleme und -leistungen hat dieses Defizit gerade ja noch einmal drastisch deutlich gemacht.
;4. balanciert Respekt und Provokation aus, ist dabei parteilich für die Adressaten
* Lebensweltorientierte Soziale Arbeit zeigt [[Respekt]] vor Lebensbewältigungsleistungen, auch wenn diese – aus der Sicht des „Normalbürgers“ – ungewöhnlich und heikel wirken,
* zeigt Respekt vor Lebensinteressen der Individuen,
* aus diesem grundlegenden Respekt heraus provoziert sie, kritisiert sie, öffnet sie für Veränderungen im Sinne der [[Adressat (Soziale Arbeit)|Adressaten]],
* hilft zuallererst den Adressaten in den Problemen, die sie für sich haben, und nicht etwa der Gesellschaft in den Problemen, die diese mit den Adressaten hat.
* Lebensweltorientierte Sozialpädagogik ist Anwalt ihrer Adressaten.


Einmischung aber muss auch zu '''Kooperationen''' in Projekten führen, die den eigentlichen Aufgabenbereich der Sozialen Arbeit überschreiten. Die Entwicklung solcher Kooperationen ist in den letzten Jahren vor allem auch dadurch vorangetrieben worden, dass Bewältigungsprobleme zunehmend als Problem auch in anderen Institutionen deutlich geworden sind: Schule erfährt, dass ihr eigener spezifischer Auftrag der curricularen Vermittlung von Bildung eingebettet sein muss in neue Formen des Verständnisses und der Arbeit an den lebensweltlichen Bedingungen heutiger Heranwachsender. Schulsozialarbeit wird in den vielfältigen Formen der Beratung und eigener Projekte Bestandteil des Bildungsangebots, darüber hinaus entstehen Ganztagsschulen, Konzepte für Bildungslandschaften und spezifische sozialarbeiterische Hilfen in Familien. Neue Entwicklungen innerhalb der Jugendberufshilfe weisen ebenfalls in die Richtung einer zu intensivierenden Kooperation. Die sonderpädagogische Arbeit mit Menschen mit Behinderung öffnet sich zu lebensweltorientierten Perspektiven. Medizin und Psychiatrie lernen, dass der Umgang mit der Krankheit neben der medizinischen Versorgung eigene lebensweltliche Aufgaben des Umgangs mit der Krankheit stellt. Zwischen Sozialarbeit und Jugendpsychiatrie gibt es vielfältige und bewährte Muster der Kooperation. Die Sozialpsychiatrie wird ein neuer, großer Arbeitsbereich in der psychiatrischen Versorgung; die Kooperation mit der Justiz/Polizei repräsentiert sich nicht nur in der Organisation interdisziplinärer, gemeinsamer Verhandlungen, sondern auch in Konzepten zur Koordination von Gefängnis- und Gemeinwesenarbeit.
;5. arbeitet mit dem Medium Aushandeln und Verhandeln
* Weil die [[Welt]] „je meine Welt“ ist, weil Leben heute freier ist als früher und mehr Möglichkeiten bereithält, muss über die Art des Zusammenarbeitens und über die Ziele der [[Intervention (Pädagogik)|Interventionen]] gesprochen werden, kann man nicht über die Adressaten hinweg bestimmen. Weil die Welt des Sozialpädagogen nur seine Welt ist und seine Sicht der Dinge nur seine eigene und deshalb nicht schon besser, richtiger, wertvoller als die der Adressaten.
* Lebensweltorientierte Sozialpädagogik arbeitet nicht ''an'' den Menschen, sondern ''mit'' den Menschen.


In allen diesen Kooperationen kommt es drauf an, dass lebensweltorientierte Soziale Arbeit ihren eigenen Ansatz, am Alltag der Adressaten anzusetzen und deren Probleme kompetent zu bearbeiten, selbstbewusst einbringt und dass sie sich gegen die Zumutung wehrt, nur Zuarbeit zu leisten (Natürlich, so heißt es immer wieder, brauche es die Alltagsgeschäfte, aber das Eigentliche leisteten die jeweils zuständigen Professionen.) Soziale Arbeit muss um des Anspruchs der Adressaten auf Entfaltungsmöglichkeiten und entsprechende Bearbeitung ihrer Alltagsprobleme auf der Verhandlung zwischen gleichberechtigten Positionen bestehen.
;6. stärkt dafür methodisch fundiert die Position der Adressaten
* Weil Adressaten gerade im Aushandeln nicht immer die kompetentesten sind bzw. sich auch in Organisationsformen fügen müssen, die sie allein durch die Form der Organisation schon in unterprivilegierte, einschüchternde Positionen bringen, muss die Soziale Arbeit dafür Sorge tragen, dass das Eigeninteresse und Selbstverständnis der Adressaten auch wirklich zur Sprache kommt, und nicht nur die Sicht der Profis, die diejenige der Adressaten unter sich begräbt.


===Professionelles Handeln===
=== Struktur- und Handlungsmaximen nach Hans Thiersch ===
[[Hans Thiersch]] schlägt insgesamt neun Richtziele vor, an denen sich die [[Soziale Arbeit]] insgesamt orientieren und weiterentwickeln soll. Sie wurden auch im 8. Jugendbericht veröffentlicht. Diese Richtziele nennt er [[Struktur]]- und Handlungsmaximen. Sie sollen im Folgenden am Beispiel der [[Kinder- und Jugendhilfe]] vorgestellt werden:


Soziale Arbeit ist in weiten Bereichen Kommunikation zwischen Sozialarbeitern und Adressaten. Das Handlungsprofil der Sozialarbeiter ist in spezifischer Weise bestimmt.
==== Prävention ====
Angebote einer lebensweltorientierten Kinder- und Jugendhilfe sollen so gestaltet werden, dass es zu schlimmen Konflikten und [[Krise]]n im Leben von Kindern und Jugendlichen erst gar nicht kommt. Um das zu erreichen, soll Kinder- und Jugendhilfe
* daran mitwirken, solche Verhältnisse in Deutschland zu schaffen, die allgemein stabil sind und ein lebenswertes Leben ermöglichen. Und
* vorbeugende Hilfeangebote für solche besonderen Situationen bereithalten, die erfahrungsgemäß belastend sind und sich zu Krisen auswachsen und sich zuspitzen können (vorhersehbare Übergangsphasen im Leben wie z.&nbsp;B. Eintritt in den [[Kindergarten]] oder Einschulung, aber auch unvorhersehbare Veränderungen in der Lebenswelt von Kindern wie z.&nbsp;B. [[Scheidung]] der Eltern oder Schicksalsschläge wie Krankheit und Tod).
Bei aller Betonung von [[Prävention]] gilt jedoch, dass natürlich auch für solche Kinder und Jugendliche und ihre Familien Hilfen organisiert und bereitgehalten werden müssen, die trotz präventiver Arbeit in schwierige und belastende [[Lebenslage]]n geraten sind.


====Zum Handlungsprofil der Professionellen====
==== Regionalisierung / Dezentralisierung ====
[[Datei:Dezentralisierung.jpg|miniatur|Dezentralisierung/Regionalisierung]]
Lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe soll
* ihre Angebote und Hilfen mehr und mehr in die sich bereits vor Ort befindlichen und organisierten Angebote und Möglichkeiten einbetten (also in vor Ort schon vorhandene [[Heimerziehung|Heime]], Tagesstätten, aber auch Vereine, private Initiativen und Gruppierungen) und
* neue Hilfsmöglichkeiten vor Ort entwickeln, wenn es sich zeigt, dass die bereits vorhandenen Angebote nicht ausreichen.
Es gilt also, überregionale zentrale Großeinrichtungen mit einem weiträumigen Einzugsgebiet in Zukunft zu verhindern bzw. zu reduzieren zugunsten von kleineren Einrichtungen vor Ort („Kleinstheim um die Ecke“).
Damit sich eine [[region]]al verortete Kinder- und Jugendhilfe nicht selbst schwächt, muss sie sich jedoch auch überregional koordinieren und vernetzen.


Zunächst ist es wichtig darauf zu insistieren, dass Sozialarbeiter wie die Adressaten in ihrem Alltag agieren. Die in der Gemeinsamkeit der Alltäglichkeit angelegten Möglichkeiten eines elementaren Verstehens sind die Basis produktiver Kommunikation zwischen Sozialarbeitern und Adressaten, die aber durch Wissenschaft und Erfahrung gestützt und reflektiert werden muss. Die fachlichen Voraussetzungen des professionellen Handelns können näher bestimmt werden durch die Begriffe Liebe, Vertrauen, Neugier und Zumutung. – Liebe meint die unbedingte Anerkennung des Menschen in seinem Selbstverständnis und Eigensinn, so wie er ist. – Vertrauen steht für die unbeirrbare Erwartung, dass Veränderungen und Verbesserungen möglich sind, dass, in der traditionellen Sprache der Pädagogik geredet, Menschen bildsam sind und nicht als hoffnungslos oder verloren verstanden werden dürfen. – Neugier bedeutet die Aufmerksamkeit für die Interessen und Eigensinnigkeiten der Adressatinnen, also dafür, wie Menschen sich aus ihren eigenen Möglichkeiten und ihrer Zielstrebigkeit oft auch gegen die Erwartungen der Professionellen entwickeln können. – Zumutung schließlich thematisiert die in aller gemeinsamen Arbeit gegebene Repräsentation des Ziels eines gelingenderen Lebens, wie es als konkrete Utopie von Gerechtigkeit und Solidarität im Horizont von Menschenrechten gefasst ist.
==== Alltagsorientierung ====
Die Maxime der Alltagsorientierung bedeutet fünferlei:
* Lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe muss nicht nur regional erreichbar sein (siehe oben), sondern auch im [[Alltag]] der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien zugänglich sein. Das heißt, dass alle Barrieren abgebaut werden müssen, die diesen leichten Zugang zu Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe verhindern (organisatorische, zeitliche, institutionelle Barrieren wie z. B. unpassende und unflexible Öffnungszeiten, umständliche Anmeldungsregeln, kalte und unpersönliche Räumlichkeiten,…). Es müssen also freundlich-offene, entgegenkommende, sogenannte [[niedrigschwellig]]e Angebote geschaffen werden.
[[Datei:Systemischer blick.jpg|miniatur|Systemisch-ganzheitlicher Blick]]
* Lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe sieht das Kind/ den Jugendlichen [[Ganzheitlichkeit|ganzheitlich]] und situationsbezogen, d.&nbsp;h. nicht nur das einzelne Kind/ den einzelnen Jugendlichen, sondern sieht es/ ihn verflochten in ein ganzes Netz von wechselwirksamen Kräften. Sie erweitert ihren Blick also vom einzelnen Individuum auf das ganze „[[Soziales Feld|Feld]]“ von mit ineinander verwobenen individuellen, sozialen und politischen Faktoren. Sie sieht das Kind/ den Jugendlichen als „[[Symptomträger]]“, also als jemanden, der durch sein vordergründig auffallendes Handeln (meist unbewusst) auf dahinterliegende, versteckte Probleme und Schwierigkeiten des ganzen [[System]]s (der Familie, der Schule, des Gemeinwesens, der Arbeitswelt,…) verweist.
* Alltagsorientierung bedeutet ferner, dass Kinder- und Jugendhilfe in ihrer Arbeit an die individuellen, [[subjektiv]]en und persönlichen Muster des Erlebens, Deutens und Handelns der Kinder und Jugendlichen anknüpft. Lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe tritt also nicht als fachlich und beruflich ausgewiesener „Experte“ („Besserwisser“) auf, der vorgibt und festlegt, wie Situationen und Probleme „[[Objektivität|objektiv]] richtig“ zu deuten und zu „managen“ sind, sondern als Partner, der sich einlässt auf die Gefühle, Meinungen und Weltbilder der Kinder und Jugendlichen und auf das, was sie schon können, auf ihre Stärken und [[Kompetenz (Psychologie)|Kompetenzen]].
* Lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe ist [[pragmatisch]]. Sie orientiert sich am Kleinen, Unscheinbaren, am Alltäglichen, an Typisierungen und Routinen, die sicherstellen, dass man im Alltag zurande kommt.
* Bei alledem ist lebensweltorientierte Kinder und Jugendhilfe dennoch kritisch gegenüber romantisierenden Verklärungen von Alltag. Sie weiß, dass Alltag oft vordergründig „funktioniert“, aber bei genauem Hinsehen doch ungerecht, unterdrückend, stumpfsinnig und vieles mehr ist. Und dass das im Alltag scheinbar gelingende Leben hinter dem zurückbleibt, was eigentlich möglich wäre. Lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe nimmt also das Leben in seinem Eigensinn ernst, zielt aber immer auf einen noch „gelingenderen Alltag“, d.&nbsp;h. sie arbeitet daran, den Kindern und Jugendlichen ein freieres, kreativeres, sinnvolleres und solidarischeres Leben zu ermöglichen.


