Der Schneider von Ulm (Gedicht)

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Die Ballade Der Schneider von Ulm ist ein Gedicht des deutschen Dramatikers und Lyrikers Bertolt Brecht. Das 1934 im Exil entstandene Gedicht wurde 1937 in dem Gedichtband Svendborger Gedichte veröffentlicht. Als Ulm 1592 nahm der Dichter es 1949 in seinen Kalendergeschichten auf. Brecht datiert das historisch verbürgte Ereignis um den missglückten Flugversuch des Schneidermeisters Albrecht Ludwig Berblinger auf das Jahr 1592 und weist dem sprichwörtlichen Schneider von Ulm als Antagonisten einen namentlich nichtgenannten Bischof zu. Im Gedicht endet der Flug vom Münster tödlich. Das Werk zählt zur Exil-Literatur.

Hintergrund

1811 misslang der Flug des Schneidermeisters Albrecht Ludwig Berblinger mit selbstgebauten Schwingen von einem Gerüst aus das gegenüberliegende Donauufer zu erreichen. Ursprünglich wollte er vom Münster der Stadt starten. Der Flugpionier stürzte ins Wasser und wurde fortan als Hochstapler sozial geächtet.

Form

Das Gedicht besteht aus zwei Strophen mit je elf Versen. Nach Jan Knopf orientiere sich die Form des Gedichts an das Kinderlied.[1] Der Text ist rhythmisch gegliedert, auf ein durchlaufendes Metrum wie den Gebrauch des Endreims wird weitgehend verzichtet. Ausnahme sind in den Versen drei und sechs (mach-Dach) wie vier und fünf (Dingen-Schwingen) oder 14 und 17 (Hatz-Kirchenplatz) sowie 15 und 16 (zerspellet-zerschellet) zu finden. Auffällig ist der dialektische Aufbau des Gedichts, so wird in der ersten Strophe das kühne Streben des Schneiders und sein Aufstieg der Ablehnung des Bischofs gegenübergestellt, während in der zweiten der Zeugenbericht vom tödlichen Ausgang des Experiments mit der scheinbar bestätigten Ablehnung konfrontiert wird. Die apodiktische Aussage des Bischofs von der Unmöglichkeit des Fliegens seitens der Menschen schließt die beiden Strophen zwar ab, wodurch die Haltung des Geistlichen durch das Mittel der Wiederholung bekräftigt wird, sich aber hierdurch als größerer Irrtum offenbart, da er durch die erfolgreiche Geschichte der Luftfahrt letztlich widerlegt wurde.

Datierung

Klaus-Detlef Müller sieht die Datierung des Ereignisses in der Frühen Neuzeit im zyklischen Aufbau des Werks begründet, denn vor dem Gedicht steht die Erzählung über den Naturwissenschaftler Francis Bacon (Das Experiment), danach jene über Giordano Bruno (Der Mantel des Ketzers).[2] Jan Knopf wendet ein, dass der Untertitel Ulm 1592 bereits 1934 vorhanden war, als das Gedicht in noch keinem Zusammenhang zum Geschichtenband stand.[3] Nach Gerhard Rademacher habe Brecht das Gedicht mit „gesellschafskritischer Absicht in das Jahr 1592, in die Zeit Galileis zurückdatiert“[4]

Interpretation

Laut Peter J. Brenner vertrete Brecht in dem Lied, dass „der historische Fortschritt dem Augenschein zum Trotz weitergehen“ werde.[5]

Literatur

Textausgaben

  • Bertolt Brecht: Der Schneider von Ulm. In: Svendborger Gedichte. Malik, London 1939.
  • Bertolt Brecht: Der Schneider von Ulm. In: Svendborger Gedichte. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979.
  • Bertolt Brecht: Der Schneider von Ulm. In: Gedichte in einem Band. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, ISBN 3-518-02269-5, S. 645.
  • Bertolt Brecht: Ulm 1592. In: Kalendergeschichten. Gebrüder Weiß, Berlin 1949.

Sekundärliteratur

  • Kurt Bräutigam: Moderne deutsche Balladen ("Erzählgedichte"). Versuche zu ihrer Deutung. Moritz Diesterweg Verlag, Frankfurt am Main 1968.
  • Günter Dietz: Bertolt Brechts dialektische Lyrik (Fragen eines lesenden Arbeiters, Der Schneider von Ulm, 1940 VI). In: Der Deutschunterricht 18, 1966, Heft 2, S. 66–77.
  • Gerhard Koch: Der Schneider von Ulm – Bertolt Brechts Bearbeitung eines Sujets aus der Geschichte der Aviatik. In: German Studies in India 5, 1981, S. 195–206.
  • Edgar Neis: Wir interpretieren Balladen. Materialien zum Verständnis klassischer und moderner Balladen. Bange, Hollfeld 1968, S. 120.
  • Winfried Woesler: Brechts Kinderlied Der Schneider von Ulm (Ulm 1592). In: Euphorion 85, 1991, S. 182–191.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Jan Knopf: Brecht-Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften. Eine Ästhetik der Widersprüche, Metzler, Stuttgart 1986, S. 3.
  2. Vgl. Klaus-Detlef Müller: Brecht-Kommentar zur erzählenden Prosa. Winkler, München 1980‚ ISBN 3-538-07029-6, S. 311.
  3. Vgl. Jan Knopf: Brecht Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften. Metzler, Stuttgart 1986, S. 300
  4. Gerhard Rademacher: Technik und industrielle Arbeitswelt in der deutschen Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Europäische Hochschulschriften Bd. 124. Lang, Bern/Frankfurt am Main 1976, ISBN 978-3-261-01629-4, S. 64.
  5. Peter J. Brenner: Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom Ackermann zu Günter Grass. Gruyter, Berlin 2011, ISBN 978-3-484-10897-4, S. 275.