Kommunikativer Konstruktivismus

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Der kommunikative Konstruktivismus ist ein Ansatz in der soziologischen und kommunikations- bzw. medienwissenschaftlichen Forschung (Keller & Knoblauch & Reichertz 2012).[1] Er versteht sich als eine Weiterführung des Sozialkonstruktivismus (Berger & Luckmann 1969). Betont letzterer jedoch vor allem die Bedeutung des Wissens beim gesellschaftlichen Aufbau einer Wirklichkeit, verschiebt der kommunikative Konstruktivismus den Akzent auf die Bedeutung der Kommunikation bei dem Aufbau der Wirklichkeit (Knoblauch 1995, Knoblauch 2013).

Nähere Bestimmung

Kommunikation wird im kommunikativen Konstruktivismus nicht allein als das Mittel verstanden, mit dem sich Menschen absichtsvoll Botschaften zukommen lassen und versuchen, andere zu steuern. Kommunikation ist eine menschliche Praxis (Couldry 2012), mit der zugleich Identität, Beziehung, Gesellschaft und Wirklichkeit hergestellt werden (Reichertz 2010). Kommunikation dient in diesem Verständnis also nicht einfach der Übermittlung (von Informationen), sondern der Vermittlung (sozialer Identität und sozialer Ordnung). Ausgehend von einem solchen handlungs- bzw. praxistheoretischen Kommunikationsbegriff rückt der kommunikative Konstruktivismus den Umstand in den Fokus, dass heutige Prozesse der Kommunikation in erheblichen Teilen medienvermittelt geschehen. Dies betrifft die personale Kommunikation zwischen Menschen (“wechselseitige Medienkommunikation”) ebenso wie die Kommunikation mit produzierten Medieninhalten (“produzierte Medienkommunikation”) und die Kommunikation in virtualisierten Umgebungen (“virtualisierte Medienkommunikation”) (Hepp 2013: 57-62). In diesem Sinne ist die heutige kommunikative Konstruktion sozialer Wirklichkeit in erheblichen Teilen eine mediatisierte Konstruktion.

Ziele

Zum einen geht es dem kommunikativen Konstruktivismus darum, die kommunikativen Prozesse (als direkte oder medial gestützte Kommunikation) der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit zu erfassen und wissenschaftlich zu beschreiben – auch weil diese in der aktuellen Welt vielfältiger und bedeutsamer geworden sind. Zum anderen geht es dem kommunikativen Konstruktivismus um die Weiterentwicklung und Modifikation der sozialkonstruktivistischen Theorie. Eine solche Weiterentwicklung will der gewachsenen Bedeutung von kommunikativem Handeln, von Diskursen und von kommunikativer Praxis Rechnung tragen. Hierbei geht es darum, die verschiedenen gesellschaftlichen Kontexte, in denen die kommunikative Konstruktion erfolgt, sowohl in die theoretischen Grundlegungen wie in die empirischen Analysen mit aufzunehmen (Keller 2005).

Geschichte

Der kommunikative Konstruktivismus lässt sich bis zu den Anfängen der phänomenologischen Sozialforschung rückverfolgen. [2] Beispielsweise diskutierte bereits Alfred Schütz in seiner Publikation zum “Sinnhaften Aufbau der sozialem Welt” (1974 [1932]) die Rolle von Kommunikation für die Sozialbeziehungen in der sozialen Welt (S. 252-261). Dabei thematisierte er bereits den Stellenwert nicht nur des Briefs, sondern auch des damals erst im Entstehen begriffenen Mediums Telefon für die “Mittelbarkeit” von Sozialbeziehungen. Auch in der späteren Veröffentlichung von Peter L. Berger und Thomas Luckmann zur “Sozialen Konstruktion vom Wirklichkeit” (1969) hat Kommunikation einen großen Stellenwert. So wird Sprache von den beiden Autoren als herausgehobene “Objektivation” des Sozialen begriffen (S. 72-76). Oder sie beschreiben das Alltagsleben als “Rattern einer Konversationsmaschine” (S. 163), die das “notwendigste Vehikel der Wirklichkeitserhaltung” ist. Mit Sprache als zentraler Instanz der Herstellung des Sozialen setzte sich Thomas Luckmann auch in späteren Publikationen auseinander. Ü.a. stimuliert durch konversationsanalytische Forschungen (Knoblauch 1995) entwickelte er eine kommunikationstheoretische Zugangsweise, die über eine reine Sprachsoziologie hinausgeht und die er später selbst im Begriff der kommunikativen Konstruktion reflektiert (Luckmann 2006). Die vielschichtige Rolle von Medien für die Prozesse der kommunikativen Konstruktion waren dabei aber ebenso wenig Gegenstand wie die Analyse komplexer diskursiver Muster. In dieser Entwicklung ist der kommunikative Konstruktivismus vom “radikalen Konstruktivismus” in der Kommunikations- und Medienwissenschaft abzugrenzen (u.a. S. J. Schmidt 1994). Gemeinsam teilen sie eine konstruktivistische Grundannahme, d.h. ein Verständnis, dass menschliche Wirklichkeit nicht gegeben ist, sondern in einem Prozess des (kommunikativen) Handelns bzw. der (kommunikativen) Praxis “hergestellt” wird. Der Hauptunterschied besteht darin, dass der “radikale Konstruktivismus” ausgehend von der Annahme argumentiert, der Mensch sei ein kognitiv (also in seiner Wahrnehmung) geschlossenes System. Entsprechend hat man es mit je subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen zu tun, die allerdings zur weiteren (sozialen) Umwelt viabel (“passend”) sind und entsprechend ein soziales Handeln ermöglichen. Im Zentrum des kommunikativen Konstruktivismus steht hingegen die Herstellung sozialer Wirklichkeit, was als ein subjektiver wie auch intersubjektiver Prozess begriffen wird.