Dass professionelles Handeln in den Aufgaben der Zumutung anspruchsvoll ist, ist evident. Hier lastet auch die Geschichte der Sozialen Arbeit schwer auf der Gegenwart, zumal die alten autoritären Muster unter vielfältigen Vorwänden immer wieder reaktiviert werden. Vor allem aber legt die für unsere Zeit so charakteristische Offenheit in der normativen Orientierung Zurückhaltung nahe, man begnügt sich nicht selten mit professioneller Distanz. Aber dadurch ist die der Sozialen Arbeit aufgegebene Verantwortung für die Zumutung des Gelingenderen nicht aufgehoben. Und sie ist noch einmal prekär darin, dass Sozialarbeiter sich in ihrem Handeln immer gebunden wissen an die lebensweltlichen Verhältnisse der Adressaten. Manche brauchen auch vor allem Unterstützung darin, dass sie ihre Verhältnisse der Abhängigkeit, der Krankheit, des Alters, der Trauer und des nahenden Tods aushalten.
==== Integration/Normalisierung ====
Integration als Leitidee bedeutet, dass alle speziellen Angebote und Hilfen für Kinder und Jugendliche zurückgedrängt werden müssen, bei denen die Gefahr groß ist, dass Kinder und Jugendliche verdrängt und ausgesondert werden (Heime und Schulen für „Schwererziehbare“, „geistig Behinderte“, „Lernbehinderte“, Sonderpädagogiken). Demgegenüber müssen die normalen Hilfen und Angebote so gestaltet und ausgestattet werden, dass in ihnen auch Kinder und Jugendliche mit besonderen Problemen bzw. mit sogenanntem „besonderem Hilfe- und Förderbedarf“ integriert werden können.


Sozialpädagogisches Handeln kann seine Ziele nur realisieren im Wissen darum, dass es als unterstützendes und helfendes Handeln riskant ist. Wenn Professionelle mit ihrer Expertise etwas bieten, was andere brauchen, agieren sie strukturell asymmetrisch. Sie wollen helfen, sie dringen – pointiert geredet – in die Alltagswelt der Adressaten ein. Dass diese dagegen auch Widerstand leisten, dass sie misstrauisch und ängstlich sind, dass sie erproben, ob das, was die Sozialarbeiter ihnen bieten, auch wirklich hilfreich ist, ist zunächst selbstverständlich. Sie haben oft ja Geschichten der Enttäuschung, Abwehr und Resignation hinter sich, auch im Umgang mit Sozialer Arbeit.
Normalisierung bedeutet, die Bandbreite für eigensinnige, unterschiedliche und manchmal auch ungewöhnliche Lebenskonstellationen und -entwürfe zu erweitern, also dafür zu sorgen, dass das Maß dessen erweitert wird, was gesellschaftlich für „normal“ erachtet und infolgedessen toleriert wird (vgl. dazu den Artikel „[[Inklusive Pädagogik]]“).


Die Professionellen haben Macht, die schon darin angelegt ist, dass sie über Entscheidungsbefugnisse verfügen, mit denen sie die Adressaten in die Muster und Möglichkeiten der Sozialen Arbeit einpassen können. Man sieht, pointiert formuliert, den Menschen in den vorgegebenen Mustern der fachlichen Möglichkeiten, man sieht den „sozialpädagogischen Fall“. Und: Macht bietet immer auch Gelegenheit zur direkten Gewalt und, wie es neuerdings so schrecklich deutlich wird, zur sexualisierten Gewalt.
==== Partizipation/Demokratisierung ====
[[Datei:Teilhabe-dimensionen.jpg|miniatur|Dimensionen von Partizipation]]
Lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe zielt darauf, dass sich Menschen als „Subjekte ihres eigenen Lebens“ erfahren können, d.&nbsp;h., dass Menschen sich erleben und einschätzen können als jemand, der selber auf die Gestaltung seines Lebens Einfluss ausüben kann und darf, der sozusagen „Regisseur seines eigenen Lebens“ ist. Um das zu ermöglichen ist [[Partizipation]] (also teilhaben, teilnehmen und mitbestimmen können und dürfen) unverzichtbar. Deshalb müssen vor allem die rechtlichen Bedingungen zur Mitbestimmung bis hin zu harten Formen demokratischer Kontrollen (Beschwerdestellen, Vertrauensleute, [[Berufskammer]]n) in den Arbeitsfeldern ausgebaut und etabliert werden. Deshalb muss Partizipation aber auch auf allen informellen Ebenen ermöglicht werden.


Darüber hinaus agieren Sozialarbeiter in den Strukturen ihrer Alltäglichkeit, agieren in Routinen, die immer einengen können, in Pragmatismen, um überhaupt zu überleben. Das ist besonders prekär in den heute oft so schlecht ausgestatteten und überlasteten Situationen. Vor allem aber sind sie in den Arbeitsbeziehungen bestimmt durch ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Erfahrungen, die sie blind machen können für das Anderssein der Adressaten. Soziale Arbeit, in diesen Spannungen praktiziert, ist auf kritische Reflexion und Selbstreflexion angewiesen, diese muss auch in kollegialer Beratung, Unterstützung und Kritik institutionalisiert sein.
Ferner muss sich Kinder- und Jugendhilfe davor hüten, mittels verdeckter, unterschwelliger Möglichkeiten die Kinder und Jugendlichen zur [[Ethik#Absicht und Freiwilligkeit|Freiwilligkeit]] zu „verführen“, ohne dass diese merken, was mit ihnen geschieht.


Das konkrete Handeln der Professionellen muss sich einerseits am notwendigen gesicherten und sichernden professionellen Wissen und Können orientieren, andererseits braucht es sensible Achtsamkeit für die spezifischen Konstellationen im jeweils konkreten Fall und deren Potentiale. Diese anspruchsvolle Balance wird als Strukturierte Offenheit bezeichnet.
==== Vernetzen/Planen ====
Lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe muss die vielfältig entstandenen und noch zu entwickelnden Angebote und Arbeitsfelder [[Vernetzung|vernetzen]] und koordinieren, um ein Neben- und Gegeneinander zu verringern, in dem Kräfte unnötigerweise verschlissen werden.


Lebensweltorientierte Soziale Arbeit realisiert sich in Kasuistik. Kasuistik wird dabei im weiten Sinne verstanden, also als Darstellung und Rekonstruktion der Geschichte eines Einzelnen, einer Gruppe oder einer sozialpädagogischen Institution, eines Stadtteils oder einer zivilgesellschaftlichen Initiative. In der Kasuistik geht es darum, Entwicklungen und Strukturen zu rekonstruieren und dabei der Besonderheit der individuellen Gegebenheiten gerecht zu werden, aber auch den so schwer zu fassenden Fügungen des Zufalls.
==== Einmischen ====
Der Kinder- und Jugendhilfe wurden und werden im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung und vom Gesetzgeber Aufgabenfelder und Zuständigkeiten zugeteilt. Sie muss diese aktiv und beständig erweitern und sich in andere Zuständigkeitsbereiche einmischen, will sie ihrem Selbstverständnis und ihrer Aufgabe entsprechen, Anwalt für Kinder und Jugendliche zu sein.


====Institutionen und Organisationsmuster der lebensweltorientierten Soziale Arbeit====
==== Aushandeln ====
Lebensweltorientierte Kinder- und Jugendhilfe erledigt all ihre Aufgaben im Umgang mit Kindern und Jugendlichen vorrangig in Form des Aushandelns: Problemdeutungen, Regeln, Lösungsstrategien, Organisationsformen usw. werden im gemeinsamen, partnerschaftlichen Gespräch mit den Kindern und Jugendlichen entwickelt. Aushandeln bedeutet bisweilen auch ein im persönlichen Umgang [[Fairness|faires]], in der Sache aber hartes Diskutieren und Streiten. Es gibt darin aber Sachverhalte, die unterschiedlich stark verhandelbar sind.


Lebensweltorientierte Soziale Arbeit agiert in den Struktur- und Handlungsmaximen und in der professionellen Kommunikation immer in Institutionen und in deren spezifischen organisationsbedingten Handlungs- und Definitionsmustern<ref>{{Literatur |Autor=Klaus Grunwald |Titel=Organisation und Organisationsgestaltung |Hrsg=Margret Dörr u.a. |Sammelwerk=Biografie und Lebenswelt. Perspektiven einer Kritischen Sozialen Arbeit |Verlag=Springer VS |Ort=Wiesbaden |Datum=2014 |ISBN=978-3-658-03834-2 |Seiten=53 – 68}}</ref>. Die Macht der Selbstreferenzialität der organisationalen Problemdefinitionen und Arbeitsvollzüge muss aufgefangen werden in einem lebensweltlichen Verständnis der Aufgaben, es braucht die Entwicklung einer Organisationskultur, in der Organisationen als je eigene Lebenswelt verstanden werden, die in ihren Definitionen der Adressaten und ihrer Organisationsstruktur lebensweltlich bestimmt ist und in der z.B. Alltagsnähe und Partizipation in Bezug auf ihre Mitarbeitenden realisiert wird. Dieser Anspruch wird in unserer Gegenwart herausgefordert durch die zunehmend wachsende Macht von Regelungen und Bestimmungen und das um sich greifende Versicherungsdenken. Es stellt sich zunehmend die Frage, ob auch in Organisationen die Alltagsmuster der Pragmatik und der damit einhergehenden Anstrengung um Anerkennung für das je eigene Handeln in neuer Weise zur Geltung gebracht werden können und müssen. Schließlich: Organisationelles Handeln sieht sich durch die Möglichkeiten der digitalen Gestaltungen herausgefordert, dabei gilt es, die Chancen zu Transparenz, Effektivitätssicherung und Arbeitserleichterung zu nutzen, ohne den Suggestionen einer vereinfachenden, nur sparenden und nur durch die Struktur der Algorithmen bestimmten Wirklichkeitssicht zu verfallen. Lebensweltorientierung insistiert auf dem unaufhebbar kommunikativen Charakter als Kern ihrer Aufgaben.
==== Reflektieren ====
Alles berufliche Tun und (Unter-)Lassen muss begleitet und überwacht werden von einem methodisch abgesicherten (selbst-)kritischen Nachdenken über die [[Motiv (Psychologie)|Motive]], Ziele und Deutungsmuster sowie über die Wirkungen und Nebenwirkungen des beruflichen Handelns.


=== Lebensweltorientierte Soziale Arbeit als kritische Soziale Arbeit ===
== Wesen einer lebensweltorientierten Kinder- und Jugendhilfe ==
Lebensweltorientierte Soziale Arbeit kann nur als kritische Soziale Arbeit realisiert werden. Kritik bestimmt als durchgehendes Prinzip ihre unterschiedlichen Bereiche und Aufgaben. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist kritisch in Bezug auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse im Postulat von Gerechtigkeit, Solidarität und Selbstbestimmung, sie ist ebenso kritisch in Bezug auf die Gegebenheit des Alltags zwischen Alltäglichkeit und Alltagswelten und deren Spannungen zu den Lebenslagen. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist kritisch in den Ambivalenzen des Alltags zwischen dem Gegebenen und dem Möglichen. Sie ist aber ebenso kritisch in Bezug auf die Ambivalenzen ihrer eigenen Arbeit, die Spannungen also zwischen dem Alltag der Adressaten und den professionellen Zugängen und die Spannungen in ihrem professionellen und institutionellen Programmen und Handeln. Solche Kritik, die Wachheit für die je gegebenen Widersprüche und der Willen, in den Konflikten zu agieren, ist immer bezogen auf die Arbeit am Gelingenderen, also die Arbeit im Horizont der konkreten Utopie im Anspruch an Solidarität und Selbstbestimmtheit. Solche Kritik, die sich in den vielfältigen Dimensionen der Arbeit konkretisiert, kann im Konzept von Rahel Jaeggi<ref>{{Literatur |Autor=Rahel Jaeggi, Tilo Wesche |Titel=Was ist Kritik? |Verlag=Suhrkamp |Ort=Frankfurt am Main |Datum=2009 |ISBN=9783518294857}}</ref> gedacht werden: Es geht um Kritik nicht nur innerhalb der Verhältnisse oder um Kritik von außen, sondern um interne Innovation, es geht um Kritik, die im breiten Feld der unterschiedlichen Aspekte in ihren Widersprüchen zu neuen Handlungsoptionen engagiert ist. Dieser allgemeine Wille zum Gelingenderen hat in der Sozialen Arbeit, wie in der Pädagogik überhaupt, seine besondere Pointe darin, dass die Zumutung für die Adressaten, sich auf die Arbeit am Gelingenderen einzulassen, nur möglich ist, wenn die Professionellen ihrerseits am Gelingenderen orientiert sind, also in aller Kritik auf dem Willen zu einem weiterführenden Handeln insistieren.
Wenn man sich fragt, was denn nun bei all diesen Überlegungen, bei all diesen Ideen oder Maximen, der Kern oder das Wesen einer lebensweltorientierten Kinder- und Jugendhilfe ist, dann würde die Antwort wohl lauten: [[Erzieher]], [[Sozialpädagoge]]n, [[Pädagoge]]n, also alle, die versuchen, entlang der Idee „Lebensweltorientierung“ zu handeln, verstehen sich als ''Anwälte der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien''. Das heißt, sie versuchen, wie Anwälte das Beste für ihre [[Mandat (Recht)|Mandanten]] (für diejenigen, die sich ihnen anvertraut haben oder die ihnen anvertraut wurden) herauszuholen, selbst wenn sonst alle anderen gegen diese Mandanten sind. Das heißt noch mal anders ausgedrückt, sie ''stehen auf der Seite der Kinder, der Jugendlichen und ihrer Familien'' und helfen ihnen vor allem ''ihr'' Leben so zu meistern, wie es sich die Kinder und Jugendlichen ''selbst'' vorstellen und sie selbst es brauchen. Und nicht etwa so, wie es andere – Politiker, Arbeitgeber, Lehrer, Priester, Journalisten, Richter,… – von ihnen erwarten. Sie helfen den Kindern und Jugendlichen bei den Aufgaben und Problemen, die sie ''selber'' haben, und nicht etwa bei denen, die die Gesellschaft mit den Kindern und Jugendlichen hat.


== Weblinks ==
=== Kritik am Konzept ===
Das Konzept der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit und darin vor allem der Bezug auf den Alltag und die Verbindung von Alltag und Sozialer Arbeit in den Gegebenheiten unseres Sozialstaats ist immer wieder Gegenstand sehr grundsätzlicher Kritik (z.B. Prange<ref>{{Literatur |Autor=Klaus Prange |Titel=„Alltag“ und „Lebenswelt“ im pädagogischen Diskurs: zur aporetischen Struktur der lebensweltorientierten Pädagogik |Sammelwerk=Zeitschrift für Sozialpädagogik |Nummer=3 |Datum=2003 |Seiten=296–314}}</ref>, Fatke<ref>{{Literatur |Autor=Reinhard Fatke |Titel=Der Heros makelloser Menschenliebe und der schmuddelige Alltag |Sammelwerk=Neue Pestalozzi Blätter |Band=6 |Nummer=1 |Datum=2000 |Seiten=9-16}}</ref>, Staub-Bernasconi<ref>{{Literatur |Autor=Silvia Staub-Bernasconi |Titel=Kritische Soziale Arbeit - ohne auf eine Politisierungsphase Sozialer Arbeit warten zu müssen |Hrsg=Wolfram Stender u.a. |Sammelwerk=Soziale Arbeit als kritische Sozialwissenschaft |Verlag=Blumhardt |Ort=Hannover |Datum=2013 |ISBN=978-3-932011-87-0 |Seiten=37-80}}</ref>),vor allem aber vielfältiger kritischer Rückfragen und Weiterungen geworden (z.B. Kraus<ref>{{Literatur |Autor=Björn Kraus |Titel=Lebenswelt und Lebensweltorientierung. Eine begriffliche Revision als Angebot an eine systemisch-konstruktivistische Sozialarbeitswissenschaft |Sammelwerk=Kontext (Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie) |Band=37 |Nummer=2 |Datum=2006 |Seiten=116–129}}</ref>, Böhnisch<ref>{{Literatur |Autor=Lothar Böhnisch |Titel=Milieu und Milieubildung |Verlag=Beltz Juventa |Ort=Weinheim/Basel |Datum=2023 |ISBN=978-3-7799-7558-8}}</ref>). Es fehle eine grundlegend pädagogische Orientierung, der Bezug auf den Alltag sei unfähig, spezifisch professionelle Aufgaben zu fundieren; die grundlegenden Begriffe seien nicht genügend bestimmt; der Überhang an konzeptionellen Überlegungen ergebe keine hinreichenden Impulse für empirische Forschung. Außerdem verhindere die Konzentration auf Alltagsprobleme kritische gesellschaftliche Fragen; diese werden angesichts der Aufgaben und Organisationen der Praxis vernachlässigt, ja weggedrängt, das Konzept sehe nicht auf die eigensinnige Erfahrung der Adressaten und beschränke sich auf die Probleme des professionellen Arbeitens. Diese Kritik hat durch die Jahrzehnte seit seiner Entstehung hindurch zur Differenzierung und Konkretisierung des Konzepts beigetragen. Kritische Fragen an das Konzept sind aber dadurch sicher nicht erledigt.
* [http://www.hans-thiersch.de/ Hans Thiersch – Homepage]
* [http://www.eh-freiburg.de/hochschule/personenverzeichnis/prof-dr-bjoen-kraus/18 Björn Kraus – Homepage]
* [https://vimeo.com/album/3476993 Thiersch und Kraus im Gespräch – Filmdokumente]


== Literatur ==
=== Literatur ===
* Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.): ''Achter Jugendbericht. Bericht über Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe.'' Bonn: Bonner Universitäts-Buchdruckerei 1990. ([http://www.bmfsfj.de/doku/kjb/data/download/8_Jugendbericht_gesamt.pdf PDF; 17,5 MB])
* Grunwald, Klaus / Thiersch, Hans (Hrsg.): ''[http://neu.buchonline.de/pages/details.php?ID=5851&SID=9477721961d2e7b58818a1777c212b90/ Praxis Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit. Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern.]'' München, Weinheim: Juventa 2004.
* Kraus, Björn: Lebensweltliche Orientierung statt instruktive Interaktion. Eine Einführung in den Radikalen Konstruktivismus in seiner Bedeutung für die Soziale Arbeit und Pädagogik. Reihe Forschung und lehren, Bd. 8. Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung 2000.
* Kraus, Björn: Konstruktivismus. Kommunikation. Soziale Arbeit. Radikalkonstruktivistische Betrachtungen zu den Bedingungen des sozialpädagogischen Interaktionsverhältnisses. Heidelberg 2002.
* Kraus, Björn: Lebenswelt und Lebensweltorientierung – eine begriffliche Revision als Angebot an eine systemisch-konstruktivistische Sozialarbeitswissenschaft. Kontext. Zeitschrift für Systemische Therapie und Familientherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Heft 37/02, 2006 S. 116–129. Auch in http://www.pedocs.de/frontdoor.php?source_opus=12387 erstmals 2004 im Portal Sozialarbeitswissenschaften.
* Kraus, Björn: Erkennen und Entscheiden. Grundlagen und Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus für die Soziale Arbeit. Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2013
* Kraus, Björn: Relationaler Konstruktivismus - Relationale Soziale Arbeit. Von der systemisch-konstruktivistischen Lebensweltorientierung zu einer relationalen Theorie der Sozialen Arbeit. Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2019
* Thiersch, Hans: ''[http://neu.buchonline.de/pages/details.php?ID=1141&SID=9477721961d2e7b58818a1777c212b90/ Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel.]'' 6. Aufl. Weinheim, München: Juventa 2005
* Thiersch, Hans: ''Die Erfahrung der Wirklichkeit. Perspektiven einer alltagsorientierten Sozialpädagogik.'' 2., erg. Aufl. Weinheim, München: Juventa 2006
* Thiersch, Hans: ''Lebenswelt und Moral. Beiträge zur moralischen Orientierung Sozialer Arbeit.'' Weinheim, München: Juventa 1995
* Thiersch, Hans: ''Positionsbestimmungen der Sozialen Arbeit.'' Weinheim, München: Juventa 2002
* Thiersch, Hans: ''Schwierige Balance: Über Grenzen, Gefühle und berufsbiografische Erfahrungen.'' Weinheim, München: Juventa 2009


* Thiersch, Hans: ''Soziale Arbeit und Lebensweltorientierung. Gesammelte Aufsätze''. Band 1: ''Konzepte und Kontexte;'' Band 2: ''Handlungskompetenz und Arbeitsfelder''. Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2015, <nowiki>ISBN 978-3-7799-3263-5</nowiki> und <nowiki>ISBN 978-3-7799-3325-0</nowiki>.
== Fußnoten ==
* Thiersch, Hans: ''Lebensweltorientierte Soziale Arbeit – revisited''. Weinheim/Basel, Beltz Juventa 2020, <nowiki>ISBN 978-3-7799-6310-3</nowiki>.
* Grunwald, Klaus/ Thiersch, Hans (Hrsg.): ''Praxishandbuch Lebensweltorientierte Soziale Arbeit: Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern.'' 3., völlig neu bearbeitete Auflage, Weinheim/Basel, Juventa 2016, <nowiki>ISBN 978-3-7799-2183-7</nowiki>.
* Grunwald, Klaus u.a. (Hrsg.): „''Hans Thierschs Alltags- und Lebensweltorientierung – eine kritische Würdigung anlässlich seines 80. Geburts''tages“. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 13 Jg., Heft 2/2015, ISSN 1610-2339.
* Grunwald, Klaus u.a. (Hrsg.): ''Alltag, Nicht-Alltägliches und die Lebenswelt (Festschrift zum 60. Geburtstag).'' Weinheim/München, Juventa 1996, <nowiki>ISBN 978-3-779910374</nowiki>.
* Füssenhäuser, Cornelia: ''Werkgeschichte(n) der Sozialpädagogik: "Hans Thiersch".'' Baltmannsweiler, Klinkhardt 2005, S.135 – 228, <nowiki>ISBN 978-3896769794</nowiki>.
* Niemeyer, Christian: ''Klassiker der Sozialpädagogik.'' Weinheim und Basel: Beltz Juventa, 3. Aufl., 2010, S. 252-286, <nowiki>ISBN 978-3-7799-0358-1</nowiki>.