Aktuelle Entwicklungen

Der kommunikative Konstruktivismus wird zurzeit vor allem in der wissenssoziologischen Theoriediskussion (z.B. Herbrik 2011, siehe auch die Sammelbände Keller/Knoblauch/Reichertz 2012 und Christmann 2013) und in der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Forschung zu Medienwandel bzw. Mediatisierung aufgegriffen und weitergeführt (Krotz/Hepp 2012, Hepp 2013: VIIIff). Die Wissenssoziologie bemüht sich hierbei insbesondere um die Weiterentwicklung des Sozialkonstruktivismus durch den kommunikativen Konstruktivismus. In der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Diskussion geht es vor allem um die Frage, wie sich Prozesse der kommunikativen Konstruktion ändern, wenn diese medienvermittelt erfolgt. Für ein solches Unterfangen steht u.a. die Forschung zu den sich mit dem Medienwandel verändernden “kommunikativen Figurationen” (Hepp/Hasebrink 2014) heutiger Gesellschaften und Kulturen.

Literatur

  • Peter L. Berger, Thomas Luckmann (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Fischer, Frankfurt am Main.
  • Christmann, Gabriela B. (Hrsg.) (2013): Zur Kommunikativen Konstruktion von Räumen: Theoretische Konzepte und empirische Analysen. VS-Verlag, Wiesbaden.
  • Couldry, Nick (2012): Media, society, world: Social theory and digital media practice. Cambridge, Oxford: Polity Press.
  • Couldry, Nick; Hepp, Andreas (2013): Conceptualising mediatization: Contexts, traditions, arguments. In: Communication Theory, 23(3), S. 191-202.
  • Hepp, Andreas (2013): Medienkultur. Die Kultur mediatisierter Welten. Wiesbaden: VS.
  • Hepp, Andreas/Hasebrink, Uwe (2014): Kommunikative Figurationen – ein Ansatz zur Analyse der Transformation mediatisierter Gesellschaften und Kulturen. In: Jackob, Nikolaus/Quiring, Oliver/Stark, Birgit (Hrsg.): Von der Gutenberg-Galaxis zur Google-Galaxis. Alte und neue Grenzvermessungen nach 50 Jahren DGPuK. Konstanz: UVK, S. 343-360.
  • Hepp, Andreas/Krotz, Friedrich (2012): Mediatisierte Welten. Forschungsfelder und Beschreibungsansätze – Zur Einleitung. In: Krotz, Friedrich/Hepp, Andreas (Hrsg.): Mediatisierte Welten. Forschungsfelder und Beschreibungsansätze. Wiesbaden: VS, S. 7-23.
  • Herbrik, Regine (2011): Die kommunikative Konstruktion imaginärer Welten. Wiesbaden. VS Verlag.
  • Keller, Reiner (2005): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Wiesbaden: VS Verlag.
  • Keller, Reiner (2007): Diskursforschung. Wiesbaden: VS Verlag.
  • Keller, Reiner & Hubert Knoblauch & Jo Reichertz (Hrsg.) (2012). Kommunikativer Konstruktivismus. Wiesbaden. Springer.
  • Knoblauch, Hubert (1995): Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. Berlin: de Gruyter.
  • Knoblauch, Hubert (2005): Wissenssoziologie. Konstanz: UVK.
  • Knoblauch, Hubert (2013): Communicative constructivism and mediatization. in: Communication Theory, 23(3) S. 297-315.
  • Knoblauch, Hubert/Schnettler, Bernt (2004): Vom sinnhaften Aufbau zur kommunikativen Konstruktion. In: Gabriel, Michael (Hrsg.): Paradigmen der akteurszentrierten Soziologie. Wiesbaden: VS Verlag, S. 121-138.
  • Krotz, Friedrich/Hepp, Andreas (Hrsg.) (2012): Mediatisierte Welten. Forschungsfelder und Beschreibungsansätze. Wiesbaden: VS Verlag.
  • Luckmann, Thomas (2002): Wissen und Gesellschaft. Konstanz: UVK.
  • Luckmann, Thomas (2006): Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit. In: Tänzler, D.; Knoblauch, Hubert; Soeffner, Hans Georg (Hrsg.): Neue Perspektiven der Wissenssoziologie. Konstanz: UVK, S. 15-26.
  • Reichertz, Jo (2007). Die Macht der Worte und der Medien. Wiesbaden: VS Verlag.
  • Reichertz, Jo (2010). Kommunikationsmacht. Was ist Kommunikation und was vermag sie? Und weshalb vermag sie das? Wiesbaden: VS Verlag.
  • Schmidt, Siegfried J. (1994): Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Schnettler, Bernt (2006):Thomas Luckmann. Konstanz UVK.
  • Schütz, Alfred (1974): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie [orig. 1932]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Weblinks

http://soziologie.de/blog/?p=2941

http://www.springer.com/new+&+forthcoming+titles+(default)/book/978-3-531-19796-8

Einzelnachweise

  1. Eine frühere Verwendung des Begriffs findet sich bei: Markus Costazza: Die Abkehr vom Wahrheitsparadigma in der Wissenschaftsphilosophie, in: Roland Fischer. Markus Costazza, Ada Pellert (Hrsg.): Argumentation und Entscheidung : zur Idee und Organisation von Wissenschaft, Profil, Wien 1993, S. 193-242; zudem bei Luckmann, Thomas (2002): Wissen und Gesellschaft. Konstanz: UVK, S. 207ff.
  2. Zur Tradition und Geschichte des kommunikativen Konstruktivismus siehe auch http://soziologie.de/blog/?p=2941 und auch Schnettler 2006