=== Einzelnachweise ===
<references />
<references />



[[Kategorie:Ansätze, Theorien und Modelle (Soziale Arbeit)]]
[[Kategorie:Ansätze, Theorien und Modelle (Soziale Arbeit)]]
[[Kategorie:Soziologische Forschungsrichtung]]

Version vom 22. Dezember 2023, 20:19 Uhr

Die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist ein Theoriekonzept der Sozialen Arbeit, das auf dem Postulat basiert, dass in allen Unterstützungen von den alltäglichen Erfahrungen und Bewältigungsmustern der Adressaten ausgegangen werden muss. Daraus ergibt sich ein spezifisches Verständnis der Adressaten, ebenso auch spezifische methodische und organisationelle Arrangements der Sozialen Arbeit.

Zur Orientierung: Zwei Fallvignetten

Familienhilfe: Um bei Problemen der Kinder und Heranwachsenden oder der Erwachsenen, also bei Schulschwierigkeiten, Überlastung oder auch Krankheit, helfen zu können, arbeitet eine Fachkraft nicht mit den Einzelnen am eigenen Ort von Beratung oder Gruppentreffs, sondern in einer Familie, an deren Alltag sie teilnimmt; sie sucht die Familie im Zusammenleben in ihren alltäglichen Selbstverständlichkeiten und Handlungsmustern kennen zu lernen, um von da aus mit ihnen Wege zu einem verbesserten Arrangement zu finden.[1] Die Sozialarbeiterin sucht die Menschen darin zu respektieren, wie sie miteinander auskommen, und sie zugleich zu sehen, was sie auch können und im Verborgenen vielleicht erhoffen. In der Gemeinsamkeit des Alltagslebens – beim Kochen, Spielen und Sich-Unterhalten oder in gemeinsamen Unternehmungen – soll sich ein Vertrauen entwickeln, das es möglich macht eingeschliffene, aber unglückliche Selbstverständlichkeiten bewusst zu machen und zu problematisieren. Es gilt neue Ressourcen zu entdecken, also Ressourcen im jeweiligen Selbst-, Arbeits- oder Lernverständnis und im Verhältnis zur Umwelt der Kindertagesbetreuung, der Schule, zum Jugendamt oder dem Hausarzt und vor allem auch der Nachbarschaft und der Freundschaften, des Sportvereins oder der Verwandtschaft. Sie öffnet der Familie Wege aus ihrer Isolation in die Nachbarschaft und in gemeinschaftliche Aktivitäten im Gemeinwesen. So soll sich in Phasen auf dem anstrengenden Weg aus dem Ineinander von Verunsicherung, Konflikten und neuen Orientierungen ein gemeinsamer Prozess ergeben. Die Sozialarbeiterin geht von einem Verständnis für den gegebenen Alltag aus, sie vertraut den Möglichkeiten der Adressatinnen, sie deckt in der Alltagslethargie weggedrückte, untragbare Praktiken auf, sie agiert in einem vorsichtigen, sich allmählich in den Möglichkeiten weiterentwickelnden, von allen getragenen Prozess.

Mobile Jugendarbeit (Straßensozialarbeit) mit Gruppen von Jugendlichen[2]:  Die Jugendlichen treffen sich oft in der Flucht aus ihren Familien und in bewusster Abkehr von Schule, Ausbildung und deren Erwartungen an eigenen Orten, sie hängen miteinander ab, unternehmen etwas gemeinsam, hören Musik oder spielen an ihren Handys. Wenn der Sozialarbeiter diese Jugendlichen an ihren Treffpunkten aufsucht, sieht er sie nicht primär von den Auffälligkeiten der Jugendlichen aus – Krach mit oder Sich-Verschließen gegenüber ihrer Familie, Lernprobleme und Schulverweigerung oder öffentliche Provokationen –, sondern als Jugendliche an einen Ort, an dem sie etwas gelten und mit ihren Interessen Anerkennung finden in der Gemeinsamkeit der Gruppe. Sie sieht aber auch die Schwierigkeiten, die riskanten Unternehmungen und die Probleme in und mit der Öffentlichkeit, die gesundheitlichen Problemen und Risiken mit Alkohol und Drogen, die Spannungen innerhalb der Gruppe. Die Arbeit des Sozialarbeiters ist heikel – Jugendliche, die sich protestierend in ihre eigene Welt zurückziehen, sind misstrauisch. Es muss also gelingen, Vertrauen zu gewinnen, die Gruppe muss sie als nützlich erfahren, es gilt, den Lebensraum der Gruppe zu sichern und für die gegebenen Bedürfnisse Äußerungsformen zu finden, die nicht gefährlich und gefährdend sind. Dabei braucht es die Balance zwischen dem Werben um Vertrauen, den Anregungen zu gemeinsamen, zugänglichen und attraktiven Aktivitäten und den Arrangements für elementare Versorgungsleistungen. In solchen Unterstützungen im Alltag können sich den Jugendlichen dann auch Perspektiven für ein Leben neben und jenseits der Gruppe eröffnen.

Zur Entstehung des Konzepts Lebensweltorientierte Soziale Arbeit

Das Konzept der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit ist in den 1970er Jahren im Kontext der generellen Gesellschaftskritik in der damaligen Bundesrepublik entstanden. Gegenüber der damaligen Praxis eines autoritären und stigmatisierenden Umgang mit den Adressaten und der Verwaltungsdominanz entstand ein neues kritisches Bewusstsein der gesellschaftlichen und sozialen Funktion der Sozialen Arbeit. Von da aus entwickelte der Tübinger Sozialpädagoge Hans Thiersch[3] das Konzept einer alltags- und lebensweltorientierten Sozialen Arbeit. Deren spezifische Aufgaben, Unterstützungen und Hilfen in belasteten Lebensverhältnissen zu leisten, wurde im Konzept in einer neuen Weise im Horizont der alltäglichen Bewältigungserfahrungen der Adressaten. Es klinkt sich damit in eine allgemeine gesellschaftliche Problemlage ein, denn die Frage nach dem Alltag war im letzten Jahrhundert zunehmend zum Thema geworden. Angesichts der gegebenen Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse und angesichts der zunehmenden Differenzierung und Organisation der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse erweist sich die Bewältigung des Lebens im Alltag zunehmend als zentrales Problem der Lebensgestaltung. Man redet vom alltäglichen Chaos in Familien; Alltagsprobleme bestimmen Erzählungen, Biografien und Autobiografien und ebenso sozialwissenschaftliche und philosophische Konzepte. Vor diesem Hintergrund entwickelt lebensweltorientierte Soziale Arbeit ihr eigenes Theoriekonzept mit einem spezifischen Verständnis der Adressaten und des sozialpädagogischen Handelns und seiner Organisationen. Das Konzept hat sich seit den 1990erJahren als eines der maßgeblichen Theoriekonzepte für Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit durchgesetzt. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit versteht sich als Rahmenkonzept einer Sozialen Arbeit, das es gegen gesellschaftliche Tendenzen und gegen Widerstände in der Struktur der eigenen Arbeit durchzusetzen gilt. Zwar konnte es in Ansätzen, in Projekten und Tendenzen realisiert werden, es bleibt aber in der Realität der gesellschaftlichen Machtstrukturen und der institutionellen und professionellen Widersprüche über weite Strecken Programm. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist als Aufgabe „work in progress“.

Theoretische Hintergründe

Das Konzept Lebensweltorientierung steht in der hermeneutischen Tradition der Pädagogik (Dilthey[4], Nohl[5]) und seiner Weiterführung in einer kritischen Pädagogik, die im Interaktionismus fundiert ist (Mollenhauer[6]). Die Sicht der Adressaten ist bestimmt in der phänomenologischen Frage nach der Lebenswelt (Husserl[7]) und nach den Mustern des alltäglichen Verhaltens (Schütz[8], Berger/Luckmann[9]); eine kritische Alltagstheorie (Bourdieu[10], Kosik[11]) wird mit neueren Arbeiten zur Gesellschaftstheorie verbunden (Habermas[12], Beck[13], Reckwitz[14]). In Bezug auf das pädagogische Handeln und seine institutionellen Organisationen sieht sich das Konzept in vielfältigen Bezügen zu Pestalozzi[15], Bernfeld[16], Korczak[17] und Nohl[18] und der breiten neueren Fachdiskussion. In der sozialethischen Bestimmung der Sozialen Arbeit steht das Konzept in der Tradition der Aufklärungsideen von Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit; es konkretisiert sie im gesellschaftskritischen Modell Heimanns[19]: Die herrschenden Kapital- und Machtverhältnisse stehen im Kampf gegen die sozialen Interessen; diese Interessen müssen im Kompromiss, der die Demokratie und den Sozialstaat im Horizont der Menschenrechte bestimmt. Dieses Konzept kann in fachlicher Parallele gesehen werden zum Ansatz der Sozialpsychiatrie (Dörner/Plog[20]) und der Gemeindepsychologie (Keupp[21]) oder auch des medizinischen Modells der Salutogenese[22]. Im allgemeinen gesellschaftlichen Kontext ergeben sich vielfältige Parallelen zu zivilgesellschaftlichen und sozialen Bewegungen und vor allem zur feministischen Diskussion von alltäglicher Sorgearbeit, von Care (Bitzan[23]; Brückner/Thiersch[24]).

Alltäglichkeit, Alltagswelten, Lebenslagen

Lebensweltorientierte Soziale Arbeit hat ihren Ausgang in den Fragen nach dem Alltag ihrer Adressaten, nach deren eigenen alltäglichen Handlungs- und Deutungsmustern. Diese Fragen beziehen sich auf drei Ebenen. Auf der einen wird thematisiert, wie alle Menschen in ihren Lebensverhältnissen sich in der Welt finden und versuchen, mit ihrem Leben zurande zu kommen. Diese erste, gleichsam anthropologisch allgemeine Ebene der Alltäglichkeit konkretisiert sich – das ist die zweite Ebene – in Alltagswelten zum Beispiel der Familie, des Jugendlebens, der Schule und der Arbeit; in diesen Alltagswelten gelten die allgemeinen Muster alltäglicher Lebensbewältigung in der Unterschiedlichkeit der konkreten Gestaltungen. Beide, Alltäglichkeit und Alltagswelten, sind bestimmt – und das ist die dritte Ebene – durch soziale, kulturelle und materielle Strukturen, also durch die Lebenslagen (s. dazu auch Björn Kraus[25]). Die Vorderbühne von Alltäglichkeit und Alltagswelten ist durch die Hinterbühne der Lebenslagen geprägt; Alltäglichkeit und Alltagswelten sind die Schnittstelle des Alltäglich-Konkreten und des Gesellschaftlich-Strukturellen, des Subjektiven und des Objektiven. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit sieht den Alltag auf diesen drei Ebenen, sie setzt auf der Ebene der Alltagswelten in den Bewältigungsaufgaben der Alltäglichkeit an und agiert darin im Horizont der Lebenslagen, die die Alltäglichkeit und die Alltagswelten bestimmen.

Das Alphabet der Alltäglichkeit

Die alltäglichen Bewältigungsmuster lassen sich in ihren Besonderheiten als Alphabet der Alltäglichkeit fassen. Im Alltag wollen die Menschen zurechtkommen, sie wollen zu essen haben, sie lieben ihre Kinder, sie sorgen sich umeinander, sie haben Angst vor Katastrophen. Diese Bewältigungsmuster zeigen ein spezifisches Verhältnis zur Wirklichkeit: Menschen finden sich in einer gegebenen sozialen Welt und ihren Handlungs- und Verstehensmustern, in ihnen wollen sie bestehen, sie übernehmen und verändern sie. Menschen finden sich in ihrem Leib, sie finden sich in einer in Zeit und Raum strukturierten Umwelt, in sozialen Beziehungen, sie verstehen und handeln in einem Ineinander von Gefühlen und Überlegungen. Sie suchen für die ihnen zukommenden Aufgaben Routinen, also Ordnungen, auf die sie sich verlassen können. Menschen handeln pragmatisch, sie wollen mit den gestellten Aufgaben zurechtkommen, sie agieren im Modus des Erledigens und wollen sich in ihm behaupten. Fragen nach Hintergründen und Bedingungen ihres Handelns treten demgegenüber zurück, es gilt die Bewältigung im Hier und Jetzt in der Unmittelbarkeit der eigenen Erfahrungen. Darin wollen sie sich vor den anderen und damit vor sich selbst achten können; sie suchen in ihren Erledigungsaufgaben in den Verhältnissen Anerkennung. In dieser Welt der Alltäglichkeit aber finden sie sich in Ambivalenzen. Menschen leben in einem Leib, der es ihnen möglich macht, Aufgaben zu erfüllen und sich gleichsam mit sich einverstanden zu erfahren, oder sie in Unzulänglichkeiten oder Krankheiten beschränkt; sie finden sich in einer Zeit, die strukturiert sein kann und Perspektiven eröffnet oder von der Angst vor einer ungewissen Zukunft bestimmt ist; sie finden sich in einem Raum, in dem sie für ihre Interessen einen Ort finden und sich zuhause fühlen, oder in einem Raum, in dem für sie kein Platz ist, der sie beengt oder ängstigt. Routinen können jene elementaren Sicherheiten darstellen, ohne die Menschen – und Kinder und Heranwachsende zumal – sich nicht in die Offenheit der Welt trauen können, sie können zugleich aber das Verhalten auf enge Gewohnheiten festlegen, einschränken und zur Angst vor Veränderung und Neuerung führen. Pragmatismen können das Leben erleichtern, können in Großzügigkeit, Verschlagenheit und Witz unübliche und hilfreiche Wege zur Problemlösung sehen, aber sie können auch zu einer Schlamperei führen, die alle Konzentration und weiterführende Anstrengungen unterläuft – „‘s passt schon“ ist hier die verharmlosende Maxime.

In dieser Ambivalenz sind die gegebenen Selbstverständlichkeiten die Basis der Lebenserfahrungen und Lebensaufgaben, sie müssen aber im Widerstreit zwischen bornierten, einengenden Möglichkeiten und offenen, freieren Möglichkeiten verstanden werden. Alltagserfahrungen sind – so Kosik[26] – in ihrer Konkretheit zugleich „pseudokonkret“ und „Praxis“: die pseudokonkrete Unmittelbarkeit der Alltäglichkeit muss in ihrer Borniertheit aufgebrochen und destruiert werden, damit die in ihr gegebenen Möglichkeiten der Praxis freigesetzt werden können. So ist der Alltag bestimmt im Kampf gegen die rasche Zufriedenheit oder Resignation im Gegebenen, gegen die Tabuisierung und Verdrängung von Unzulänglichkeiten, die als Stigma versteckt werden und in der verängstigten Abwehr von Veränderungen; es geht um den Konflikt des Gegebenen mit dem Möglichen. Die Menschen haben ein Wissen, dass es auch anders sein könnte, freundlicher, besser; in der Erfahrung von Unzulänglichkeit, Trauer, Schmerz und Wut in den Verhältnissen geht es immer auch – mit Ernst Bloch geredet – um die Arbeit an der konkreten Utopie, „von der wir nichts haben, als die Bewegung daraufhin“[iii], es geht um das Gelingendere, um die Offenheit zu einem ‚gelingenderen Alltag‘, um Bewegungen hin zum Gelingenderen.

Alltagswelten

Das Grundmuster eines Alphabets der Alltäglichkeit realisiert sich in den Alltagswelten, zum Beispiel in der Familie, in der Jugendwelt, in der Genderkultur, in der Schule oder in der Arbeit (siehe dazu auch Böhnischs Konzept von Milieus[27]). Die Allgemeinheit des Grundmusters der Alltäglichkeit zeigt sich in der konkreten Unterschiedlichkeit der Lebenswelten, alles Verstehen bewegt sich in dieser Spannung des Allgemeinen und des Konkreten. Diese verschiedenen Alltagswelten werden im Nebeneinander und Nacheinander des Lebenslaufs erfahren, wichtig sind vor allem auch Übergänge zwischen den Lebenswelten, von der Familie in die Kindertagesbetreuung und die Schule usw.

Lebenslagen 

Alltäglichkeit und Alltagswelten sind geprägt durch die Strukturen der Gesellschaft, die als Lebenslagen verstanden werden. Ich deute in Stichworten an: Lebenslagen sind bestimmt durch die Machtverhältnisse, also die Unterschiede an materiellem und sozialem Kapital, sie sind bestimmt durch Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern und der kulturellen und sozialen Herkunft sowie durch die Imperative der Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft. Die virtuellen Welten werden mächtig und die ökologischen Perspektiven bedrohlich. Und: Die Gesellschaft bietet im Nebeneinander der Lebenswelten unterschiedliche Lebensformen an und darin die Möglichkeit eines eigenen, selbstbestimmten Lebensentwurfs, in der die Einzelnen sich in ihrer Eigenart als Person, in ihrer „Singularität“ (Reckwitz[28]) repräsentieren.

In diesen Konstellationen werden die Aufgaben der Alltagsbewältigung aufwendig und kompliziert: Der Mensch in seinem Leib wird sich zunehmend zu einer Aufgabe der Sorge und der Gestaltung bis hin zum Optimierungswahn, die Lebensmöglichkeiten in Zeit und Raum öffnen sich. Routinen sind nicht selbstverständlich, sie müssen begründet werden, Pragmatismen müssen ausgewiesen werden gegenüber den Erwartungen, dass Handlungen nachvollziehbar sind. Die Orientierung am Gelingenderen sieht sich der Offenheit und Konkurrenz unterschiedlicher Lebensentwürfe ausgesetzt. In diesen Konstellationen wird Alltagsbewältigung zur Auseinandersetzung zwischen der elementaren Gestaltung von Alltäglichkeit und offeneren Möglichkeiten. Menschen können sich wählen und müssen sich wählen, die Gestaltung des Lebenslaufs wird zum Risiko und Abenteuer der Freiheit.

Belastungen und Krisen im Alltag

Solches Leben in der Alltagsbewältigung kann misslingen, Menschen kommen in ihren Anstrengungen um Bewältigung nicht zurecht. Die Ressourcen reichen nicht, die Sicherheiten in der Arbeit, in der Familie und im Freundeskreis brechen weg. Menschen geraten in Überforderung, in Hilflosigkeit, in Angst und Panik; sie retten sich in bornierte Alltagswelten, sie sichern sich, indem sie sich gegen andere absichern und sie ausgrenzen. In Verzweiflung und Hilflosigkeit verhärten sie sich, sie entwickeln Ausweichstrategien, in denen sie sich nicht selten erst recht verfangen; soziale Konflikte, Verunsicherung, Beschämung, Angst bestätigen und verstärken sich gegenseitig. Anstrengungen um eine neue Sicherheit erscheinen eher als Zumutung. Menschen geraten in Einsamkeit oder in abseitige Vorstellungen und Lebensmuster, in Sucht oder psychische Erkrankung. In diesen Schwierigkeiten sucht lebensweltorientierte Soziale Arbeit die Menschen zu unterstützen.

Lebensweltorientierte Soziale Arbeit

Indem lebensweltorientierte Soziale Arbeit von den Schwierigkeiten im Alltag ausgeht, fragt sie nach Verhältnissen, die allen Menschen gemeinsam sind. Sie unterstützt Menschen in den Schwierigkeiten heutiger Normalität und vor allem die, die in diesen Schwierigkeiten besonders belastet sind und deshalb besondere Hilfen und einen besonderen Aufwand brauchen. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit erweitert damit den Adressatenkreis bis in die Mitte der Gesellschaft, sie wird Bestandteil der sozialen Kommunalpolitik. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit sieht ihre Adressaten in der Auseinandersetzung mit dem Alltag und setzt auf Unterstützung in Alltagsschwierigkeiten, sie findet im Kontext der kommunalen Hilfen ihr spezifisches Aufgabenfeld neben Schule/Ausbildung, Medizin/Psychiatrie, Polizei/Justiz. Weil dieses Aufgabenfeld aber – entsprechend der erst neueren Akzentuierung der alltäglichen Bewältigungsprobleme – sich erst im vorigen Jahrhundert formiert hat, bleibt die gesellschaftliche Stellung der Sozialen Arbeit unter den anderen sozialen und Bildungsagenturen bisher eher nachgeordnet und prekär.

Indem lebensweltorientierte Soziale Arbeit Menschen in ihrer Alltäglichkeit sieht, sieht sie sie nicht primär von sozialen Problemen oder Lebensschwierigkeiten aus, sondern versteht diese Schwierigkeiten als Anstrengungen der Lebensbewältigung, die unter gegebenen Umständen zu schwierigen und unglücklichen Lebensmustern führen. Erst darin und von da aus ergeben sich die besonderen Aufgaben der Hilfe und Unterstützung. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit wendet sich also im Verständnis ihrer Adressaten gegen die Definition der Menschen von solchen Problemen und Schwierigkeiten aus, analog dazu, wie die neuere Pädagogik nicht nach „Behinderten“, sondern nach „Menschen mit Behinderung“ fragt.

In ihrem Ansatz in den Bewältigungsaufgaben des Alltags sieht lebensweltorientierte Soziale Arbeit immer vor allem auch die Ressourcen, die Stärken und Potentiale, die in der Anstrengung um Lebensbewältigung und in der Lebenswelt gegeben sind. Diese Potentiale nimmt sie wahr, nutzt und stärkt sie. Sie sieht immer auch die indirekten Möglichkeiten von Hilfe und Unterstützung und stützt sie und agiert erst von da aus, gleichsam in sie eingebettet, in intensiveren sozialarbeiterischen Möglichkeiten.

Diese liegen in der Chance der Distanz, die es erlaubt, die Verhältnisse auch von außen zu sehen und darin auch in ihren Hintergründen und Bedingtheiten zu erkennen und organisationelle Rahmungen und Räume zur Unterstützung und für Veränderungen zu öffnen und spezifische methodische Kommunikationsmuster zu nutzen. Soziale Arbeit sucht und findet in den Problemen der Adressaten die Ansatzpunkte für ihre sozialarbeiterischen Möglichkeiten, übersetzt sie in ihre Aufgaben und Möglichkeiten und entwirft und erprobt gemeinsam mit den Adressaten, welche Möglichkeiten hin zu einem gelingenderen Leben sich realisieren lassen.

Die Zugänge der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit müssen in unterschiedlichen Dimensionen bestimmt werden, durch allgemeine Struktur- und Handlungsmaximen, durch eine spezifisch geprägte Kommunikation zwischen Professionellen und Adressaten und durch eine spezifische Kultur der Organisationen. Diese drei Dimensionen sollen nacheinander skizziert werden.

Struktur- und Handlungsmaximen

Die Struktur- und Handlungsmaximen – Alltagsnähe, Regionalisierung/ Sozialraumorientierung, Prävention, Integration/Inklusion, Partizipation und Einmischung – sind zuerst 1990 im Achten Jugendbericht[29] dargestellt worden. Diese Maximen wurden im Laufe der Zeit weiterentwickelt, sie müssen angesichts der sich verändernden gesellschaftlichen und sozialpolitischen Situation immer wieder neu pointiert und erweitert werden.

Alltagsnähe

Mit Alltagsnähe – fundiert im Verstehen der Adressatinnen – wird ein Gestaltungsprinzip für sozialpädagogisches Handeln bezeichnet, das von der Präsenz der Sozialen Arbeit in der alltäglichen Lebenswelt der Adressaten ausgeht. Soziale Arbeit muss im Alltag erreichbar sein, es gilt das Primat der niedrigschwelligen ambulanten Hilfen. Entsprechend den unterschiedlichen Problemlagen entsteht das neue verzweigte Gefüge von Angeboten, in dem die Adressaten entweder in ihrem Alltag beraten, in ihrem Alltag gestützt und begleitet werden oder auch, wo es notwendig erscheint, in einem eigenen, wiederum lebensweltlich strukturierten Angebot Hilfen finden. Die Entwicklung eines Systems der flexiblen und integrierten Hilfen wird als Aufgabe gesehen.

Regionalisierung/ Sozialraumorientierung

In den letzten Jahrzehnten ist das Prinzip von Regionalisierung bzw. Sozialraumorientierung für die Soziale Arbeit in vielfältigen Aspekten konkretisiert worden. Regionalisierung meint zunächst die Orientierung der Angebote der Sozialen Arbeit an den räumlichen Gegebenheiten der unterschiedlichen Alltagswelten – der Familie, der Jugend, der Alten, der Stadt – und die Nutzung von Hilfen im regionalen Nahraum. Darüber hinaus zielt dieses Prinzip auf die Gestaltung von öffentlichen Räumen, die abgestimmt sind auf die jeweiligen Bedürfnisse und Interessen bestimmter Bevölkerungsgruppen, und es zielt ab auf die Stadtplanung sowie auf die Wohnungs- und Verkehrspolitik. In diesem Kontext setzt lebensweltorientierte Soziale Arbeit auf einen Lebensraum, der geprägt ist durch Kooperation und Koordination mit zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Dieses Prinzip der Regionalisierung/Sozialraumorientierung wird auch immer wieder als eigenes – neben der Lebensweltorientierung stehendes – Leitprinzip der Sozialen Arbeit ausgelegt, was dazu geführt hat, dass hier vielfältige Differenzierungen entwickelt wurden. Aber das Konzept Lebensweltorientierung insistiert darauf, dass Sozialraumorientierung eine Maxime unter den anderen ist, weil sie nur so der Komplexität in der heutigen Alltagsbewältigung gerecht wird.

Sozialraumorientierung bezieht sich aber nicht nur auf den real erfahrenen, sondern ebenso auf den virtuellen Raum, der virtuelle Raum ist eine Erweiterung der Lebenswelt. Hier lassen sich die Aufgaben angesichts des rasanten Tempos der Entwicklungen kaum überschauen. Die neuen Kommunikationsformen, die Fülle der verfügbaren Informationen und der in ihnen wirksamen (in den spezifischen Algorithmen strukturierten) Verständnis- und Handlungsmuster verlangen neue Entscheidungskompetenzen. Das Verhältnis von realem und virtuellem Raum muss im Wissen um die unterschiedlichen Strukturprinzipien und Kommunikationsformen neu bestimmt werden. Da sich in der Verfügbarkeit und Nutzung der Medien ressourcenbestimmt neue gravierende Ungleichheiten zeigen, gilt es auf Gerechtigkeit in den Zugängen zu insistieren.

Prävention

Prävention will Menschen befähigen, Herausforderungen in den Möglichkeiten und Bedrohungen einer prinzipiell offenen Zukunft möglichst gut zu bewältigen. Prävention ist in der Sozialen Arbeit – ebenso wie in der Pädagogik – zunächst eine Selbstverständlichkeit: Es geht um die Gestaltung einer gelingenderen Gegenwart, um von hier aus Voraussetzungen für die Bewältigung weiterer, zukünftiger Aufgaben zu schaffen, es geht um die Gestaltung des Alltags im Horizont des Gelingenderen. Prävention bezieht sich auf Bewältigungsaufgaben im Horizont von Zeit. Neben dieser grundlegenden primären Prävention meint sekundäre Prävention die besondere Achtsamkeit auf absehbare problematische Entwicklungen, die etwa durch Situationen der Not und Verarmung, der Verunsicherung, der besonderen Belastungen in Krisen gegeben sind. Tertiäre Prävention meint die nachgehenden Unterstützungen in der Rückkehr in wieder „normale“ Lebensverhältnisse.

In der neuen Diskussion führt das Wissen um die Gefährdungen zur sexualisierten Gewalt zu neuer gesteigerter Aufmerksamkeit und zu differenzierten Arrangements im Kinder- und Jugendschutz, aber auch in den Regelungen des professionellen Handelns. So sehr damit die Aufgaben von Prävention neu gewichtet werden müssen, so bleibt doch bestehen, dass Prävention in sich ambivalent ist: Wenn sich der Blick in die Zukunft auf Risiken und Gefährdungen konzentriert, dann kann das dazu führen, dass das Leben nur im Horizont möglicher Katastrophen, gleichsam vom „worst case“ aus, gesehen wird und dass die in den Bewältigungsmustern des Alltags angelegten Potenziale übersehen und nicht genutzt werden. Belastete Situationen erscheinen dann prinzipiell als Risiko, dem es vorzubeugen gilt, so es das Versicherungsdenken mit seinen immer neuen und absichernden Arrangements der Vorsorge verlangt. Und schließlich: Prävention als Aufgabe, sich auf drohende und absehbare Gefährdungen einzustellen und ihnen entgegenzuwirken, gewinnt eine neue und elementare Bedeutung angesichts der ökologischen und klimatischen Entwicklungen und der damit auf uns zukommenden neuen sozialen Verwerfungen. Der Mensch ist im Alltag auf seine Bewältigungsaufgaben im Hier und Jetzt konzentriert und deshalb unwillig, sich darüber hinaus auf die Verhältnisse einer ferneren Zukunft einzustellen. Hans Jonas hat dagegen schon vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass wir eine Ethik brauchen, in der es nicht nur um die Gestaltung von Gegenwart, sondern um Gegenwart im Horizont von Zukunft geht. So evident im Alltag der Unwille ist, die gegebenen Verhältnisse zu überschreiten, so deutlich sind gerade hier auch die vielfältigen Notwendigkeiten und Möglichkeiten, sich auch in den Alltagsgewohnheiten und Selbstverständlichkeiten neu zu orientieren (Böhnisch)

Integration/ Inklusion

Die Aufgaben, die sich aus dem Verhältnis der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen in der Alltäglichkeit und der Unterschiedlichkeit der Alltagswelten stellen, lassen sich mit den Begriffen Integration bzw. Inklusion bezeichnen. Die Frage nach der Inklusion bezieht sich zunächst auf Menschen mit Behinderungen, auf Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund und unterschiedlicher geschlechtlicher Orientierung; sie erweitert sich zu den generellen Fragen der Diversität und den Erkenntnissen der Intersektionalität. Inklusion fordert die Ansprüche und Rechte unterdrückter und benachteiligter Gruppen ein, deren Leben durch die machtvolle Selbstbehauptung der „Normalen“ und Erfahrungen der Stigmatisierung, Demütigung, Beschämung und Entwürdigung beeinträchtigt ist und sieht darin vor allem auch eine Aufgabe der „Normalen“. Unterhalb einer wohlfeilen Unterstellung, dass das Postulat der Gleichheit schon die Realisierung der Gleichheit bedeute, wird es in der Dramatik der Auseinandersetzungen um die Gestaltung des Alltags (im Zusammenspiel neuer gesetzlicher Vorgaben und deren Umsetzung in die Alltäglichkeit der Lebensgestaltung, des Lernens, Wohnens und Arbeitens) darauf ankommen, die prinzipielle Gleichheit aller mit dem Respekt und der Aufmerksamkeit für die Unterschiedlichkeiten und die damit gegebenen besonderen gesellschaftlichen und alltäglichen Aufgaben zu vermitteln. Es gilt der Grundsatz, dass alle Menschen gleich sind und ihnen gleiche Rechte zustehen, dass aber die jeweiligen Unterschiede und Eigenheiten respektiert und anerkannt werden müssen und dass, wo es nötig ist auch Unterstützungen institutionalisiert werden.

Die Frage der Integration/Inklusion als allgemeines gesellschaftliches Prinzip gewinnt in den derzeitigen Verhältnissen neues und dramatisches Gewicht. Alltäglichkeit insistiert auf der Unhintergehbarkeit der je eigenen, konkreten Erfahrungen. Die Unübersichtlichkeit und Verunsicherung der gegebenen Verhältnisse führt zu Formen einer aggressiven Desintegration. Man weiß, was Sache ist, man hat es gesehen und erlebt, man ist unmittelbar berührt, die Freunde sehen es ebenso; wer es anders sieht, ist fremd und anders, man grenzt sich ab und die anderen aus – ein solches Denken verbindet sich dann immer wieder mit altautoritären, demokratiefeindlich rechten, fremdenfeindlichen und antisemitischen Begründungen. Die „Blasen“ in den sozialen Medien und die populistischen Ideologien lassen diese Tendenzen zu einer Macht werden, die die Integration gefährdet. Dagegen braucht es eine dezidierte Destruktion dieser bornierten Alltagserfahrungen, eine entschiedene Konfrontation mit dem Gelingenderen im Horizont der Menschenrechte, gestützt durch die unbedingte Verpflichtung zur Faktenprüfung.

Partizipation

Eine weitere Maxime für die lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist das gemeinsame Engagement aller Beteiligten in der Verhandlung und Gestaltung gemeinsamer Aufgaben; sie repräsentiert sich in unterschiedlichen Bereichen unterschiedlich und ist gegenwärtig ein wichtiges Entwicklungselement in verschiedenen Arbeitsfeldern. Partizipation in der Bedeutung von „Einbeziehung“, „Teilhaben-Lassen“ hat auch den Ton von gönnerhaftem Gewähren. Gemeint ist dagegen die Beteiligung der Adressaten an den sie betreffenden Entscheidungen und die Mitwirkung und Mitgestaltung ihrer lebensweltlichen Belange. Das verlangt die Institutionalisierung der Interessenvertretung der jeweils Betroffenen, wie es z.B. in der Kooperation mit Eltern und Ehemaligen (den Care-Leavern) in der Heimerziehung arrangiert wird, aber auch in der zunehmenden Einrichtung von Ombudsstellen.

Einmischung

Die Maxime der Einmischung thematisiert die Position der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit im Gefüge des Sozialstaats und in der Gesellschaft, wobei Einmischung auf unterschiedlichen Ebenen praktiziert wird. Einmischung insistiert darauf, dass Unterstützungen auf der Vorderbühne der alltäglichen Bewältigungsmuster immer offen sein müssen zur Gestaltung und Veränderung der Hinterbühne und der sie bedingenden Verhältnisse. Sie stärkt und ermutigt die Adressaten, sie verlangt die politische Anwaltschaft der Sozialarbeiter für die Probleme ihrer Adressaten in den politischen Auseinandersetzungen. Der Terminus „Einmischung“ betont die Aufgabe, in politischen Gremien Gehör und Möglichkeiten zur Mitwirkung zu erlangen; die Politik der Coronakrise und die in ihr gegebene beschämende, ja skandalöse Nachrangigkeit der Fragen alltäglicher Bewältigungsprobleme und -leistungen hat dieses Defizit gerade ja noch einmal drastisch deutlich gemacht.

Einmischung aber muss auch zu Kooperationen in Projekten führen, die den eigentlichen Aufgabenbereich der Sozialen Arbeit überschreiten. Die Entwicklung solcher Kooperationen ist in den letzten Jahren vor allem auch dadurch vorangetrieben worden, dass Bewältigungsprobleme zunehmend als Problem auch in anderen Institutionen deutlich geworden sind: Schule erfährt, dass ihr eigener spezifischer Auftrag der curricularen Vermittlung von Bildung eingebettet sein muss in neue Formen des Verständnisses und der Arbeit an den lebensweltlichen Bedingungen heutiger Heranwachsender. Schulsozialarbeit wird in den vielfältigen Formen der Beratung und eigener Projekte Bestandteil des Bildungsangebots, darüber hinaus entstehen Ganztagsschulen, Konzepte für Bildungslandschaften und spezifische sozialarbeiterische Hilfen in Familien. Neue Entwicklungen innerhalb der Jugendberufshilfe weisen ebenfalls in die Richtung einer zu intensivierenden Kooperation. Die sonderpädagogische Arbeit mit Menschen mit Behinderung öffnet sich zu lebensweltorientierten Perspektiven. Medizin und Psychiatrie lernen, dass der Umgang mit der Krankheit neben der medizinischen Versorgung eigene lebensweltliche Aufgaben des Umgangs mit der Krankheit stellt. Zwischen Sozialarbeit und Jugendpsychiatrie gibt es vielfältige und bewährte Muster der Kooperation. Die Sozialpsychiatrie wird ein neuer, großer Arbeitsbereich in der psychiatrischen Versorgung; die Kooperation mit der Justiz/Polizei repräsentiert sich nicht nur in der Organisation interdisziplinärer, gemeinsamer Verhandlungen, sondern auch in Konzepten zur Koordination von Gefängnis- und Gemeinwesenarbeit.

In allen diesen Kooperationen kommt es drauf an, dass lebensweltorientierte Soziale Arbeit ihren eigenen Ansatz, am Alltag der Adressaten anzusetzen und deren Probleme kompetent zu bearbeiten, selbstbewusst einbringt und dass sie sich gegen die Zumutung wehrt, nur Zuarbeit zu leisten (Natürlich, so heißt es immer wieder, brauche es die Alltagsgeschäfte, aber das Eigentliche leisteten die jeweils zuständigen Professionen.) Soziale Arbeit muss um des Anspruchs der Adressaten auf Entfaltungsmöglichkeiten und entsprechende Bearbeitung ihrer Alltagsprobleme auf der Verhandlung zwischen gleichberechtigten Positionen bestehen.

Professionelles Handeln

Soziale Arbeit ist in weiten Bereichen Kommunikation zwischen Sozialarbeitern und Adressaten. Das Handlungsprofil der Sozialarbeiter ist in spezifischer Weise bestimmt.

Zum Handlungsprofil der Professionellen

Zunächst ist es wichtig darauf zu insistieren, dass Sozialarbeiter wie die Adressaten in ihrem Alltag agieren. Die in der Gemeinsamkeit der Alltäglichkeit angelegten Möglichkeiten eines elementaren Verstehens sind die Basis produktiver Kommunikation zwischen Sozialarbeitern und Adressaten, die aber durch Wissenschaft und Erfahrung gestützt und reflektiert werden muss. Die fachlichen Voraussetzungen des professionellen Handelns können näher bestimmt werden durch die Begriffe Liebe, Vertrauen, Neugier und Zumutung. – Liebe meint die unbedingte Anerkennung des Menschen in seinem Selbstverständnis und Eigensinn, so wie er ist. – Vertrauen steht für die unbeirrbare Erwartung, dass Veränderungen und Verbesserungen möglich sind, dass, in der traditionellen Sprache der Pädagogik geredet, Menschen bildsam sind und nicht als hoffnungslos oder verloren verstanden werden dürfen. – Neugier bedeutet die Aufmerksamkeit für die Interessen und Eigensinnigkeiten der Adressatinnen, also dafür, wie Menschen sich aus ihren eigenen Möglichkeiten und ihrer Zielstrebigkeit oft auch gegen die Erwartungen der Professionellen entwickeln können. – Zumutung schließlich thematisiert die in aller gemeinsamen Arbeit gegebene Repräsentation des Ziels eines gelingenderen Lebens, wie es als konkrete Utopie von Gerechtigkeit und Solidarität im Horizont von Menschenrechten gefasst ist.

Dass professionelles Handeln in den Aufgaben der Zumutung anspruchsvoll ist, ist evident. Hier lastet auch die Geschichte der Sozialen Arbeit schwer auf der Gegenwart, zumal die alten autoritären Muster unter vielfältigen Vorwänden immer wieder reaktiviert werden. Vor allem aber legt die für unsere Zeit so charakteristische Offenheit in der normativen Orientierung Zurückhaltung nahe, man begnügt sich nicht selten mit professioneller Distanz. Aber dadurch ist die der Sozialen Arbeit aufgegebene Verantwortung für die Zumutung des Gelingenderen nicht aufgehoben. Und sie ist noch einmal prekär darin, dass Sozialarbeiter sich in ihrem Handeln immer gebunden wissen an die lebensweltlichen Verhältnisse der Adressaten. Manche brauchen auch vor allem Unterstützung darin, dass sie ihre Verhältnisse der Abhängigkeit, der Krankheit, des Alters, der Trauer und des nahenden Tods aushalten.

Sozialpädagogisches Handeln kann seine Ziele nur realisieren im Wissen darum, dass es als unterstützendes und helfendes Handeln riskant ist. Wenn Professionelle mit ihrer Expertise etwas bieten, was andere brauchen, agieren sie strukturell asymmetrisch. Sie wollen helfen, sie dringen – pointiert geredet – in die Alltagswelt der Adressaten ein. Dass diese dagegen auch Widerstand leisten, dass sie misstrauisch und ängstlich sind, dass sie erproben, ob das, was die Sozialarbeiter ihnen bieten, auch wirklich hilfreich ist, ist zunächst selbstverständlich. Sie haben oft ja Geschichten der Enttäuschung, Abwehr und Resignation hinter sich, auch im Umgang mit Sozialer Arbeit.

Die Professionellen haben Macht, die schon darin angelegt ist, dass sie über Entscheidungsbefugnisse verfügen, mit denen sie die Adressaten in die Muster und Möglichkeiten der Sozialen Arbeit einpassen können. Man sieht, pointiert formuliert, den Menschen in den vorgegebenen Mustern der fachlichen Möglichkeiten, man sieht den „sozialpädagogischen Fall“. Und: Macht bietet immer auch Gelegenheit zur direkten Gewalt und, wie es neuerdings so schrecklich deutlich wird, zur sexualisierten Gewalt.

Darüber hinaus agieren Sozialarbeiter in den Strukturen ihrer Alltäglichkeit, agieren in Routinen, die immer einengen können, in Pragmatismen, um überhaupt zu überleben. Das ist besonders prekär in den heute oft so schlecht ausgestatteten und überlasteten Situationen. Vor allem aber sind sie in den Arbeitsbeziehungen bestimmt durch ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Erfahrungen, die sie blind machen können für das Anderssein der Adressaten. Soziale Arbeit, in diesen Spannungen praktiziert, ist auf kritische Reflexion und Selbstreflexion angewiesen, diese muss auch in kollegialer Beratung, Unterstützung und Kritik institutionalisiert sein.

Das konkrete Handeln der Professionellen muss sich einerseits am notwendigen gesicherten und sichernden professionellen Wissen und Können orientieren, andererseits braucht es sensible Achtsamkeit für die spezifischen Konstellationen im jeweils konkreten Fall und deren Potentiale. Diese anspruchsvolle Balance wird als Strukturierte Offenheit bezeichnet.

Lebensweltorientierte Soziale Arbeit realisiert sich in Kasuistik. Kasuistik wird dabei im weiten Sinne verstanden, also als Darstellung und Rekonstruktion der Geschichte eines Einzelnen, einer Gruppe oder einer sozialpädagogischen Institution, eines Stadtteils oder einer zivilgesellschaftlichen Initiative. In der Kasuistik geht es darum, Entwicklungen und Strukturen zu rekonstruieren und dabei der Besonderheit der individuellen Gegebenheiten gerecht zu werden, aber auch den so schwer zu fassenden Fügungen des Zufalls.

Institutionen und Organisationsmuster der lebensweltorientierten Soziale Arbeit

Lebensweltorientierte Soziale Arbeit agiert in den Struktur- und Handlungsmaximen und in der professionellen Kommunikation immer in Institutionen und in deren spezifischen organisationsbedingten Handlungs- und Definitionsmustern[30]. Die Macht der Selbstreferenzialität der organisationalen Problemdefinitionen und Arbeitsvollzüge muss aufgefangen werden in einem lebensweltlichen Verständnis der Aufgaben, es braucht die Entwicklung einer Organisationskultur, in der Organisationen als je eigene Lebenswelt verstanden werden, die in ihren Definitionen der Adressaten und ihrer Organisationsstruktur lebensweltlich bestimmt ist und in der z.B. Alltagsnähe und Partizipation in Bezug auf ihre Mitarbeitenden realisiert wird. Dieser Anspruch wird in unserer Gegenwart herausgefordert durch die zunehmend wachsende Macht von Regelungen und Bestimmungen und das um sich greifende Versicherungsdenken. Es stellt sich zunehmend die Frage, ob auch in Organisationen die Alltagsmuster der Pragmatik und der damit einhergehenden Anstrengung um Anerkennung für das je eigene Handeln in neuer Weise zur Geltung gebracht werden können und müssen. Schließlich: Organisationelles Handeln sieht sich durch die Möglichkeiten der digitalen Gestaltungen herausgefordert, dabei gilt es, die Chancen zu Transparenz, Effektivitätssicherung und Arbeitserleichterung zu nutzen, ohne den Suggestionen einer vereinfachenden, nur sparenden und nur durch die Struktur der Algorithmen bestimmten Wirklichkeitssicht zu verfallen. Lebensweltorientierung insistiert auf dem unaufhebbar kommunikativen Charakter als Kern ihrer Aufgaben.

Lebensweltorientierte Soziale Arbeit als kritische Soziale Arbeit

Lebensweltorientierte Soziale Arbeit kann nur als kritische Soziale Arbeit realisiert werden. Kritik bestimmt als durchgehendes Prinzip ihre unterschiedlichen Bereiche und Aufgaben. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist kritisch in Bezug auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse im Postulat von Gerechtigkeit, Solidarität und Selbstbestimmung, sie ist ebenso kritisch in Bezug auf die Gegebenheit des Alltags zwischen Alltäglichkeit und Alltagswelten und deren Spannungen zu den Lebenslagen. Lebensweltorientierte Soziale Arbeit ist kritisch in den Ambivalenzen des Alltags zwischen dem Gegebenen und dem Möglichen. Sie ist aber ebenso kritisch in Bezug auf die Ambivalenzen ihrer eigenen Arbeit, die Spannungen also zwischen dem Alltag der Adressaten und den professionellen Zugängen und die Spannungen in ihrem professionellen und institutionellen Programmen und Handeln. Solche Kritik, die Wachheit für die je gegebenen Widersprüche und der Willen, in den Konflikten zu agieren, ist immer bezogen auf die Arbeit am Gelingenderen, also die Arbeit im Horizont der konkreten Utopie im Anspruch an Solidarität und Selbstbestimmtheit. Solche Kritik, die sich in den vielfältigen Dimensionen der Arbeit konkretisiert, kann im Konzept von Rahel Jaeggi[31] gedacht werden: Es geht um Kritik nicht nur innerhalb der Verhältnisse oder um Kritik von außen, sondern um interne Innovation, es geht um Kritik, die im breiten Feld der unterschiedlichen Aspekte in ihren Widersprüchen zu neuen Handlungsoptionen engagiert ist. Dieser allgemeine Wille zum Gelingenderen hat in der Sozialen Arbeit, wie in der Pädagogik überhaupt, seine besondere Pointe darin, dass die Zumutung für die Adressaten, sich auf die Arbeit am Gelingenderen einzulassen, nur möglich ist, wenn die Professionellen ihrerseits am Gelingenderen orientiert sind, also in aller Kritik auf dem Willen zu einem weiterführenden Handeln insistieren.

Kritik am Konzept

Das Konzept der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit und darin vor allem der Bezug auf den Alltag und die Verbindung von Alltag und Sozialer Arbeit in den Gegebenheiten unseres Sozialstaats ist immer wieder Gegenstand sehr grundsätzlicher Kritik (z.B. Prange[32], Fatke[33], Staub-Bernasconi[34]),vor allem aber vielfältiger kritischer Rückfragen und Weiterungen geworden (z.B. Kraus[35], Böhnisch[36]). Es fehle eine grundlegend pädagogische Orientierung, der Bezug auf den Alltag sei unfähig, spezifisch professionelle Aufgaben zu fundieren; die grundlegenden Begriffe seien nicht genügend bestimmt; der Überhang an konzeptionellen Überlegungen ergebe keine hinreichenden Impulse für empirische Forschung. Außerdem verhindere die Konzentration auf Alltagsprobleme kritische gesellschaftliche Fragen; diese werden angesichts der Aufgaben und Organisationen der Praxis vernachlässigt, ja weggedrängt, das Konzept sehe nicht auf die eigensinnige Erfahrung der Adressaten und beschränke sich auf die Probleme des professionellen Arbeitens. Diese Kritik hat durch die Jahrzehnte seit seiner Entstehung hindurch zur Differenzierung und Konkretisierung des Konzepts beigetragen. Kritische Fragen an das Konzept sind aber dadurch sicher nicht erledigt.

Literatur

  • Thiersch, Hans: Soziale Arbeit und Lebensweltorientierung. Gesammelte Aufsätze. Band 1: Konzepte und Kontexte; Band 2: Handlungskompetenz und Arbeitsfelder. Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2015, ISBN 978-3-7799-3263-5 und ISBN 978-3-7799-3325-0.
  • Thiersch, Hans: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit – revisited. Weinheim/Basel, Beltz Juventa 2020, ISBN 978-3-7799-6310-3.
  • Grunwald, Klaus/ Thiersch, Hans (Hrsg.): Praxishandbuch Lebensweltorientierte Soziale Arbeit: Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern. 3., völlig neu bearbeitete Auflage, Weinheim/Basel, Juventa 2016, ISBN 978-3-7799-2183-7.
  • Grunwald, Klaus u.a. (Hrsg.): „Hans Thierschs Alltags- und Lebensweltorientierung – eine kritische Würdigung anlässlich seines 80. Geburtstages“. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 13 Jg., Heft 2/2015, ISSN 1610-2339.
  • Grunwald, Klaus u.a. (Hrsg.): Alltag, Nicht-Alltägliches und die Lebenswelt (Festschrift zum 60. Geburtstag). Weinheim/München, Juventa 1996, ISBN 978-3-779910374.
  • Füssenhäuser, Cornelia: Werkgeschichte(n) der Sozialpädagogik: "Hans Thiersch". Baltmannsweiler, Klinkhardt 2005, S.135 – 228, ISBN 978-3896769794.
  • Niemeyer, Christian: Klassiker der Sozialpädagogik. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, 3. Aufl., 2010, S. 252-286, ISBN 978-3-7799-0358-1.

Einzelnachweise

  1. Woog, Astrid: Soziale Arbeit in Familien: theoretische und empirische Ansätze zur Entwicklung einer pädagogischen Handlungslehre (= Edition Soziale Arbeit). 4. Auflage. Juventa-Verl, Weinheim München 2010, ISBN 978-3-7799-1208-8.
  2. Bollig, Christiane: Praxishandbuch Mobile Jugendarbeit. Frank & Timme, Berlin 2020, ISBN 978-3-7329-0608-6.
  3. Hans Thiersch, seit 1970 Professor für Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik an der Universität Tübingen, s. https://www.hans-thiersch.de.
  4. Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften. Band 4. B. G. Teubner Verlagsgesellschaft/Vandenhoek & Ruprecht, Stuttgart und Göttingen 1974.
  5. Nohl, Herman: Pädagogik aus dreißig Jahren. Schulte-Bulmke, Frankfurt am Main 1949.
  6. Klaus Mollenhauer: Erziehung und Emanzipation. 7. Auflage. Juventa-Verl, München 1977, ISBN 978-3-7799-0062-7.
  7. Husserl, Edmund: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie. In: Husserliana 6. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie . 2. Auflage. Martinus Nijhoff, Den Haag 1962, S. 314–348.
  8. Schütz, Alfred: Gesammelte Aufsätze, 3 Bde. Nijhoff, Den Haag 1971.
  9. Berger, Peter L., Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Fischer, Frankfurt am Main 1969.
  10. Pierre Bourdieu et al.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. In: Édition discours. Band 9. UVK, Universitäts-Verlag Konstanz,, Konstanz 1997, ISBN 3-87940-568-9.
  11. Kosík, Karel: Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik der Menschen und der Welt. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967.
  12. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bände. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, ISBN 978-3-518-28775-0.
  13. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, ISBN 978-3-518-11365-3.
  14. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2019, ISBN 978-3-518-58742-3.
  15. Johann Heinrich Pestalozzi: Gesammelte Werke. Hrsg.: Emilie Bosshard u.a. Band VII und VIII. Rascher, Zürich 1954.
  16. Siegfried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967.
  17. Janusz Korczak: Wie man ein Kind lieben soll. Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 1967.
  18. Herman Nohl: Pädagogik aus dreißig Jahren. Schulte-Bulmke, Frankfurt am Main 1949.
  19. Eduard Heimann: Soziale Theorie des Kapitalismus. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, ISBN 978-3-518-11052-2.
  20. Klaus Dörner, Ursula Plog: Irren ist menschlich. Psychiatrie-Verlag, Wunsdorf 1978, ISBN 3-88414-001-9.
  21. Heinrich Keupp, Dodo Rerrich: Psychosoziale Praxis. Gemeindepsychologische Perspektiven. Urban und Schwarzenberg, München/Wien 1982, ISBN 3-541-10321-3.
  22. 13. Jugendbericht. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2009, abgerufen am 20. Oktober 2023.
  23. Maria Bitzan: Das Soziale von den Lebenswelten her denken. In: Roland Anhorn u.a. (Hrsg.): Politik der Verhältnisse – Politik des Verhaltens. Springer VS, Wiesbaden 2019, ISBN 978-3-658-17953-3, S. 51–69.
  24. Margit Brückner, Hans Thiersch: Care und Lebensweltorientierung. In: Werner Thole u.a. (Hrsg.): Soziale Arbeit im öffentlichen Raum. VS Verlag, Wiesbaden 2005, ISBN 978-3-322-89006-1, S. 137 – 150.
  25. Björn Kraus: Lebenswelt und Lebensweltorientierung – eine begriffliche Revision als Angebot an eine systemisch-konstruktivistische Sozialarbeitswissenschaft. In: Kontext. Zeitschrift für Systemische Therapie und Familientherapie. Nr. 37/02. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, S. 116–129.
  26. Karel Kosík: Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik der Menschen und der Welt. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967.
  27. Lothar Böhnisch: Milieu und Milieubildung. Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2023, ISBN 978-3-7799-7558-8.
  28. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2019, ISBN 978-3-518-58742-3.
  29. 8. Jugendbericht. Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, 1990, abgerufen am 20. Oktober 2023.
  30. Klaus Grunwald: Organisation und Organisationsgestaltung. In: Margret Dörr u.a. (Hrsg.): Biografie und Lebenswelt. Perspektiven einer Kritischen Sozialen Arbeit. Springer VS, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-658-03834-2, S. 53 – 68.
  31. Rahel Jaeggi, Tilo Wesche: Was ist Kritik? Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-518-29485-7.
  32. Klaus Prange: „Alltag“ und „Lebenswelt“ im pädagogischen Diskurs: zur aporetischen Struktur der lebensweltorientierten Pädagogik. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik. Nr. 3, 2003, S. 296–314.
  33. Reinhard Fatke: Der Heros makelloser Menschenliebe und der schmuddelige Alltag. In: Neue Pestalozzi Blätter. Band 6, Nr. 1, 2000, S. 9–16.
  34. Silvia Staub-Bernasconi: Kritische Soziale Arbeit - ohne auf eine Politisierungsphase Sozialer Arbeit warten zu müssen. In: Wolfram Stender u.a. (Hrsg.): Soziale Arbeit als kritische Sozialwissenschaft. Blumhardt, Hannover 2013, ISBN 978-3-932011-87-0, S. 37–80.
  35. Björn Kraus: Lebenswelt und Lebensweltorientierung. Eine begriffliche Revision als Angebot an eine systemisch-konstruktivistische Sozialarbeitswissenschaft. In: Kontext (Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie). Band 37, Nr. 2, 2006, S. 116–129.
  36. Lothar Böhnisch: Milieu und Milieubildung. Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2023, ISBN 978-3-7799-7558-8.